Die Welt - 03.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

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03.03.20 Dienstag,3.März2020DWBE-HP


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DIE WELT DIENSTAG,3.MÄRZ2020** POLITIK 7


S


chon vor Monaten hat der türki-
sche Präsident Recep Tayyip Er-
dogan prophezeit, dass sich in
diesem Jahr eine ebensolche Migrati-
onskrise entwickeln werde wie 2015, als
innerhalb weniger Monate fast eine Mil-
lion Menschen irregulär in die EU ein-
reisten. Kanzlerin Merkel sieht das an-
ders. Sie sagte, dass sich das Jahr 2015
nicht wiederholen werde. Dieser Satz
habe „weiterhin seine Gültigkeit“, er-
klärte später ein Regierungssprecher.

VON CHRISTOPH B. SCHILTZ


AUS BRÜSSEL


Am Montag legte Erdogan aber nach:
Hunderttausende Flüchtlinge hätten
sich seit der Grenzöffnung auf den Weg
Richtung Europa gemacht, „bald wer-
den es Millionen sein“, tönte er. Ein
Déjà-vu? Wird sich 2015 jetzt wiederho-
len? Fest steht: Die EU hat seit dem
Sommer 2015 wichtige Lektionen ge-
lernt. Die Stimmung hat sich verändert,
und neue Maßnahmen im Kampf gegen
illegale Migration wurden umgesetzt.
Fünf Gründe, warum sich eine Situation
wie 2015 heute nicht wiederholen wird.

DIE EUPHORIE IST VORBEI


Im Sommer 2015 gab es in zahlreichen
EU-Ländern wie Deutschland, Öster-
reich oder den Niederlanden vorüber-
gehend eine Willkommenskultur, die
damals viele politische Entscheidungen
beeinflusste. Merkels Diktum „Wir
schaffen das“ resultierte maßgeblich
aus dieser Stimmung. Seitdem hat bei-
spielsweise Deutschland mehr als eine
Millionen Migranten und Flüchtlinge
integriert. Die Stimmung ihnen gegen-
über ist aber insgesamt deutlich kriti-
scher geworden, als sie 2015 war. Das be-
deutet für den politischen Alltag: Politi-
ker müssen darauf reagieren, wenn sie
wiedergewählt werden und nicht den
Aufstieg rechtsextremer Parteien wie
der AfD begünstigen wollen. Die politi-
sche Maxime ist jetzt eher Abschottung
als Öffnung.

sche Maxime ist jetzt eher Abschottung
als Öffnung.

sche Maxime ist jetzt eher Abschottung


KEINE UNSINNIGEN


VERTEILUNGSDEBATTEN MEHR


Auf die Migrationskrise 2015 reagierte
die EU-Kommission unter dem damali-
gen Chef Jean-Claude Juncker – in Ab-
stimmung mit Merkel – vor allem mit
neuen Gesetzesplänen zu einer solidari-
schen Verteilung von Flüchtlingen in
Europa. Brüssel und Berlin kritisierten
damals scharf Politiker wie den damali-
gen Außenminister Österreichs Kurz
oder Ungarns Regierungschef Orbán,
die stärker auf Grenzschließungen und
den Schutz der EU-Außengrenzen setz-
ten. Die Juncker-Kommission machte
damals Gesetzesvorschläge zur Vertei-
lung von Flüchtlingen per Quote, die
bei den EU-Ländern auf viel Kritik stie-
ßen. Das ist heute anders. Grenzschlie-
ßungen und die Verteidigung der EU-
Außengrenzen mit Härte – und sei es
mit Tränengas und Blendgranaten – und
sofortige Zurückweisungen ohne Prü-
fung von Asylbegehren sind heute weit-
gehend normal. Das gilt vor allem für
Griechenland, wo die konservative Re-
gierung von Ministerpräsident Mitsota-
kis einen viel härteren Kurs fährt als
sein Vorgänger Tsipras.
Die neue EU-Kommissionschefin Ur-
sula von der Leyen kritisiert den Ein-
satz von Gewalt nicht, obwohl ein sol-
ches Verhalten mit dem humanitären
Selbstverständnis der EU wenig zu tun
hat. Auch Merkel schweigt – anders als


  1. Die Verteilung von Flüchtlingen
    ist heute völlig in den Hintergrund ge-
    rückt. Möglichst frühzeitige Abweisung
    statt einer solidarischen Aufteilung von
    Migranten ist die Devise. Die neue euro-
    päische Flüchtlingspolitik zeigt Härte
    wie nie, sie ist aber auch herzloser ge-
    worden. Eine neue Rechtsprechung des
    Europäischen Gerichtshofes für Men-
    schenrechte, wie zuletzt zur Zulässig-
    keit von sofortigen Zurückweisungen
    von Migranten an der Grenze, unter-
    mauert diese Haltung.


