Die Welt - 03.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

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03.03.20 Dienstag,3.März2020DWBE-HP


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6 POLITIK DIE WELT DIENSTAG,3.MÄRZ


J


ohn Dalhuisen arbeitet für die
Denkfabrik ESI, die den
Flüchtlingsdeal zwischen der
Türkei und der EU entworfen
hat. Auch nach der jüngsten
Eskalation an der griechisch-türkischen
Grenze verteidigt er das Abkommen.

VON CAROLINA DRÜTEN


WELT: Herr Dalhuisen, die Situation
in Idlib eskaliert. Die Türkei will
Flüchtlinge aus Syrien nicht aufhal-
ten, wenn diese auf dem See- oder
Landweg nach Europa reisen wollen.
Ist das ein Bluff der türkischen Seite,
um die Europäer zum Eingreifen in
Nordsyrien zu bewegen, oder ist der
Flüchtlingsdeal diesmal wirklich in
Gefahr?
JOHN DALHUISEN: Das Flüchtlingsab-
kommen ist eindeutig brüchig. Sowohl in
Griechenland, das bereits mit einem An-
stieg der Ankünfte seit dem letzten Som-
mer zu kämpfen hat, als auch in der Tür-
kei, in der der Druck durch die Aufnah-
me von fast vier Millionen syrischen
Flüchtlingen allmählich spürbar wird
(laut UNHCRsind es offiziell 3,6 Millio-
nen syrische Flüchtlinge, d. Red.). Die
Aussicht auf einen weiteren großen Zu-
strom von Flüchtlingen aus Syrien ist
eindeutig eine große Sorge. Die Türkei
blufft nicht, wenn sie sagt, dass sie das
nicht allein stemmen kann.

Also müssen wir in Europa bald mit
einem großen Andrang von Migran-
ten rechnen?
Die türkische Regierung weiß: Selbst
wenn sie aufhört, die Grenze zu kontrol-
lieren, wird lange nicht jeder Flüchtling
aaaus Idlib versuchen, die EU zu erreichen.us Idlib versuchen, die EU zu erreichen.
Im vergangenen Jahr verließen nur
1 6.000 Syrer die Türkei– das ist weniger
als ein Prozent aller Syrer im Land, und
das liegt nicht daran, dass die Grenzpa-
trouillen eine Ausreise unmöglich ma-
chen. Tatsache ist, dass die Türkei und die
EU sich gegenseitig brauchen, um einen
neuen Flüchtlingsstrom zu bewältigen.

Was muss Europa jetzt tun, um den
Deal noch zu retten?
Die EU wird ihre finanzielle Unterstüt-
zung wahrscheinlich ganz erheblich auf-
stocken müssen. Ehrlich gesagt, sollte
sie ohnehin eine zweite Summe von
sechs Milliarden Euro bereitstellen –
denn die Flüchtlingsbevölkerung in der
Türkei wird das Land nicht so schnell
wieder verlassen.

Als Kanzlerin Angela Merkel im Janu-
ar in Istanbul war, hat sie dem türki-
schen Präsidenten Recep Tayyip Er-
dogan bereits weitere finanzielle Un-
terstützung im Rahmen des Flücht-
lingsdeals in Aussicht gestellt. Gleich-
zeitig nennen Menschenrechtsorgani-
sationen das Abkommen ein humani-
täres „Desaster“. Pflichten Sie der
Kritik bei?
So weit würde ich nicht gehen. Das Ab-
kommen wird auf den griechischen In-
seln nicht gut umgesetzt, aber es hat die
Lebensbedingungen von Millionen von
Syrern in der Türkei deutlich verbessert.
Die eigentliche Frage ist aber: Ist das Ab-
kommen besser als das, was sonst pas-
siert wäre? Wir dürfen es nicht mit einer
idealen, aber unerreichbaren Wunsch-

vorstellung vergleichen, sondern mit
realistischen Alternativen.

