Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

SEITE 10·SAMSTAG, 14.MÄRZ2020·NR. 63 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


E


sgibtBüche r, die wollen lang-
samgelesenwerden, manche
auchinSchleifen, andere wie-
derum treibenzur Eile. „Oreo“
istein Buch,das si ch am bestenineinem
Rutschliest, zügig,aber nichtzuschnell.
Unddann noch einmal in Schleifen. Weil
es einenGrooveund eineinnere Span-
nung hat, die sicherstauf derganzenStre-
ckemitteilen, eine erzählerische Zwangs-
läufigkeit (undunter vielen anderenauch
eineparodistische klassische Sagen-
referenz), die inden sprunghaftaneinan-
dergeheftete nKapitelnund kurzen über-
bordenden Sequenzen,Sketchenfast und
kuriosenVorkommnissen, unterzugehen
droht,wenn dieseisoliertgelesenwer-
den.Alsolos! Es istlustig. Sehr lustigso-
gar, irrwitzig,albern, zumStaunen, Ap-
plaudieren, Luftanhalten. Unddas zwei-
te,das Schleifenlesen, empfiehlt sich,da-
mit man nichtsverpasst.Dennesgibt
kein zweites Buch wie dieses.Nicht ein-
mal ein zweites vonFranRoss.
Oreo,sogenanntnachdem Keks,der
außen schwarzund innenweiß ist, istein
rassistisches Schimpfwortfür kulturelle
Hybride.Und wasist Oreo,die eigentlich
Christine heißt,Tochter einerSchwarzen
und einesweißen Judenaus Philadel-
phia, anderesals dies? „Oreo“ feiertdas.
Dies es Buchist ein einziger Jubelüber
die Tatsache, dassReinheiteinKonzept
vonvorgesternist und allevermischten
SchattierungenvonHautfarbenund kul-
turellen Prägungen und Aneignungenein
Grund zumFeiernsind. DieGeschichte,
in derdavon erzählt wird, istdie einerSu-
che. DennOreos Vaterhat dieFamilie
frühverla ssen, nicht ohne seinerTochter
ein Geheimnis zu hinterl assen, das sie
nur lösenkann,wenn sieihn findet.Also
macht siesich, kaum sechzehnjährig, von
Philadelphiaaus auf denWeg nach New
York auf Vatersuche. Die Mutter istübri-
gens auch anderswo unterwegs.Esist die
Großmutter,bei derOreoaufwächst,
Louise, eine phantastischeKöchin, deren
Rezeptedie Autoringroßzügig mit ihrer
Leserschaft teilt.
Die Sage, die hier satirischvariiert
wird, istnatürlichdie vonTheseus.
Wobei Theseus hier eben Oreo ist,
jüdisch,schwarz,weiblich, eine Super-
heldin der Sprache, des Witzes, der
Clevernessund auchdes Kampfsports,
bewaffneteinzigmit einemkünstlichen
Jungfernhäutchen aus Elasticium,an
demalleAngreiferabprallen.AmEnde
gibt einAbschnittübe r„DieFiguren
und ihreDarsteller“ alles darüber preis,
wasmehr istals Anspielung und
deutlichwenigerals eine Hommage.
Das klingt nacheinergradlinigen
Geschichte, istesaber nicht,weil Fran
Ross,die dieseswahnsinnigeBuch
geschriebenhat und leiderviel zu früh
starb, so dassdies ihr einziges und noch
dazudamalsvölligerfolglosblieb, viel zu
große Lust an derSprache hat unddaran,
herumzuprobieren, wiejiddischer und
schwarzer Slang undPhantasiesprache
und einfachdurchgeknalltesWortgetüm-
mel sichauf der Seite zueinanderverhal-
ten. Das klingtdann so:
„NacheinigerZeit drehte sie sichzu
Oreo undJimmie C. und sagte: ,MeinKa-
terist ein Weichei.‘ Jimmie C. hattegera-
de mal wiederdie F inger in den Ohren,
verstand vonMrs.Dockeryseinfach em
Hauptsatz nur:,Kataweichei‘ undwarent-
zückt.Sofor terklärte er denwunderschö-
nen neuen Ausdruckzum Stammwort sei-
ner neuenWortstammsprache. ,Tscha-ki-
ki-wah,kataweichei‘ singsangelteerkünf-
tig Fremdengeheimnisvoll entgegen.
,Fic k-fack -Läusekack!‘ Mitden Jahren
lernteOreoden Wert vonJimmie C.s