VERBESSERTER SCHUTZ


DER EU-AUSSENGRENZEN


Die Mittelmeeranrainer Griechenland,
Spanien und Italien setzen an den EU-
Außengrenzen konsequent Polizisten
und Soldaten zur Abwehr illegaler Mi-
gration ein. Sie haben das jahrelang ge-
übt, sie sind gut vorbereitet und han-
deln mit dem Auftrag ihrer Regierun-
gen, die Grenzen notfalls mit Gewalt zu
verteidigen. Das war 2015 ganz anders:
Damals herrschte Chaos, Sicherheitsbe-
hörden und Politiker fühlten sich über-

rumpelt, und es gab keine klaren Anwei-
sungen oder Richtlinien. Auch Länder
wie Deutschland und Österreich sind
heute besser gewappnet. „Wir haben die
Lehren aus 2015 gezogen“, sagte Öster-
reichs Innenminister Karl Nehammer
(ÖVP). Sein Land habe nun im Fall einer
neuen Krise mehr Polizisten zur Verfü-
gung, eine bessere Einsatztaktik und ei-
ne bessere Ausrüstung. „Unser Ziel ist
es und bleibt es: anhalten und nicht
durchwinken“, sagte Nehammer.
Aber nicht nur die nationalen Grenz-
schutztruppen sind besser vorbereitet,
sondern auch die EU-Grenzschutzbe-
hörde Frontex. Die Behörde ist heute in
der Lage, innerhalb von fünf Tagen bis
zu 1500 Grenzschützer aus ganz Europa
zur Verstärkung an die türkisch-grie-
chische Grenze zu schicken. Genau das
wird jetzt passieren. Am Montag
stimmte Frontex dem Antrag Griechen-
lands zur verstärkten Hilfe zu. Inwie-
fern Frontex allerdings den harten Kurs
der griechischen Grenzschützer mittra-
gen wird, bleibt abzuwarten. Zu den
Frontex-Beamten zählen auch Experten
für Urkundenfälschung und Pässe sowie
für die Registrierung von Flüchtlingen.
Einsatzmaterial wie Fahrzeuge oder
auch Schiffe sowie Überwachungstech-
nik soll binnen zehn Tagen vor Ort sein.

DIE WESTBALKANROUTE


IST WEITGEHEND DICHT


Anders als 2015 sind die Grenzübergän-
ge auf dem Westbalkan nicht mehr of-
fen wie Scheunentore. In den vergange-
nen Jahren wurden zahlreiche Übungen
mit Grenzschützern aus EU-Ländern
absolviert, Frontex ist seit Jahren mit
eigenen Leuten vor Ort. Auch Öster-
reich ist nach Angaben von Kanzler
Kurz jederzeit bereit, auf Anforderung
Polizisten und Soldaten zum Grenz-
schutz auf dem Westbalkan zur Verfü-
gung zu stellen. Außerdem erhalten die
Regierungen in Ländern wie Bosnien
oder Albanien viel Geld von der EU, da-
mit sie Migranten nicht wie vor vierein-
halb Jahren einfach in Richtung Norden
durchziehen lassen. Es bestehen klare
Vereinbarungen, und die Schleuserrou-
ten auf dem Westbalkan sind heute
weitgehend bekannt.
Das alles zusammen führt dazu, dass
eine ungebremste Zuwanderung von
Migranten aus dem Süden in Richtung
mittel- und nordeuropäischer Länder
wie 2015 heute nicht mehr möglich wä-
re. Als dritter Schutzwall gegen illegale
Migration dienen nach der griechisch-
türkischen Grenze und der Westbalkan-
route heute Kontrollen an den deut-
schen oder österreichischen Binnen-
grenzen. Sie werden schon seit Jahren
mehr oder weniger intensiv durchge-
führt und können jederzeit ausgebaut
und durch Schleierfahndungen ergänzt
werden.