Wie sehen diese Alternativen aus?
Menschenrechtler fordern immer wie-
der, die griechischen Inseln zur Durch-
reise zu öffnen, damit sich die Menschen
dort nicht unter unzumutbaren Bedin-
gungen stauen. Dafür müssten sich die
europäischen Regierungen auf organi-
sierte und politisch einvernehmliche
Weise einigen, die Flüchtlinge auf die
einzelnen Länder zu verteilen, mit dem
anhaltenden Segen der europäischen Be-
völkerung und aller politischen Parteien
an der Macht. Das erscheint mir ein
frommer Wunsch.

Was halten Sie für wahrscheinlicher?
Hätte der Flüchtlingsstrom nach Europa
angehalten, wären einwanderungsfeindli-
che, gar rechtsextreme Parteien an die
Macht gekommen. Sie hätten die Grenzen
in ganz Europa geschlossen, Hunderttau-
sende Flüchtlinge wären unter erbärmli-
chen Bedingungen in Griechenland und
aaauf dem Balkan gefangen gewesen. Die La-uf dem Balkan gefangen gewesen. Die La-
ge wäre so schrecklich und die Einreise in
die EU so unmöglich geworden, dass am
Ende kaum noch jemand die Überfahrt
nach Europa gewagt hätte. Wir hätten al-
so ein ähnliches Ergebnis wie jetzt, mit
dem Unterschied, dass es noch mehr Leid
und Elend gäbe und toxische Parteien das
Sagen hätten. In Griechenland ist das eine
hhhypothetische Frage, aber schauen Sieypothetische Frage, aber schauen Sie
nach Italien, dort ist es passiert!

Sie spielen auf Matteo Salvini an.
AAAls die meisten Menschen über die zentra-ls die meisten Menschen über die zentra-
le Mittelmeerroute nach Italien kamen
und die meisten Rettungsschiffeunter-
wegs waren, starben auch die meisten
Menschen. Und was ist passiert? Salvini
kam an die Macht und sorgte dafür, dass
kaum irgendjemand noch nach Italien ein-
reisen durfte. Das ist die Nettobilanz,
wenn man versucht, alle Menschen aufzu-
nehmen. Natürlich, wenn jemand ertrinkt,
muss man ihn retten. Das ist indiskutabel.

Zu viel Moral verhindert also gute Po-
litik, sagen Sie?
Humanitäre Organisationen, Menschen-
rechtsaktivisten, ja, die meisten Christen
richten sich nach einer „Gesinnungs-
ethik“. Sie fühlen sich moralisch ver-
pflichtet, jeden Migranten, der kommen
will, als schutzbedürftiges Individuum
aaaufzunehmen. Hebt man diesen Anspruchufzunehmen. Hebt man diesen Anspruch
von einer individuellen auf eine politische
Ebene, funktioniert er nicht immer.

Brauchen Politiker andere moralische
Standards?
Als Politiker müssen Sie sich der „Konse-
quenzethik“ beugen und bedenken, wel-
che Folgen Ihr Handeln hat. Wenn Sie
die Grenzen öffnenund alle reinlassen,
hat Sie wahrscheinlich in sechs Monaten
ein Populist abgelöst, dem alle Mittel
recht sind, um Einwanderung zu stop-
pen. Moralisch motivierte Kompromiss-
losigkeit kann gute politische Entschei-
dungen verhindern.

Eine solche Logik rechtfertigt von
vorneherein Deals mit autoritären
Herrschern wie Erdogan?
Wenn Sie mich fragen, ob Maßnahmen
gerechtfertigt sind, die auf die bestmög-
lichen Ergebnisse für die meisten

Flüchtlinge und Migranten zielen, dann
ist meine Antwort Ja.

Würden Sie sagen, dass selbst Abkom-
men mit Gegenübern in Ordnung sind,
die schwere Menschenrechtsverlet-
zungen begangen haben – etwa das sy-
rische Regimeunter Präsident Baschar
al-Assad oder Libyen, wo Migranten
interniert und misshandelt werden?
Nicht immer. Es ist ein ständiges Abwä-
gen. Wenn man sich mit Herrschern ein-
lässt, deren Handlungen außerhalb der
eigenen Kontrolle liegen, kann man
leicht falschliegen. Man trifft eine Reihe
von Vorhersagen und muss am Ende hof-
fen, dass man recht hatte. Entscheidend
ist, dass man davon angetrieben wird,
das Richtige zu tun. Wer starr auf seinen
Prinzipien beharrt und immer nur das
tun will, was moralisch einwandfrei ist,
der versucht nicht, die Welt zu verän-
dern. Er wünscht sich, in einer anderen
Welt zu leben. Ohne Kompromisse geht
es aber nicht.