Tscha-ki-ki-wah-Idiom zu schätzen. Es
warebenso gut zu gebrau chen wie
schwarzer Slang.Wenn zum Beispiel ir-
gendwelche Ladenbesitzerinihr Jiddisch
oder Italienischverfielen ,ließ sich damit
gut kontern: ,AproposMuttersprache –
versuche nSie malrauszukriegen,Sie
Mutter,wasdasbedeutet.WennSie auf
ein Wort kommen,drehen wir’ssolange
durchdie Mangel, biseswasanderesbe-
deut et.“
Womit klar ist, dies istein Roman
auchüber die Sprache ist. Ebenfalls
klarist,dassPiekeBiermann einWun-
der derÜbersetzungskunstvollbracht
hat.Vollkommenverdienthat sie dafür
am Donnerstag den Preis für die beste
Übersetzung der Leipziger Buchmesse
erhalten.Werhättegedacht, dassdie
deutsche Sprachefolgende Bezeichnun-
genfür das männliche Geschlechtparat
hat:„Als eingefleischteSchritt-Kundle-
rinhattesie einmaleineListe vonSport-
lertypenmit denRubriken ,Kapaune‘
und,Küken‘ angelegt. Die Kapaune (zu-
meist Großwildjäger undKegler) wa-
renMänner,deren Hornmit einem der
folgenden (oder ähnlichen) Begriffen
bezeichnetwerden kann: Pimmel,
Schwanz, Specht, Ding, Pillermänn-
chen, Rute,Gehänge, Schmendrick,
Potz, Schock. Die Küken(Turner,
Schwimmer)glänzten miteinem der
folgenden: Dödel, Schwengel,Stange,
Prügel,Bohrer.(...) Kirks Hengstdage-
genwar vonanderemKaliber,erhätte
glatteinenZeppelin alsKondom neh-
menkönnen.“
Abgesehen vondem Wortwitz, der
überschnappenden Kreativität imUm-
gang mit tradiertenErzählungenund
Erzählformen istdieses Buchvor allemei-
nes: derBeleg dafür, dassdie Vorstellung,

amerikanische„schwarze“ Literatur
habe nur eineTraditionslinie,nämlich
dieSlav eNarratives,und handele des-
halb aufeine oder andereWeise(ge-
spickt mit Bibelzitaten und Riffsauf den
Blues) immervonSklavereiund Unter-
drüc kung,entschieden unterbelichte tist.
Wasnatürlich damit zusammenhängt,
dass dieses Buch (undandere,die viel-
leicht nochauftauchen)bishervon einem
größeren Publikum nicht zurKenntnisge-
nommen wurde. In denVereinigtenStaa-
tennicht ,woesbis zur Jahrtausendwen-
de eineArt Untergrunddaseinführte und
2015 „wiederentdeckt“,das heißt, wieder
aufgelegt wurdeund Begeisterungsstür-
me entfachte,und in Deutschland auch
nicht,wo es zum ersten Malerscheint,
undzwarimselbenVerlag,der auchfür
die RenaissancevonJamesBaldwin in
Deutschlandgesorgthat.
Es is tdie urbane,totalvermischteSati-
re jenseits aller Identitätsklischees (die
lustvoll auseinandergenommenwer-
den), die hier soverspätet zu entdecken

ist. Danzy Sennaschreibt in ihremVor-
wort zur amerikanischen Ausgabe,als
sie „Oreo“ zum ersten Mal in denNeunzi-
gern als Teil einer jungenKünstlergene-
ration in Brooklyngelesen habe, sei es
wie einTraum aus der Zukunftzuihnen
gekommen, die allesamt „eineSchattie-
rung vonSchwarz waren, die aus demZu-
sammenprall verschiedenartiger Symbo-
le und Signifikantengeformtwar.Da
warnichts Authentischesan uns“–und
„Oreo“ eine willkommene Erweiterung
des schwarzenKanons.UndMax Czol-
lek schreibt in seinemNac hwortzur deut-
schenAusgabe,Fran Ross habe auchdie
jüdischeLiteraturgeschichteeinengro-
ßen Schrittvorangebracht. Gibt es ein
besseres Argument, sofortmit dem Le-
sen anzufangen? VERENALUEKEN

Fran Ross: „Oreo“.Roman.
Ausdem amerikanischen
Englischund mit
AnmerkungenvonPieke
Biermann. Mit einem
Nachwort vonMax Czollek.
Dtv,München 2019.287 S.,
22,– €.