NEUE ABKOMMEN


Es bestehen heute etablierte Kommuni-
kationskanäle, schriftliche Vereinba-
rungen und klar definierte Verfahrens-
prozeduren mit wichtigen Transitlän-
dern wie der Türkei oder Libyen. Das
gab es 2015 nicht. Die Formel lautet:
Geld gegen Grenzkontrollen. Den poli-
tischen Rahmen für den derzeitigen An-
drang von Migranten in Griechenland
bildet das EU-Türkei-Abkommen vom
März 2016. Es sollte der Eindämmung
von Migration in die EU und der Ver-
besserung der Beziehungen zwischen
Ankara und Brüssel dienen, beispiels-
weise durch eine Modernisierung der
Zollunion oder verstärkte Umsiedlun-
gen von Flüchtlingen aus der Türkei
nach Europa.
Beide Seiten werfen sich nun vor, das
Abkommen verletzt zu haben. Die Stim-
mung ist in diesen Tagen aufgeheizt,
vor allem Erdogan scheint an einer wei-
teren Eskalation interessiert zu sein.
Gleichzeitig haben die Europäer aber
auch viele Stellschrauben zur Verfü-
gung, um die Krise an der türkisch-grie-
chischen Grenze schnell zu deeskalie-
ren. Und das könnte schon bald passie-
ren: EU-Kommissionschefin von der
Leyen dürfte Erdogan demnächst inter-
ne Zusagen für zusätzliche Hilfsgelder
in Milliardenhöhe zur Versorgung der
Migranten am Bosporus machen – bis-
her hat die EU seit 2016 sechs Milliar-
den Euro bezahlt. Auch die Nato könnte
versprechen, ihre Aufklärungsflüge zur
Überwachung der türkischen Grenzen
zu verstärken. Vieles spricht dafür, dass
die schrecklichen Zustände und der Mi-
grationsdruck an der türkisch-grie-
chischen Grenze in Kürze genauso
schnell verschwinden, wie sie gekom-
men sind.

Warum 2020 nicht wie 2015 ist


Der türkische Präsident Erdogan hat eine Wiederkehr


der Migrationskrise prophezeit. Er dürfte sich irren


Z


uerst knallt ein Warn-
schuss. Danach sind Stim-
men aus den dichten
Baumreihen am Ufer des
Mariza-Flusses zu hören,
der die Grenze zwischen der Türkei
und Griechenland markiert. „Fahren
Sie zurück! Kommen Sie nicht näher!
VVVerschwinden Sie“, ruft ein Mannerschwinden Sie“, ruft ein Mann
mehrmals aufs Wasser hinaus. Die sy-
rischen Flüchtlinge sind wie erstarrt in
ihrem grauen Schlauchboot und ratlos,
was sie tun sollen.

VON ALFRED HACKENSBERGER


UND MURAT BAY


AUS EDIRNE


Dann zeigt sich ein griechischer Sol-
dat demonstrativ am Ufer in Kampfuni-
form, mit Helm und einem Gewehr in
der Hand. Die insgesamt acht Passagie-
re paddeln schweren Herzens zurück
auf die türkische Seite des Flusses. Für
diese Menschen ist der Traum von
Europa vorerst geplatzt. Und es war ein
teurer Traum. Jeder hatte umgerechnet
100 Euro für seinen Platz auf dem Boot
an Schmuggler bezahlt, was für Flücht-
linge in der Türkei viel Geld ist. Sie fin-
den nur selten Arbeit, und ihr Lohn
liegt in der Regel weit unter dem türki-
scher Beschäftigter.
Die gescheiterte Überfahrt im
Schlauchboot war einer von insgesamt
10.000 blockierten illegalen Grenzüber-
tritten, die die griechische Regierung
innerhalb von nur 24 Stunden regi-
strierte. Aber damit ist es noch lange
nicht getan. Zurzeit kampieren nach
UN-Angaben rund 13.000 Flüchtlinge
nordwestlich von Istanbul an der Gren-
ze zu Griechenland. Und jeden Tag wer-
den es mehr, die ins europäische Para-
dies auswandern wollen. Der Grund da-
für ist die Öffnung der türkischen Lan-
desgrenzen für alle Flüchtlinge. Die Re-
gierung in Ankara hatte die freie Passa-
ge in die EU am Donnerstag nach dem
Tod von mindestens 36 türkischen Sol-
daten nach einem Luftangriff in Idlib
bekannt gegeben.
In der syrischen Provinz kämpft die
Türkei gemeinsam mit radikal-islami-
schen Rebellenmilizen gegen das Assad-
Regime und dessen mächtigen Verbün-
deten Russland. Seit zwei Wochen eska-
liert der Konflikt, und es wächst die Ge-
fahr einer direkten Konfrontation zwi-
schen der Türkei und Russland. Mit der
Öffnung der Grenzen macht der türki-
sche Präsident Recep Tayyip Erdogan
seine Drohung wahr, den mit der EU
ausgehandelten Flüchtlingspakt aus
dem Jahr 2016 platzen zu lassen. Aber
der Plan des Präsidenten geht noch