War Kompromisslosigkeit der Grund,
warum Sie bei der Menschenrechtsor-
ganisation Amnesty International ge-
kündigt haben? Sie leiteten dort das
EU-Büro.
Es mag Amnestys Rolle sein, idealisti-
sche, prinzipientreue Positionen zu ver-
treten. Aber ich hatte das Gefühl, dass
ich zu dieser Zeit auf diese Art politisch
kaum etwas bewegen konnte. Ich wollte
für erreichbare Ziele eintreten, die bes-
ser sind als der Status quo und besser als
andere Alternativen.

Sie begannen also, für die Denkfabrik
ESI zu arbeiten, die den Flüchtlings-
deal mit der Türkei entworfen hat.
Genau.

Sie erwähnten die schlimmen Bedin-
gungen, unter denen Flüchtlinge auf
den griechischen Inseln leben. Hat
der Deal dort versagt?
Auch wenn der Deal im Großen und
Ganzen klappt, Teile seiner Umsetzung
haben nicht funktioniert – zum Beispiel
auf den griechischen Inseln. Dort müs-
sen die Asylverfahren beschleunigt wer-
den, aber das allein reicht nicht. Mehr
Migranten müssen aufs Festland verlegt
werden, um die Lager zu entlasten. Und
Menschen, die in die Türkei zurückge-
bracht werden können, müssen zügig zu-
rückgebracht werden.

Das klingt, als müsse vor allem die
griechische Regierung handeln.
Ja, aber auch die EU ist in der Pflicht. Ich
habe ja bereits gesagt, dass Brüssel weite-
re sechs Milliarden Euro für die Türkei
bereitstellen muss, die über die nächsten
fffünf, sechs Jahre ausgezahlt werden. Dasünf, sechs Jahre ausgezahlt werden. Das
Ziel ist aber nicht, Europa abzuschotten
und die Türkei dafür zu bezahlen, die al-
leinige Verantwortung für die Flüchtlinge
zu übernehmen. Teil des Deals ist auch
ein Umsiedlungsprogramm von Syrern
aaaus der Türkei in die EU. In den vergange-us der Türkei in die EU. In den vergange-
nen drei Jahren wurden nur rund 25.
Menschen aufgenommen. Diese Zahl
muss sich verdoppeln bis vervierfachen.
Mit dem Abkommen wollen wir so vielen
Flüchtlingen wie möglich eine bestmögli-
che Zukunft bieten. Die Zukunft einiger
dieser Menschen liegt in der EU. Aber wir
können nicht alle aufnehmen.

Beim Treffen von Angela Merkel mit Recep Tayyip Erdogan im Januar in Istanbul ging es auch um den Flüchtlingsdeal


PICTURE ALLIANCE / AA

/DPA PICTURE-ALLIANCE / ARIF HUDAVERDI YAMAN

„„„Wenn Sie alle reinlassen,Wenn Sie alle reinlassen,


kommen bald Populisten


an die Macht“


John Dalhuisen ist einer der Architekten des Flüchtlingsabkommens der


EU mit der Türkei – und er hält den Deal in Teilen für gescheitert. Um ihn


doch noch zu retten, müsse Brüssel jetzt tief in die Tasche greifen


S


eit Monaten kämpft Niedersach-
sens Innenminister Boris Pisto-
rius darum, dass einige Bundes-
länder ein Kontingent unbegleiteter
minderjähriger Migranten aus den
Elendslagern auf Lesbos aufnehmen
dürfen. Jetzt beweist der Andrang an
der Grenze zwischen Griechenland und
der Türkei aus Sicht des SPD-Politikers,
dass die EU endlich handeln muss.