Falls Totgesagtewirklichlänger leben,
braucht man sichumdie Demokratiekei-
ne Sorgenzumachen. Denn dasAufkom-
men desPopulismus bietetnur das jüngste
Untergangsszenario in einer langenReihe
vonSelbstanklagen.Scho ninder imNach-
hinein harmlosenZeit desKalten Krieges,
als Jean-François Revel 1983in„So enden
die Demokratien“die demokratische Sorg-
losigkeitgegenüber ihrentotalitärenTod-
feinden beklagte, gingesumdie Vermeid-
barkeit des Niedergangs, also um die span-
nungsreiche Gemütslage, die Demokratie
einerseitsfür so starkzuhalten, dasssie
sichnur selbstbesiegenkann, einen sol-
chen politischen Selbstmordandererseits
aber auchstets vorsichzusehen.
DavidRunciman, Professor fürPolitik-
wissenschaftander Universität Cam-
bridge, hat bereits 2013 in seinem Buch
„The ConfidenceTrap“ dieseKonstella-
tionan siebenStationen seit dem Ende
des Ersten Weltkriegs nachgewiesen.
Underhat dabeiinstruktivgezeigt, dass
geradedas erfolgreiche Krisenmanage-
mentvonDemokratien in diegefährliche
Vertrauensfalle führt, zuglauben, in je-
der Krise sei ein Durchmogeln möglich.
Sein neues Buchknüpfthier a nund pro-
blematisiert, dassdie heutigen Demokra-
tien zustarkauf historischbekannteAn-
zeichen des Scheiternsfixiertseien und
dadurch neuartigeGefährdungen überse-
henkönnten. Der Preis für historisches
Bewusstseinwäre demnachBlindheit für
die Gegenwart.


Runcimanglaubt nicht, dassdie dreißi-
gerJahredes zwanzigstenJahrhunderts
sichwiederholenkönnten, und zwar des-
halb nicht,weil diewestlichen Gesell-
schaftender Gegenwart „zu reich, zu alt,
zu vernetzt“ und zukonzentriertauf die
historischenFehler seien.VomEnde der
Demokratie aus neuartigen Gründen wür-
den wir daher überrascht.
Um diesem Schicksal zu entgehen,re-
konstruiert Runciman in dreiKapiteln die
LogikvonPutschen,Katastrophenund
tech nologischerÜbernahme, bevorerdie
Fragestellt, ob esetwasBesseres als die
moderne Demokratie gibt.Abschließend
entwirft er das Zukunftsszenario, dassam


  1. Januar 2053 einchinesisch-stämmiger
    Präsident derVereinigtenStaatenverei-
    digt werden wird, die Exekutivmacht des
    Präsidentenaber starkbeschnittenwor-
    den und die Entscheidung über einen
    Atomwaffeneinsatz einem mehrköpfigen
    Gremiumvorbehalten ist.
    Als Ausklang des Buches istdas unter-
    haltsam, aber sein durchgängiger Plauder-
    tonirritiertebenso wie dieweitschweifi-
    ge und oberflächliche Bezugnahme auf
    Weltmodelle und Untergangsszenarien,
    die häufiger der Belletristik als derFachli-
    teratur entnommenwerden. Das führtne-
    benstilistischen auchzuinhaltlichen
    Fragwürdigkeiten, wiegleichimersten
    Satz, in dem es heißt, immer sei klargewe-
    sen, „dassdie Demokratie irgendwann
    nur nochinGeschichtsbüchernzufin-
    den“ sei, denn nichtswähre ewig. Dabei


