FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Die Lounge SAMSTAG, 14.MÄRZ 2020·NR.63·SEITE 19
W
ie schnell das jetzt dochal-
les ging: Eben nochwar die
Corona-Krise ein Problem
der anderengewesen.Wirsahen die
Bildervonden Zuständen in China
und später in Italien, und ja, wir ha-
ben schon mal ein bisschenToiletten-
papier und Mehlgehortet–manweiß
ja nie. Dochsorichtig besorgtwaren
wir Deutschen langeZeit docheigent-
lichnicht gewesen; auchnicht als die
Mitarbeiter desAutozulieferersWe-
basto in Quarantäne mussten. Man
ging ins Kino, zum Sport, auf Dienst-
reise oder einfachmal nett essen.
Undjetzt das! Die Börsentaumeln,
Arbeitgeber schickenihr Personal
wahlweise in Kurzarbeit oder ins
Homeoffice, und die Bundeskanzle-
rinhöchstselbstermahnt dazu, unnö-
tigeSozialkontaktezuvermeiden.
Deutschland bleibt zu Hause, will-
kommen im Krisenmodus.
WieBotschaftenauseiner ande-
renZeit erscheint einem da die eine
oder andereNachricht, dietägl ichin
einer Wirtschaftsredaktion so ein-
geht und sichmit dem Blickinden
ökonomischenRückspiegel beschäf-
tigt.Vor allem aus demStatistischen
Bundesamt aus Wiesbadenkommt
die eine oder andereBilanz des Jah-
res2019, die einen direktwehmütig
werden lässt.
Da istzum BeispieldieseNach-
richt: Die Zahl derUnternehmensin-
solvenzen istimJahr 2019 um 2,9 Pro-
zent niedriger als 2018, und auchdie
Zahl derVerbraucherinsolvenzen ist
um 7,3 Prozentgesunken. Eine schö-
ne Botschaft,wenn man nichtgerade
Insolvenzverwalter ist. Denn deren
Dienste sind schon seit Jahren immer
wenigergefragt, dank des scheinbar
ewigenAufschwungs ging esUnter-
nehmen wieKonsumentenfinanziell
stetig besser.Das hat auf Anwaltssei-
te zu einer ordentlichenKonsolidie-
rung des Marktesgeführt. Bleibt zu
hoffen, dassdie Übriggebliebenen
nun leistungsfähiggenug sind, für
das,wasauf sie zukommenkönnte.
Denn dieRegierung hat zwar zuge-
sagt, dassamVirus kein Arbeitgeber
zugrunde gehen soll.Aber sicher sein
kann man sichdaleider nicht.
Ebensowehmütigkannmanwer-
den,wenn dieStatistikervermelden,
dassdie Beschäftigung im Handwerk
allgemein noch einmal um 0,3 Pro-
zent und speziell imAusbaugewerbe
um 1,6 Prozentgegenüber 2018 zuge-
legt hat–trotz eines jahrelangenAuf-
schwungs am Arbeitsmarkt, der in
zahlreichenRegionen Deutschlands
zu Vollbeschäftigung undFachkräf-
teengpässengeführthat. Seitweni-
genTagen istdagegen dasWort Kurz-
arbeit in aller Munde. In Berlin wur-
de nun die Milliardenschleusegeöff-
net, damit auchder Stillstand inwei-
tenTeilen des öffentlichen wie des
privaten Lebens nicht dazu führt,
dassviele Menschen ihren Arbeits-
platzverlieren.Wenn diePandemie
innerhalb eines überschaubarenZeit-
raums in den Griffgekriegtwerden
kann, lässt sichdie schwierigeZeit
womöglichmit Subventionen aus der
Arbeitslosenversicherung überbrü-
cken. Das hat in derFinanz- undWirt-
schaftskrise schon einmalgeklappt.
EineFolgederfetten Jahrewar
zudem, dassdie Deutschenkonsu-
miertenwie dieWeltmeister. Jeden-
falls gaben Privatpersonen hierzulan-
de zuletzt gut 20 420 EurojePerson
aus. Damit hauten wirfast ein Drittel
mehr auf denKopf als der Durch-
schnitt der Europäischen Union.
