Die Welt - 03.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

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03.03.20 Dienstag,3.März2020DWBE-HP


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2 FORUM DIE WELT DIENSTAG,3.MÄRZ


Zwei Prozentpunkte gegen


die Corona-Rezession


FRIEDRICH HEINEMANN


GASTKOMMENTAR


N


och ist es unmöglich, die öko-
nomischen Folgen des Corona-
virusfür Deutschland im Aus-
maß vorherzusagen. Viel hängt davon
ab, ob die regionalen Epidemien unter
Kontrolle bleiben. Je nach Verlauf hat
das neue Virus jedoch das Potenzial,
die deutsche Wirtschaft in ihre erste
schwere Rezession seit der Finanzkrise
im Jahr 2009 zu stoßen. Das ökonomi-
sche Risiko ist deshalb hoch, weil die
Krankheitswelle Exportwirtschaft,
Produktion und Konsum gleichzeitig
beeinträchtigt. Erstens droht der deut-
schen Exportwirtschaft ein weiterer
Einbruch, die ohnehin noch unter
Handelskonflikt, Brexit und schwacher
WWWeltkonjunktur leidet.eltkonjunktur leidet.
Zweitens wird selbst dort, wo in der
deutschen Industrie noch genügend
AAAufträge vorliegen, die Produktionufträge vorliegen, die Produktion
behindert. Corona verursacht Störun-
gen der globalen Lieferketten mit der
Folge fehlenden Nachschubs von Vor-
produkten. Außerdem fehlen Arbeit-
nehmer aufgrund von geschlossenen
Kindergärten und Schulen oder Qua-
rantänemaßnahmen. Der dritte Tief-
schlag für die Deutschland-Konjunktur
betrifft das neben der Bauwirtschaft
bislang stärkste Standbein, die Kon-
sumnachfrage der privaten Haushalte.
Die wirklich gute Nachricht in die-
ser Lage ist zunächst: Der deutsche
Fiskusist aufgrund der erfolgreichen
Konsolidierung der Staatsfinanzen in
den letzten Jahren erstklassig vor-
bereitet, um eine Rezession wirkungs-
voll bekämpfen zu können. Es zeigt
sich jetzt, wie segensreich die von
vielen kritisierte Sparsamkeit in den
guten Jahren ist, wenn wirklich schwe-
re Zeiten kommen. Ein hochverschul-
detes Land wie Italien ist den öko-
nomischen Folgen von Corona ohne
Hilfe von außen ökonomisch wehrlos
ausgeliefert. Demgegenüber kann die
Bundesrepublik sogar ein Konjunktur-
paket im hohen zweistelligen Milliar-
denumfang mühelos finanzieren.
Ein solches Konjunkturpaket würde
den Fiskus nicht einmal mit zusätzli-
chen Zinskosten belasten. Bund und
Länder könnten aufgrund der negati-
ven Renditen für Staatsanleihen mit
den neuen Schulden im Gegenteil
noch Geld verdienen. Weder die Schul-
denbremse im Grundgesetz noch der
europäische Stabilitätspakt sind Hin-
dernisse für höhere Schulden. Zum
einen erlauben alle diese Regeln auto-
matisch höhere Defizite im Ab-
schwung. Zum anderen lässt Artikel 115
des Grundgesetzes ausdrücklich höhe-
re Defizite „im Falle von außerge-
wöhnlichen Notsituationen, die sich
der Kontrolle des Staates entziehen“
zu. Dass eine eskalierende Coronavi-
rus-Seuche diese Bedingung erfüllen
wwwürde, steht völlig außer Frage. Fi-ürde, steht völlig außer Frage. Fi-
nanzierbarkeit, Rechtmäßigkeit und
ökonomische Vernunft eines deut-
schen Konjunkturpakets sind somit
gegeben, wenn sich die Sorgen um eine
schwere Rezession bestätigen sollten.
Schwieriger ist die Suche nach den
geeigneten Instrumenten.
Die Erfahrungen des letzten deut-
schen Konjunkturpakets von 2009
lassen sich nur bedingt übertragen.
AAAuch heute anwendbar sind die dama-uch heute anwendbar sind die dama-
ligen guten Erfahrungen mit einer
AAAusweitung der usweitung der Kurzarbeiterregeln.
Großzügige Kurzarbeitsregeln können
den Unternehmen in Industrie und
Dienstleistungen helfen, größere Ent-
lassungswellen zu vermeiden. Dies
stabilisiert die Beschäftigung und den
Konsum. Hingegen würde es heute
weniger Sinn als damals ergeben, den
Kommunen Finanzmittel für Bau-
investitionen zur Verfügung zu stellen.
Die Kapazitäten der Bauwirtschaft
sind aktuell voll ausgelastet, und auch
das Virus wird den Bauboom kurz-
fffristig nicht beenden. Mehr Geld fürristig nicht beenden. Mehr Geld für
Investitionen in Bauten und Straßen

