Die Welt - 07.03.2020

(Ben Green) #1

E


s gibt in Norwegen über
20.000 Kilometer markier-
te Wanderwege. Sie sind im
Großen und Ganzen mit auf
Stein gemalten roten Ts
markiert. Siehst du ein ro-
tes T, befindest du dich auf
einem Wanderweg, und da du bist sicher.
Dies hast du in dir, wenn du in Norwegen
aufwächst, unweigerlich. Es ist nicht sicher,
dass du lesen und schreiben lernst, aber das
mit den roten Ts, das kriegst du mit.
Jotunheimen. Das 3500 Quadratkilometer
große Gebirgsmassiv, dem der Dichter
Aasmund Olavsson Vinje den Namen gab.
Der Wohnort der Riesen! Hier liegen die
höchsten Berge Nordeuropas. Hier liegt der
älteste markierte Wanderpfad Norwegens.
Hier liegt die Landschaft, die erwachsene
Männer dazu bringt, sich klein zu fühlen.
Und hier, ganz in der Nähe, liegt der
Besseggen, Ziel einer der populärsten Berg-
wanderungen Norwegens. 60.000 Wanderer
zieht er jedes Jahr an. Dies ist die Wan-
derung, die erfahrene Bergwanderer die Au-
gen verdrehen und von Gänsemarsch reden
lässt. Die Tour, die auf verschiedenen
Internetseiten über die norwegische Berg-
welt als ein Muss für jeden Norweger be-
zeichnet wird. Der Weg, den alle gegangen
sind. Hier liegt er. Der Grat, der mich bekeh-
ren soll. Der Grat, der Henrik Ibsen zum Ritt
auf dem Bock in „Peer Gynt“ inspiriert
haben soll. Hier liegt er, mächtig und
ausladend.
Auf jeden Fall behaupten sie, dass er dort
liegt. Und wir müssen uns wohl auf sie ver-
lassen. Denn es ist unmöglich, in dem dich-
ten Nebel irgendetwas zu sehen. Es regnet
übrigens auch, falls du dich das gefragt
haben solltest.
Wir fragen , ob es unangenehm war, bei
Regen und Nebel zu laufen. Nicht im Ge-
ringsten. Das passt zu allem anderen, was

wir gehört haben. Alle, die du auf ihre
Besseggen-Tour ansprichst, erzählen dir, dass
der Grat auf Bildern zwar manchmal schmal
und nicht ganz geheuer aussieht, aber eigent-
lich kein Problem darstellt, man schafft ihn lo-
cker vom Hocker, Platz wie sonst was, über-
haupt nicht riskant. Ja sicher, alle haben Ge-
schichten von Leuten gehört, die da oben aus-
geflippt sind und mit dem Hubschrauber ge-
rettet werden mussten, aber das sind im Gro-
ßen und Ganzen ausländische Wirrköpfe in
Converse Chucks. Im Prinzip ist es easy peasy.
Leute gehen mit Kindern über den Besseggen.
Andere nehmen den Hund mit. Es sind schon
Hundertjährige da gewesen, und Leute an
Krücken. Manche joggen darüber. Ich glaube
sogar, gehört zu haben, jemand hätte die Tour
im Rollstuhl gemacht, aber vielleicht bilde ich
mir das auch nur ein.
Hiernach beschließen wir endgültig, mor-
gen über den Besseggen zu gehen. Dem Gipfel
entgegen.
Die Aussage, der Besseggen sei nicht beson-
ders steil, ist schlicht eine Lüge. Da könnte
man genauso gut sagen, ein Kreis sei nicht be-
sonders rund.
Unsere Etappe: Gjendesheim–Memuru-
bu–Gjendesheim, über den Besseggen. Veran-
schlagte Zeit: Hier divergieren die Quellen.
Auf http://www.ut.no sagt jemand acht Stunden, ein
anderer sieben, ein dritter sechs bis acht. Im
„Großen norwegischen Lexikon“ steht sieben.
Auf besseggen.net heißt es sechs bis acht. Eine
urige Gang Arbeiter von einer Ölplattform,
die wir gestern trafen, sagt sieben, aber sie
hatten Bier, Schnaps und einen ziemlich un-
trainierten Kumpel dabei.
Wir blicken in die Richtung, wo der Berg
sich in Nebel hüllt. „Es wird aufklaren“, sage
ich. Das sagt man hier, wenn schlechte Sicht
ist.
Es regnet, aber nicht im Strömen. Und der
Nebel ist auch kein Problem. Es geht leicht
bergan.