begleitet die Autokratie dochdurchaus
die gesamteMenschheitsgeschichte.Wie
Runciman darauf kommt, „eine ausge-
sprochene Apokalypsemüdigkeit“festzu-
stellen, alsgebe es nicht dieFridays for
Future, und denVereinigtenStaaten zu at-
testieren, „nachallen historischen
Maßstäben sicherkeine zerrütteteGesell-
schaft“ zu sein, bleibt unerfindlich.Noch
irritierender sindetwadie Charakterisie-
rung des französischen Präsidenten als
„Mischung aus de Gaulle,Ludwig XIV.
undZuckerberg“ sowie derUmgang mit
dem ThemaVerschwörungstheorien. So
bezeichnetRunciman einerseits Zweifel
an dem Putschversuchinder Türkeiim
Juli 2016 alsVerschwörungstheorie, um
andererseits zu behaupten, die „hartnä-
ckigstenVerschwörungstheoretiker“ ar-
beiteten beimStaat, seien besser moti-
viertals die Bürger, ihreGeheimnisse zu
hüten, und spionierten„uns“ in einem
„Überwachungsspiel“ aus.Undsicher ist
es nicht nur auf die jeweiligen politischen
Systeme zurückzuführen, dassdie Wohl-
standsbilanz des autoritären China besser
istals diejenigedes demokratischen In-
dien. EinWeiteres tut einestellenweise
liebloseÜbersetzung, die manchmal auch
Sinnentstellungen produziert.
Setzt man solche Ärgernisse beiseite,
liestman Runcimans Buchaber mit eini-
gemGewinn. Das gilt zunächst für dieGe-
lassenheit und Differenziertheit, mit der
der AutorProblemlagen analysiertund
historischeVergleiche anstellt.Sorefor-

mulierterdie Einsicht NiklasLuhmanns,
dassjeglicheReduktionvonKomplexität
stetsnur durch den AufbauweitererKom-
plexität möglichist,Demokratien also
nicht einfachregredierenkönnen.Über-
haupthält er die 1930er Jahrenicht für
den richtigenVergleichmit der heutigen
Situation, erst rechtnicht in Ländernwie
Deutschland, die diese historische Erfah-

rung reflektiertenund mittlerweile in ei-
ner unvergleichbaren ökonomischen und
soziodemographischen Lageseien.Und
gerade in punctopopulistischerPropagan-
da sei das ausgehende neunzehnteJahr-
hundertder wichtigereVergleichszeit-
raum.
Runciman betont, dassStabilität,Wohl-
stand,Frieden undFehlerfreundlichkeit
so großeVorzügedemokratischer Syste-
me seien, dassdiese sogar in schweren
Krisen für ihreBürgeranderen Systemen
vorzuziehen sind. „Keine Demokratie ist
je zu einer Militärregierung zurückge-
kehrt, nachdem das Bruttoinlandspro-
dukt proKopf über 8000 US-Dollar lag.“

Unddassheutigewestliche Gesellschaf-
tenanDynamikverloren haben und jün-
gere GenerationenvomErbe ihrer Eltern
und Großelternzehren, bedingederen sa-
turierte Friedlichkeit, meintRunciman:
„Ein langsames demographischesSter-
ben mag einer derFaktoren sein, die die-
se Demokratie am Leben erhalten. Anstel-
le einesexplosivenWandels tritt Entro-
pie alsNormalzustand derPolitik.“
Runciman orakelt allerdings auch, die
Demokratiekönne im 21. Jahrhundert
„von der breitgestreuten Erfahrung politi-
scher Wut zerrissen“ werden, zumal sie
nicht mehr ausgebaut, sondernnur mehr
bewahrtwerdenkönne. Dieser Verlust
utopischen Innovationspotentials biete
dem „Feuer populistischer Frustration
Nahrung“ und leiste einerwärmenden
Identitätspolitik Vorschub. Runciman
hält es für eineregelrechteDialektik des
Erfolgs derwestlichen Demokratien, dass
sie friedliche Gesellschaftenhervorge-
bracht haben, diekeine Kollektiverfah-
rungen mehr bieten, wie sie früher durch
Kriegeentstanden sind, so dassder Popu-
lismus in dieseLückestoßen kann.
Konkretmacht derAutoreine Hand-
voll ernsterGefährdungen der Demokra-
tie aus.Zunächstbetont er unter Beru-
fung auf den JuristenBruce Ackerman,
dassesinden VereinigtenStaaten imver-
gangenen halben Jahrhundertzueiner
sukzessiven Ausweitung der Exekutiv-
machtgekommen und auchandernorts
die Gewaltenteilung bedroht sei.Techno-