wwwürde somit die Baupreise weiter an-ürde somit die Baupreise weiter an-
heizen, aber nicht für nennenswert
höhere Bauleistungen sorgen. Hin-
gegen sollte ein Konjunkturpaket der
Konsumnachfrage deutlich mehr Be-
achtung schenken als das Paket, das
2 009 gegen die Finanzkrisenrezession
geschnürt wurde. Aufgrund der Psy-
chologie der Seuchenangst könnte die
Binnenwirtschaft in den kommenden
Monaten ganz maßgeblich über einen
Einbruch der Konsumnachfrage ge-
troffen werden.
Schon jetzt ist erkennbar, dass die
erfolgsverwöhnte deutsche Reisebran-
che vor einem schwarzen Jahr steht.
AAAusländische Touristen bleiben aususländische Touristen bleiben aus
und die reisefreudigen Deutschen
dürften in diesem Jahr vielfach ihre
Ferien in den eigenen vier Wänden
verbringen. Wenn ganz allgemein
Menschenansammlungen aufgrund
von objektiven Risiken, seuchenrecht-
lichen Verboten oder schlicht wegen
Panik unterbleiben, dann wird die
Konsumnachfrage in weiteren wichti-
gen Sektoren von Gastronomie über
Sport bis hin zu Unterhaltung und
KKKultur schwer in Mitleidenschaft gezo-ultur schwer in Mitleidenschaft gezo-
gen. Düster ist auch die Perspektive
des stationären Einzelhandels. Men-
schen, die Angst vor der Shoppingmall
haben, sind lausige Konsumenten.
Die Bundesregierung sollte daher
VVVorbereitungen treffen, um in einemorbereitungen treffen, um in einem
Konjunkturpaket besonders auch die
Konsumnachfrage stabilisieren zu
können. 2009 gab es die „Abwrack-
prämie“ für den Ersatz des alten PKWs
durch einen Neuwagen. Diese Maß-
nahme wäre heute zu eng, weil sie den
vielen von der Krankheit betroffenen
Dienstleistungsbranchen keine Hilfe
bietet. Besser wäre ein Anreiz, der den
privaten Verbrauch in der Breite stabi-
lisiert. Hier bietet sich eine zeitlich
begrenzte Absenkung des allgemeinen
Mehrwertsteuersatzes an. Dieses In-
strument wäre administrativ einfach
umsetzbar. Eine Alternative ist „Heli-
koptergeld“ in Form von Konsum-
schecks vom Staat an jeden Bürger. Im
VVVergleich dazu wäre die niedrigereergleich dazu wäre die niedrigere
Mehrwertsteuer aber überlegen. Die
Mehrwertsteuersenkung ist verwal-
tungstechnisch wesentlich einfacher
als die personalisierten Schecks an
jeden Einwohner. Helikoptergeld
könnte zudem wirkungslos verpuffen,
weil die Schecks vom Staat zu oft nur
genutzt würden, um ohnehin geplante
AAAusgaben wie etwa den usgaben wie etwa den Hamsterkauf
beim Discounter zu bezahlen. Das
bringt keinen Stabilisierungseffekt.
Die niedrigere Mehrwertsteuer
wirkt hingegen zuverlässiger in Rich-
tung einer wirklichen Steigerung der
VVVerbrauchsausgaben. Sie erhöht nichterbrauchsausgaben. Sie erhöht nicht
nur das nach Steuern verfügbare Haus-
haltsbudget, sondern verbilligt auch
den Konsum – das ist ihr konjunktur-
politischer Reiz. Wenn klar ist, dass
alle Güter und Dienstleistungen nur
fffür wenige Monate günstiger zu habenür wenige Monate günstiger zu haben
sind, dann ist dies ein zielgenaues
Gegenmittel gegen die Corona-be-
dingte Konsumverweigerung.
Die Regierung könnte mit einer bis
zum Jahresende befristeten Senkung
des Normalsatzes um zwei Prozent-
punkte beginnen, die damit verbunde-
nen Steuerausfälle in einer Größen-
ordnung von gut 20 Milliarden Euro
wären im Rahmen eines umfassenden
Konjunkturpakets gut finanzierbar. Im
VVVergleich zur Abwrackprämie undergleich zur Abwrackprämie und
ähnlichen engen Anreizen privilegiert
die Mehrwertsteuersenkung keine
Branche. Konsumenten würden überall
profitieren können, ob sie nun Autos
und Möbel kaufen oder lieber Reisen
und Konzerte buchen. Die Seuche ist
auch ökonomisch eine neue Erfahrung
und bedingt wirtschaftspolitisch un-
konventionelle Maßnahmen. Eine
temporäre Mehrwertsteuersenkung
verdient dabei große Beachtung.