nicht auf. Nach offiziellen Zahlen der
Türkei sollen in den letzten Tagen
76.000 Flüchtlinge nach Griechenland
gelangt sein. Aber das entspricht nicht
der Realität. Auf der griechischen Mit-
telmeerinsel Lesbos sind etwas mehr als
500 Migranten angekommen, die die
türkische Küstenwache einfach durch-
winkte. Im Gebiet des Mariza-Fluss, der
auf 100 Kilometer die Türkei von Grie-
chenland trennt, waren es nicht mehr
als 200 Migranten, die die Grenze über-
queren konnten.
Unter den Flüchtlingen wachsen Fru-
stration und Ärger auf Erdogan. Sie füh-
len sich als Spielball seiner Politik.
Denn er hat ihnen Hoffnung auf ein bes-
seres Leben in Europa gemacht, aber
das stellt sich immer mehr als Seifen-
blase heraus. Die Flüchtlinge kommen
zwar über die türkische Grenze, aber
weiter auch nicht. Auf griechischer Sei-
te empfangen sie Bereitschaftspolizi-
sten in Kampfmontur, mit Schildern,
Wasserwerfern und Tränengas.
Der griechische Grenzübergang Ka-
stanies am Mizra-Fluss ist wie eine Fe-
stung mit Eisenstangen und Stachel-
drahtrollen ausgebaut. Seit zwei Tagen
wird er von Hunderten von Flüchtlin-
gen belagert. „Wir kommen rüber, wir
kommen rüber“, skandieren sie, aber
der Schlagbaum öffnet sich nicht für sie.
In ihrer Frustration versuchen sie im-
mer wieder, die Grenze zu stürmen. Sie
ziehen den Stacheldraht von der Straße,
zünden Reifen an und werfen Steine.
Als die griechische Polizei mit Tränen-
gaskartuschen schießt, laufen die über-
wiegend jungen Flüchtlinge in den an-
grenzenden Wald, in dem sie auch kam-
pieren. Einige haben sich improvisierte
Zelte gebaut.
Andere schlafen einfach auf dem Erd-
boden, und das trotz der bitteren Win-
terkälte. Abends brennen im Wald wär-
mende Lagerfeuer. Aufgeben will nie-

mand. „Wir werden rüberkommen“, be-
teuert jeder von ihnen. Auch Moham-
med will nicht aufgeben. Schon 2012
kam er aus Syrien in die Türkei. Er
stammt aus dem Kurdengebiet Afrin,
der Nachbarregion der umkämpften
Provinz Idlib. Mit seiner Frau und den
beiden Töchtern ist er für ein Nacht-
quartier in die zwei Kilometer entfernte
Kleinstadt Karaagac marschiert. Die Fa-
milie will in der örtlichen Moschee
schlafen. „Ich war schon 2015 an diesem
griechischen Grenzübergang“, beginnt
der 40 Jahre alter Familienvater zu er-
zählen. „Aber damals bin ich nicht rü-
bergekommen, als so viele andere sich
auf den Weg nach Europa und vor allen
Dingen Deutschland machten.“
Er habe also schon eine Chance ver-
passt. Diesmal will er die Gelegenheit in
jedem Fall nutzen. „Ich werde nicht
eher von hier weggehen, bis sie die
Grenze öffnen“, behauptet er steif und
fest. „Denn es gibt keinen Ort mehr, an
den wir zurückkehren könnten, unsere
Wohnung in Istanbul ist aufgegeben.“
Seine Frau und die sieben und vier Jahre
alten Mädchen wollen unbedingt nach
Deutschland. „Dort können sie endlich
zur Schule gehen“, sagt Mutter Susan
mit großen, hoffnungsvollen Augen. „In
der Türkei konnten sie das nicht, weil
man ihnen keine Ausweise ausstellen
wollte, nicht einmal übergangsweise.“
Ihre Mädchen, Angela und Juliana, sind
mit Mützen, Schal und dicken Jacken
fest eingemummt. Sie sitzen auf dem
Schoß der Mutter und lachen übers gan-
ze Gesicht.
Einen Platz in der Moschee von Ka-
raagac sucht auch der 20-jährige Ibra-
him aus Aleppo, der sich weit weniger
kämpferisch zeigt. „Wenn das nicht
funktionieren sollte mit der Grenze,
was sollen wir dann nur machen?“, fragt
er nachdenklich. „Wohin sollen wir nur
alle gehen?“
Vor der Moschee braust plötzlich ein
Wagen heran, aus dem zwei Männer
steigen und ihn mit einer türkischer
Flagge bedecken. Sie geben sich als Mit-
glieder der Grauen Wölfe aus, einer be-
kannten rechtsradikalen Organisation.
Die zwei Männer beschimpfen Ibrahim
und rufen, dass mit ihm alle Syrer aus
der Türkei Richtung Griechenland ver-
schwinden sollten. „Ich weiß wirklich
nicht, was der von mir wollte“, sagte
Ibrahim sichtlich irritiert, nachdem die
Männer wieder in ihren Wagen gestie-
gen sind und davonbrausen.
Im Zentrum von Karaagac sind am
späten Sonntagabend noch viele Men-
schen unterwegs. Am Straßenrand
wird über die Ereignisse des Tages dis-
kutiert. Aber die wichtigste Frage, die