logi sche Entwicklungen wie der Einsatz
des sogenannten Microtargeting, mit dem
Wählerprofilegenauestens erforschtund
gezielteEinflussnahmen organisiertwer-
den könnten, führtenzueiner Verletzung
des demokratischen Prinzips desgleichen
Stimmengewichts. Das 21. Jahrhundert
könne zudem „als das goldeneZeitalter
der Verschwörungstheorien erscheinen“,
da diese nicht mehr nuretwasfür Verlie-
rerseien, sondern, zumal in denVereinig-
tenStaaten unterTrump, zu einemRegie-
rungsinstrumentavanciertseien und „Pa-
ranoia auf allen Seiten“förderten. Dazu
passtesdann, dasssogar die demokrati-
sche Selbstverständlichkeit, gegebenen-
falls die eigene Minderheitenposition zu
akzeptieren, inFragegestellt wird.
Das Lieblingsfeindbild desAutors gibt
aberFacebook ab. MarkZuckerbergsei
gerade wegenseiner guten, durchaus
nicht antidemokratischenAbsichten eine
größereBedrohung für die amerikani-
sche Demokratie als DonaldTrump.Was
er damit meint, erläutertRunciman am
BeispielTwitter :„Wirlynchen nieman-
den mehr.Wir verbannen niemanden
mehr.Außer aufTwitter.“ DasNetzwerk
komme damit der antiken Demokratie
am nächsten: „wankelmütig,gewalttätig
und ermächtigend“; und es sei sogar noch
gefährlicher,weil seine destruktiven Züge
nichtvonräumlicherNähe oder persönli-
cher Bekanntschaftgebremstwürden. Et-
wasBesseres als diesegefahrenvolle und
gefährdete Demokratie siehtRunciman
aber nicht. KARSTEN FISCHER

Wasfür eine wunderbareSprache! Ein
literarischer Meisterist hier amWerk,
der nicht nur perfekteSpannungsbögen
baut, die so luftig wirken, als entstün-
den sie erst unter den Augen desLesers,
sondernder auchmit scheinbar leichter
HandSprachbilder skizziert, deren prä-
ziseDetails sichsofor teinprägen und
deren Klang nochlangenachhallt.
In seinem ersten Roman „Der zerris-
seneBrief“ erzählt Hanns Zischler die
erstaunliche Geschichteeines jungen
Mädchens aus einem fränkischen Dorf,
das allein nachNew York aufbricht, um
der Engeseiner HeimatTreuchtlingen
zu entfliehen–woauchZischler auf-
wuchs. 1899wardieseReise eingroßes
Wagnis, noch dazufür eine alleinstehen-
de jungeFrauwie Pauline. DochMax,
der sienicht nur auf diese Idee bringt,
sondernauchentschiedenfürihreVer-
wirklichung sorgt–hartnäckig spricht
er vonNeu York –, hatvorgesorgt:Erbe-
sorgt ihr das Hotelund eine Arbeitsstel-
le im Botanischen Garteninder Bronx.
ZurückkommtPaulineals eineAndere,
und genau daswollteMax erreichen.
Mit großer Leichtigkeit und in einer
hochemotionalen, passagenweise kunst-
voll unterkühlten Sprache erzählt der
Roman voneinem geistigen Erwe-
ckungserlebnis. Denn Max, derReisen-
de undSammler,der Fotograf und Philo-
soph, träumtvonPauline, in die er sich
auf einem Dorfrummelplatz verliebt,
als seinerReisegefährtin–ein kühner
Planund eine Zumutung, die das junge
Mädchen zunächsthoffnungslosüber-
fordern. Als vierundachtzigjährigealte
Dameblättert Pauline das Archiv ihres
Lebensvorihrer ZiehtochterElsa auf
(diewir in manchenFacetten schon aus
der Erzählung „Das Mädchenmitden
Orangenpapieren“,2014, kennen).Aus
diesemPapierlabyrinth, den dickenPa-


cken vonBriefen,Reisejournalen und
Photosbeginnt derWind der Erinne-
rung zuwehen und schwillt schnell zu ei-
nem Sturman, der Paulineumund um
wirbelt.Denn Max, „mein Plusquamper-
fekt“ nennt ihnPauline schelmisch,war
ein schwieriger,obsessiver und in sei-
nen letzten Jahren schwer melancholi-
scherMann.Sein„Raumhunger“trieb