TProf. Dr. Friedrich Heinemann leitet
den Forschungsbereich Öffentliche
Finanzen am Mannheimer Zentrum für
Europäische Wirtschaftsforschung,
und er lehrt Volkswirtschaftslehre an
der Universität Heidelberg.

B


estätigungen von Richtern durch das
polnische Parlament sind eigentlich
keine Aufreger. Eigentlich. Denn seit
mehr als vier Jahren hat jede Nachricht,
die in Polen in Zusammenhang mit dem
Justizwesen steht, das Potenzial, sich zu etwas Gro-
ßem auszuwachsen – so wie im November vergange-
nen Jahres die Ernennung der beiden ehemaligen
AAAbgeordneten der Regierungspartei Recht und Ge-bgeordneten der Regierungspartei Recht und Ge-
rechtigkeit (PiS), Krystyna Pawlowicz und Stanislaw
Piotrowicz, zu Richtern am Verfassungstribunal.
Für langjährige Beobachter der sogenannten Jus-
tizreform war diese Entscheidung an Unverfroren-
heit nicht zu überbieten. Wenn die PiS nämlich Jus-
tizangestellte aus Ämtern drängt, neue Kammern
schafft, kurz: sich Schritt für Schritt die Justiz unter-
wirft, dann begründet die Partei das damit, dass sich
innerhalb der Richterschaft auch dreißig Jahre nach
dem Ende des Staatssozialismus immer noch zu viele
Kommunisten tummeln. Ein Richter in Polen ist
durchschnittlich 42 Jahre alt; ausgebildet wurde er
im demokratischen Polen. Diese Wahrheit lassen
PiS-Mitglieder nicht gelten. Es ist eine umso beacht-
lichere intellektuelle Pirouette, dass die Mehrheit im
Parlament ausgerechnet Stanislaw Piotrowicz zum
VVVerfassungshüter auserkoren hat. Mit ihm trägt zurerfassungshüter auserkoren hat. Mit ihm trägt zur
AAAbwechslung wirklich ein ehemaliger kommunisti-bwechslung wirklich ein ehemaliger kommunisti-
scher Staatsanwalt nun eine Richterrobe. Wer Kom-
munist ist oder nicht, das entscheidet offenbar die
PiS und nur die PiS allein.
Viele Journalisten, auch ich, konnten die Personal-
entscheidung nicht fassen – genauso wenig, dass die
PiS damit durchkommt. Dabei war sie in den Jahren
davor schon mit ganz anderen Dingen durchgekom-
men. Eigentlich hätten wir es besser wissen müssen.
Der Großteil der polnischen Bevölkerung interes-
sierte sich kein Stück für Piotrowicz und seine kom-
munistische Vergangenheit. Gleichgültigkeit in einer
Gesellschaft ist der beste Schmierstoff für eine ambi-
tionierte Machtpolitik. Der Fall Piotrowicz kann
stellvertretend für das Verhältnis vieler Polen zum
Justizumbau in ihrem Land stehen: Während Journa-
listen und Oppositionelle fassungslos dreinblicken
und immer wieder vor dessen Folgen warnen, legen
die meisten Menschen eine gewisse Justiz-Indiffe-
renz an den Tag. Wie kann das sein?
Seit 2015 schon, seit dem Sieg der Partei bei den
Parlamentswahlen, beschäftige ich mich mit der
Politik der PiS. Wenn ich an diese ersten Wochen
zurückdenke, habe ich zwei Bilder vor Augen: Zehn-
tausende, die gegen den Justizumbau auf die Straßen
WWWarschaus gehen und Jaroslaw Kaczynski, den mäch-arschaus gehen und Jaroslaw Kaczynski, den mäch-
tigen Parteichef, wie er damals mit Blumen und
Handkuss Beata Szydlo, die Premierministerin wer-
den und bis 2017 bleiben sollte, zum Wahlausgang
beglückwünscht. Ich habe mich in meiner Einschät-
zung der politischen Zustände in Polen lange auf das
erste Bild, das der Proteste, konzentriert. Ich dachte,
dass der gesellschaftliche Widerstand, spätestens die
EU die Partei davon abhalten werde, den Rechtsstaat
nachhaltig zu beschädigen. Auch habe ich – entgegen
der damals unter Kollegen verbreiteten Meinung –
auf progressive Kräfte in der PiS gesetzt, denen trotz