sich alle stellen: „Wann können wir
über die Grenze?“ Frustration und Är-
ger bahnen sich ihren Weg. Als sie
mehrere türkische Journalisten erken-
nen, gibt es kein Halten mehr. „Euer
Präsident Erdogan hat offene Grenzen
versprochen, aber die sind nicht offen.
Warum hat er gelogen?“
Wenig später treffen mehrere Fahr-
zeuge der Polizei ein. „Ihr könnt nicht
im Ort bleiben“, sagt ein Uniformierter,
der keinen Namen angibt, aber sich als
Polizeichef der Stadt bezeichnet. „Ihr
müsst die Busse nehmen, die euch an
die Grenze bringen.“ Damit meint er
nicht den Grenzübergang, sondern den
illegalen Weg über die grüne Grenze.
„Wer nach Griechenland will, der muss
zum Fluss oder über die Felder.“
Karaagac ist voll von Bussen. Die
einen kommen aus Istanbul und sind
voll mit Flüchtlingen. Die anderen fah-
ren leer in die türkische Hauptstadt zu-
rück, um neue Flüchtlinge zu holen. Un-
zählige Taxis bieten ihre Dienste an,
und das zu völlig überteuerten Preisen.
Wer zurück nach Istanbul will, muss das
Drei- und Vierfache des Normalpreises
bezahlen. Ein anderes einträgliches Ge-
schäft der Taxifahrer: Sie bringen
Flüchtlinge zu Schmugglern in die Dör-
fer entlang der Grenze, die dann Boote
verkaufen oder Schleichwege nach
Griechenland kennen. Am Straßenrand
werden Decken verkauft, Zigaretten,
Schokolade und Chips. Die Flüchtlinge
sind zum Geschäft geworden.
Unterdessen spitzt sich der Konflikt
in Idlib weiter zu. Die Türkei hat am
Sonntag zwei Kampfjets der syrischen
Armee abgeschossen. Diese holte im
Gegenzug mehrere türkische Drohnen
vom Himmel. Ankara hat eine Militärof-
fensive in Idlib gestartet, die „Früh-
lingsschild“ heißt. Nach Angaben der
Syrischen Beobachtungsstelle für Men-
schenrechte wurden in den Provinzen
Idlib und Aleppo mehr als 70 syrische
Regierungssoldaten und verbündete
Milizionäre getötet. Zunächst seien bei
Angriffen mit Kampfflugzeugen, Droh-
nen und Artillerie 45 Regimesoldaten
getötet worden, bei späteren Angriffen
26 weitere Kämpfer.
Die Operation sei erfolgreich im Gan-
ge, teilte der türkische Verteidigungs-
minister Hulusi Akar mit. Seinen Anga-
ben zufolge will die Türkei aber eine
Konfrontation mit Russland vermeiden.
Nach dem Abschuss der zwei Maschi-
nen hat die syrische Regierung den
Luftraum in Idlib gesperrt. „Jedes Flug-
zeug, das unseren Luftraum verletzt,
wird als feindlich eingestuft und abge-
schossen“, hieß es in einem Statement
der syrischen Armee.

WWWar schon 2015 hier und hofft nun, in die Europäische Union zu kommen: Mohammed mit seiner Familie an der türkisch-griechischen Grenzear schon 2015 hier und hofft nun, in die Europäische Union zu kommen: Mohammed mit seiner Familie an der türkisch-griechischen Grenze


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URAT BAY

ZZZwischen den wischen den GRENZEN


Zehntausende


folgen dem Lockruf


Erdogans, die


Grenzen seien offen.


Doch griechische


Soldaten


demonstrieren


Härte gegenüber


den Ankömmlingen


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