VON ULRICH EXNER


WELT: Herr Pistorius, Tausende Mig-
ranten versuchen, über die türkisch-
griechische Grenze in die EU zu ge-
langen. Wären Bund und Länder auf
einen neuen Flüchtlingsansturm vor-
bereitet?
BORIS PISTORIUS:Für die Länder und
gerade aus niedersächsischer Sicht kann
ich das im Wesentlichen bejahen. Wir
haben die richtigen Schlüsse aus 2015
gezogen und können unsere Kapazitä-
ten jederzeit wieder hochfahren.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock
fordert, dass alle Flüchtlingsunter-
künfte jetzt wieder betriebsbereit ge-
macht werden sollen. Richtig?
Das ist genau die Art von Ratschlägen,
die wir derzeit nicht brauchen. Wir sind
vorbereitet, wir haben klare Pläne, wir
wissen, was wir wann zu tun haben, und

machen das dann auch. Es wäre grund-
falsch, jetzt in operative Hektik zu ver-
fallen. Entscheidend ist die Frage, was
an den europäischen Außengrenzen
passiert. Wir dürfen nicht wieder se-
henden Auges in eine Situation geraten,
in der wir die Dinge nicht mehr im Griff
haben.

Genau den Eindruck kann man aber
gewinnen angesichts der Ereignisse
an der türkisch-griechischen Gren-
ze. Die EU scheint keinen Plan zu
haben, wie man mit der Eskalation
dort umgeht.
Das ist nicht nur ein Eindruck, sondern
bedauernswerte Realität. Leider. Es
zeigt sich, dass viele Mitgliedstaaten
der EU bis heute nicht bereit waren, aus
den Ereignissen der Jahre 2015 und 2016
zu lernen. Da ist sehr viel wertvolle Zeit
verschenkt worden.

Was muss geschehen, um Schlimme-
res zu verhindern?
Die EU muss jetzt vor allem sofort Grie-
chenland unterstützen. Bei der Grenzsi-
cherung, beim Bau von weiteren Auf-
nahmelagern, bei der Versorgung der
Flüchtlinge. Sie muss auch erneut mit
der Türkei verhandeln und dafür sor-
gen, dass sich 2015 eben nicht wieder-
holt. Wir können nicht zulassen, dass
wiederum Hunderttausende Menschen

über die europäischen Außengrenzen zu
uns kommen. Wir brauchen außerdem
ein klares Signal der EU, dass denjeni-
gen Mitgliedstaaten spürbare und emp-
findliche finanzielle Konsequenzen dro-
hen, die sich einer gemeinsamen und
solidarischen Lösung beim Umgang mit
Flüchtlingen verweigern. Was wir au-
ßerdem brauchen, ist endlich ein ge-
meinsames europäisches Asylsystem.

Auf das Sie und viele andere seit Jah-
ren dringen. Warum sollte das jetzt
funktionieren?
Vielleicht hilft ja der Druck, den jetzt al-
le spüren. Die Menschen, die jetzt hier-
herkommen, müssen so früh wie mög-
lich erfasst werden und Klarheit darü-
ber haben, wie es mit ihnen weitergeht.
Es muss schnelle, europaweit gültige
Asylverfahren geben.

Sie sagen, die EU müsse wieder mit
der Türkei verhandeln. Ist das ange-
sichts der Tatsache, dass Präsident
Erdogan Flüchtlinge immer wieder
als Druckmittel einsetzt, wirklich der
richtige Weg?
Was sollten wir sonst tun? Es gibt in
dieser Sache keine Alternative zu einer
Zusammenarbeit mit der Türkei – bei
klarer Distanz zum militärischen Vorge-
hen der Türkei an der nordsyrischen
Grenze.

Aus der Union kommen Forderungen,
auch an den deutschen Grenzen die
Kontrollen zu verstärken und notfalls
zurückzuweisen. Stimmen Sie zu?
Na ja. Das sind die üblichen Reflexe ge-
rade aus dem Lager der Union. Jetzt
geht es vor allem darum, uns auf den ge-
meinsamen Schutz der Außengrenzen
zu konzentrieren. Was die innereuro-
päischen Grenzen betrifft: Schengen ist
weiterhin in Kraft, und ich bin zwar
kein ausgewiesener Wirtschaftspoliti-
ker, kann mir aber vorstellen, welche
vor allem wirtschaftlichen Konsequen-
zen kilometerlange Lkw- und Auto-
schlangen an den Grenzen hätten.