ihn bis zu denVulkanenKamtschatkas
und an den FlussAmur,der Russland
und Chinaverbindet.Undwoimmerer
Schamanenfand, befragte er sie undstu-
dierte ihreaufwendiggestalteten Mas-
ken. Paulinehaben dieseKunstwerke
tief beeindruckt, besonderseine Fuchs-
maske, in der sie das GesichtvonMax
zu sehenglaubt.
Als intensiver,aufwühlender Dialog
istdieserRoman erzählt, der durch die
Jahrespringt und denverschlungenen,
willkürlichen Wegender Erinnerung
folgt.Als Modell und sporadischeWege-
kartedienen die Schmetterlingspapiere,
die Biologiestudentin Elsaaus einemPa-
pierkorb der Zoologischen Sammlung
gefischt hat:leerePapierbriefchen, die
aus allemgefaltet waren, wasSammler
auf Expeditionen eben zur Handhaben,
Telegramme,Zeitungsausriss e, zer-
schnittene Briefe, willkürlich herausge-
risseneRomanseiten, auf die derFor-
scher ArnoldSchultze winzigeDatenge-
kritzelt hatte.Umdie Überrest eseiner

Sammlung handelt es sich hier,die
Zischler in seinerForschungs- und
Abenteuergeschichte„Der Schmetter-
lingskoffer“ (2010)beschrieben hat.
Elsasunglückliche Liebesgeschichte,
wegender sieratsuchend zu Pauline
kam, und derenReise- und Liebesobses-
sion beginnensichwechselseitig zu er-
hellen und auf einetröstliche, liebevolle
Weise zu relativieren.Wiebei PéterNá-
dás sind auchhier die „aufleuchtenden
Details“ Wegmarkenund kleineFeuer-
werkezugleich. In einer besondersein-
drucksvollen Szene schildertPauline
den Fund einerversteinerten Libelle im
Steinbruch ihres Dorfes, ein Moment
staunenden Schweigens,währendrings-
um die „Prüfhämmerchen denSteinen
matteund helleTöne (entlockten), mo-
notonbegleitet vomZwickender Stein-
zangen“.
In diesem zentralen Kapitelversam-
melt derAutoreinfühlsam alle Beson-
derheitenseiner wissenshungrigenund
begabten Heldin, die früh lesen, schrei-
ben undgärtnernlernt und sichals jun-
gesMädchen sofortindiesen Maxver-
liebt, derganz andersist als alle Dörf-
ler.Schon beiihrer ersten Begegnung er-
zählterihr so anschaulichvon denWei-
tenSibiriens und den Goldwäschernam
Amur,dassihr auchdie heimische Land-
schaftplötzlichfremd undexotischer-
scheint.
Eine wunderbarzarte und zugleichei-
gensinnigeFigur istdiesePauline,die
mit ihremZauber mühelos denganzen
Roman trägt.Momentweise wirkt sie
ätherisch in ihrem farblos-farbigenRe-
genwolken-Kimono, dann wiederexzen-
trisc hund ungebärdig, fast wild. Dank ih-
rerleidenschaftlichen undfaktengesättig-
tenErzählungen wirddie Vergangenheit,
die in ihr aufbricht, zu einerüberwälti-
genden Gegenwart,die nicht nur Elsa,
sondernauchden Leservollkommen in
ihren Bann zieht. NICOLEHENNEBERG

DavidRunciman:
„So endetdie Demokratie“.
Ausdem Englischen von
Ulrike Bischoff.
CampusVerlag,Frankfurt
am Main/NewYork2020.
232S., geb., 19,95 €.

Hanns Zischler:
„Derzerrissene Brief“.
Roman. GalianiVerlag,
Berlin 2020. 272 S.,
geb., 20,– €.

MarkZuckerbergist nochgefährlicher als Donald Trump


Entgehen uns über historischenVergleichen dietatsächlichen Bedrohungen? DavidRunciman denkt über Gefahren für die demokratischePolitik nach


Sturmder Erinnerung


Eine fränkische Dörflerin inNewYork: Hanns ZischlersRoman „Der zerissene Brief“


Abbildung aus Hanns Zischler

,Hanna

Zeckau„Der Schmetterlingskof

fer“ (Galiani Berlin)

Authentischgibt’s nicht

Auch einen
solchen
Schmetterling
brachteArnold
Schultze
nachEuropa.

Hochverdient

ausgezeichnetmit dem

Übersetzerpreis der

LeipzigerBuchmesse:

„Oreo“vonFranRoss

Sie schrieb nur dieses
eine Buch, aber das
hatte es in sich:
Fran Ross
(1935 bis 1985)
FotoCourtesy of the
Fran Ross Estate
Free download pdf