Wir gehen 20, 30 Meter weiter, und da hört
der Pfad auf. Der Berg spitzt sich zu, und es
geht senkrecht nach oben. Aber nur vier Me-
ter, denn dann verschwindet alles im dichten
Nebel. Was links von diesem spitzen Stück
Felsen liegt, das senkrecht in die Höhe zeigt,
liegt, kann man unmöglich sagen. Da ist auch
Nebel. Rechts von uns ist auch nichts zu
sehen.
„Ist das vielleicht der eigentliche Grat?“,
frage ich.
Es heißt ja, man soll einfach nur den Stei-
nen mit dem rotem T folgen. Aber wir sehen
keine.
Und dann geschieht es. Es reißt auf. Nur ein
Riss. Und nur ein paar Sekunden. Aber es
reicht, um uns erkennen zu lassen, dass der
Berg rechts von uns steil abfällt. Tief. Dann
sehen wir wieder nichts mehr.
Zum Kuckuck!
Was wir jetzt tun, ist (nämlich) eindeutig
Klettern. Und es ist nass und schlüpfrig. Und
wir sehen nichts. Wir sehen weder, was links
von uns ist, noch, was rechts von uns ist, aber
was wir gesehen haben, als wir noch einen
kurzen Blick darauf werfen konnten, hat uns
nicht gefallen. Wir sehen gerade mal, was di-
rekt vor uns liegt. Und das ist nasser Fels.
Es zeigt sich, dass es noch mehr Dinge gibt,
die uns niemand über den Besseggen erzählt
hat. Zum Beispiel, dass der Grat voller Kauta-
bak ist. Dieses typische nordische Rauschmit-
tel, das Schweden in einem seltenen Anfall
von Ungehorsam beizubehalten hingekriegt
hat, obwohl es in der EU verboten ist. Hier
liegt der Wegwerfkautabak im Gebirge herum.
Portionsprieme.
Ein Pfad von Portionspriemen führt den
Grat hinauf. Doch dies ist in gewisser Weise
beruhigend. Es bedeutet nämlich, dass hier
vorher schon Leute gegangen sind. Dass wir
auf dem richtigen Weg sind. Ein Tipp: Falls auf
dem Besseggen schlechte Sicht herrscht, folge
dem Kautabak, nicht den Ts.

GGratwanderung in ratwanderung in NORWEGEN


Der Besseggen ist der


berühmteste Grat des


Landes. Jeder will rauf


und postet Fotos vom


Gipfel. Der Satiriker


Are Kalvø, Stadtmensch


und Naturphobiker, hat es


ausprobiert – mit Folgen


SSSpektakuläre Aussicht - bei gutem Wetter: Blick vom Bessegen-Grat auf den türkisgrünen See Gjende pektakuläre Aussicht - bei gutem Wetter: Blick vom Bessegen-Grat auf den türkisgrünen See Gjende

GETTY IMAGES

/ MIGUEL SOTOMAYOR

Gekürzter Auszug
aus Frei. Luft.Hölle
von Are Kalvø,
DuMont Reiseverlag,
3 60 Seiten, 14,95 Euro

FFFolgt dem roten T: Are Kalvø in den Bergen olgt dem roten T: Are Kalvø in den Bergen

ELISABETH REIERSEN

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07.03.20 Samstag,7.März2020DWBE-VP1


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