Österreichs Kanzler Kurz hat solche
Grenzschließungen für sein Land be-
reits angekündigt, falls die Lage an
der türkisch-griechischen Grenze
weiter eskaliert.
Es hilft überhaupt nicht, wenn ausgerech-
net diejenigen, die sich seit Jahren einer
gemeinsamen europäischen Asylpolitik
verweigern, uns heute erzählen, was alles
zu tun wäre. Das ist nicht in Ordnung.
Die Menschen erwarten zu Recht von der
Politik, dass wir die Probleme erkennen
und lösen. Um dem gerecht zu werden,
muss man allerdings zunächst einmal die
Bereitschaft haben, die Realität zur
Kenntnis zu nehmen. Wer sich dem als
Politiker nicht stellt, verdrängt die Reali-

tät in der Hoffnung, dass das Problem
von selbst verschwindet.

Fest steht, dass die Lage in den grie-
chischen Lagern noch katastrophaler
wird, als sie es ohnehin schon war –
Sie selbst haben sich die Lager im
Herbst angesehen und gefordert, die
dort lebenden Kinder unter 14 Jahren
nach Deutschland zu holen. Kann das
jetzt noch klappen?
Das ist genau so ein Fall, in dem sich die
Bundesrepublik, aber auch Europa ins-
gesamt über Monate weggeduckt haben.
Seit wie vielen Monaten gibt es immer
wieder eindringliche Berichte über die
Zustände in Moria? Trotzdem ist nichts
oder kaum etwas passiert! Jetzt eska-
liert die Situation, und es wird immer
schwieriger zu helfen. Die Probleme
werden nicht dadurch gelöst, dass man
sie verdrängt. Hunderte Kinder leben
allein auf Lesbos unter völlig men-
schenunwürdigen Zuständen, das hat
mich sehr berührt.

Sie haben auch andere Bundesländer
und EU-Mitgliedstaaten um Hilfe in
dieser Sache gebeten. Wie ist der
Stand der Dinge?
Inzwischen haben zumindest drei euro-
päische Mitgliedstaaten sowie mehrere
Bundesländer zugesagt, jeweils einen
Teil der Kinder aufzunehmen. Es geht

also! Darum habe ich jetzt Bundesin-
nenminister Horst Seehofer erneut ei-
nen Brief geschrieben, in dem ich ihn
dringend bitte, den Weg dafür endlich
frei zu machen.

Ist es wirklich sinnvoll, die Kinder oh-
ne ihre Eltern nach Deutschland zu
holen?
Es geht um Kinder, die ohnehin alleine in
den Lagern leben müssen. Die ohne er-
wachsene Begleitung dort sind. Es kann
natürlich sein, dass einige wissentlich
von ihren Eltern in diese Lage gebracht
worden sind. Aber deswegen kann man
den Kindern doch nicht nicht helfen.

Wo genau würden Sie die Kinder un-
terbringen?
Wir haben in unseren Jugendhilfeein-
richtungen Kapazitäten, natürlich nicht
unbeschränkt, das ist nun wirklich nicht
das Problem.

Während Berlin, Bremen, Hamburg,
Thüringen und Schleswig-Holstein
ihre Forderung unterstützen, halten
sich die anderen Länder, auch SPD-
geführte Länder, zurück. Warum?
Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.
Mir wäre jedenfalls neu, dass man Hu-
manität nicht vertreten könnte in der
Öffentlichkeit. So kalt ist unsere Gesell-
schaft nicht.

„„„Viele waren nicht bereit, aus den Ereignissen von 2015 und 2016 zu lernen“Viele waren nicht bereit, aus den Ereignissen von 2015 und 2016 zu lernen“


Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) kritisiert die jahrelange Untätigkeit vieler EU-Mitgliedstaaten und fordert neue Verhandlungen mit Erdogan


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