eines gewissen Machthungers an einem guten Ver-
hältnis zu Brüssel gelegen ist. Heute weiß ich: Ich lag
daneben.
Viel ist passiert in den vergangenen Jahren, Polen
ist 2020 ein anderes Land. Die Massenproteste gegen
den Justizumbau sind lange vorbei, ich hatte die
Wirkkraft des zweiten Bildes, das von Kaczynski und
Szydlo, unterschätzt. Die bis dahin weitgehend unbe-
kannte Provinzpolitikerin stand für einen radikalen
Neuanfang, eine Politikergeneration, die nicht in alte
Parteikämpfe involviert war, in einer Vermählung
aaaber mit dem ultimativen Repräsentanten jenerber mit dem ultimativen Repräsentanten jener
Kämpfe, dem großen Strippenzieher: Jaroslaw
Kaczynski. Ihm wurde zugetraut, ein vermeintlich
korruptes System zu zertrümmern, in dem seit dem
Beitritt Polens zur EU 2004 wenige auf Kosten vieler
profitiert haben, so die Erzählung. Ausgerechnet die
„Richterkaste“, wie sie abschätzig vom Regierungs-
lager genannt wird, steht für diesen Missstand. In
dem Sinne ist sie für die Partei nicht nur ein Hinder-
nis auf dem Weg zu vollumfänglicher staatlicher
Macht und muss „abgesetzt“ werden, sondern sie ist
auch ein Mittel zurMacht. Wie man es dreht und
wendet, die sogenannte Justizreform ist der zentrale
Baustein der Politik der PiS. Das gilt es zu verstehen,
gerade auch in Brüssel, wo es immer noch Politiker

gibt, die glauben, dass Polen vom eingeschlagenen
WWWeg abrückt, wenn man dem Land sein Foulspieleg abrückt, wenn man dem Land sein Foulspiel
vorhält. Dass dem nicht so ist, können wir anhand
der Urteilssprüche und Beurteilungen des Europäi-
schen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg und der
VVVenedig-Kommission des Europarats sowie der Zu-enedig-Kommission des Europarats sowie der Zu-
geständnisse sehen, die die PiS bisweilen durchaus
macht. Teile der sogenannten Reform nimmt die
Partei zurück, wenn der Gegenwind aus dem Ausland
zu stark ist. Gleichzeitig aber drückt sie an anderer
Stelle neue Gesetze durch: Auf Zwangspensionierun-
gen folgt die Einrichtung einer Disziplinarkammer,
dann ein Richterdisziplinierungsgesetz. Der Justi-
zumbau ist kleinteilig und kompliziert. Darin besteht
der strategische Vorteil für die PiS.
Mit denselben juristischen Feinheiten und einer
staubtrockenen Beamtensprache, mit der die EU-
Kommission zu kämpfen hat, hat die polnische Re-
gierung die eigene Bevölkerung eingelullt. Die Ge-
richte, zumindest wenn es einen nicht selbst un-
mittelbar etwa in Form einer Strafsache betrifft, sind
fffür die meisten Menschen eine langweilige Angele-ür die meisten Menschen eine langweilige Angele-
genheit. Der Protest hat sich heiß gerieben. Diejeni-
gen, die von Beginn an eine Diktatur haben herauf-
ziehen sehen, warnen heute lediglich Oppositions-
anhänger, die gar nicht überzeugt werden müssen.
AAAll das findet in einem Kontext statt, in dem breitell das findet in einem Kontext statt, in dem breite
Bevölkerungsschichten endlich am erwirtschafteten
WWWohlstand teilhaben. Polen erlebt einen Boom wieohlstand teilhaben. Polen erlebt einen Boom wie
keine andere große europäische Volkswirtschaft,
angekurbelt mitunter durch starken Konsum. Das ist
es, was auf den Straßen polnischer Großstädte
scheinbar greifbar bist: Wachstum, Aufstiegs- und
Statusstreben. Das Konzept von Rechtsstaatlichkeit
bleibt abstrakt und ist wenig sexy. Das hat die PiS
besser verstanden, als die Opposition.
Über mehr Weitblick dürfte sie dennoch verfügen.
Denn die sogenannte Justizreform betrifft nicht nur
das Oberste Gericht; wenn an Regionalgerichten
Normalbürger vor Richtern sitzen, die Beziehungen
zu lokalen PiS-Funktionären unterhalten, spätestens
dann wird das Problem auch für Herrn Kowalski, den
polnischen Herrn Schmidt, spürbar. Aber dass dann
die Massen auf die Straßen gehen, das würde ich
nicht vorhersagen. Zu oft dachte ich schon: Jetzt
kippt etwas – und passiert ist nichts. Die Polen sind
eben nicht die Freiheitskämpfer all der Aufstände
und der Gewerkschaft Solidarnosc, die viele Exper-
ten im Ausland sich herbeiromantisieren.
Vieles wird in höherem Maß von der EU, aber
auch von Berlin und Paris abhängen, als von der
Opposition in Polen. Denn das Land verfügt über das
Potenzial, in Europa eine führende Rolle zu spielen,
was das deutsch-französische Duo aber nicht akzep-
tieren kann, so lange rechtsstaatliche Standards
nicht eingehalten werden. Selbst die PiS ist eine
europäische Partei, die oben dabei sein möchte. Der
Justizumbau nun ist der „frozen conflict“ der pol-
nischen Regierung gegen das eigene Land: Sie hält
Polen davon ab, zu einer Gestaltungsmacht in Eu-
ropa zu werden – zugunsten der Machtkonsolidie-
rung im Innern. Meine schmerzliche Erkenntnis ist,
dass das erst mal so bleiben wird.

ESSAY


Nur eine starke EU kann


Polen noch retten


PHILIPP FRITZ


Die polnische


Regierungspartei baut


die Justiz um, wie es ihr


gerade passt. Mit


jedem Schritt entfernt


sie sich dabei vom


Rechtsstaat. Ein


Skandal - doch die


Bevölkerung reagiert


weitgehend mit


Gleichgültigkeit. Unser


Polen-Korrespondent


über eine schmerzhafte


Erkenntnis


Julia Przylebska, Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes Polens


PICTURE ALLIANCE / PAP

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