Auch wenn man die jeweiligeKauf-
kraf tmiteinbezieht, lagen wir mit
fast 19 Prozent über dem Mittel.Nur
Luxemburgern und Österreichern
saß der Euronoch einwenig lockerer.
Auch diese Zahlenkönnten ange-
sichts allgemeiner Verunsicherung
undwachsender Sorge um den eige-
nen Arbeitsplatz jedochschnell Ge-
schichtesein. Da der Corona-Kampf
vonFinnland bisPortugal imvollen
Gangeist,werden die Leutewohl all-
gemein dieAusgaben drosseln.
Ob unsdie Pilzernteaus diesem
Tief herausholenkann? Den Daten
des Statistikamtes zufolgewurden im
vergangenen Jahrrund 71 800Ton-
nen an Speisepilzengeernt et.Davon
entfielen sagenhafte 98 Prozent auf
den Champignon. Insgesamt aber ern-
tete nhiesigePilzzüchterrund 2Pro-
zentweniger als nochimVorjahr.Na
also, 2019waralso dochnicht alles
besser.Das stimmt uns dochein we-
nig optimistischer.Vielen Dank,lie-
bes Bundesamt.
Aufeinen Espresso
M
ittwochabend, 21.
Uhr.Italiens Minis-
terpräsidentGiusep-
pe Conte spricht zur
Nation, schon zum
zweiten Mal in die-
ser Woche. DiesesMal aber nicht in einer
offiziellen Rede vorden zusammenge-
schalteten Fernsehkanälen, sondernganz
unorthodoxauf Facebook.ItaliensFernse-
hen unterbricht dennochviele aktuelle
Prog ramme, um dieRede zu ungewöhnli-
cher Zeit aktuell zu übertragen.
„Ichdankeeuch, denn ichweiß, dassihr
dabei seid, euren Lebensstil zu ändern. Ihr
bringtOpfer ,und ichweiß, dassdas nicht
leichtist,doch dieser kleine odergroße
Verzicht bedeuteteinenwertvollen Bei-
trag für das Land“, sagt Conte. Dieganze
Welt blicke auf Italien, denn Italiengebe
ein großes BeispielvonStrenge, und in
der Zukunftwerde das Landnicht nur be-
wundertwerden, sondern ein Beispiel
seindafür,wie man mit Gemeinschafts-
sinngegeneine Pandemie siegen könne.
Dannkommt die eigentlicheNeuigkeit:
„Jetzt ordnen wir die Schließung aller Ge-
schäfte an, mit Ausnahme der Lebensmit-
telhändlerund Apotheken.“ Geschlossen
werden normale Geschäfte, Bars, Pubs,
Restaurants, Friseure, Schönheitssalons
und soweiter.
Die Überraschung istContegelungen.
Zwargabesinden Zeitungen Artikel über
Diskussionen umweiter eEinschränkun-
gen. DochGerüchte, Streitereien und Pro-
filierungsversuche einzelnerPolitikerstel-
len inRomdie üblichen Hintergrundge-
räusche des Hauptstadtlebens dar.Bei so
weitreichenden Schließungen istsicher,
dassnicht jederinallen Details des All-
tags für dienächstenWochen vorgesorgt
hat.Imeigenen BürofehltPapier für den
Drucker, undwenigeStundenvordem
Facebook-AuftrittvonConte hatte der
naheliegende Schreibwarenladenbereits
frühergeschlossen als üblich. Die überra-
schende AnkündigungvonConteführt
auchnochzuanderen Sorgeninder Fami-
lie. Woher kommt dasFutter für diever-
wöhntekleine schwarzeKatze, die sich
nur mitwenigen ausgewähltenFuttersor-
tenzufriedengibt?
Die Stadt warschon vordem Mittwoch-
abend soverlassen, dassgroße Teile des
Handels demotiviertwaren, überhaupt
weiterzumachen. Der sonstvon ausländi-
schenTouris tenals Fotomotivgeschätzte
Obst- und Gemüsemarkt am Campo de’
Fioriinder Altstadt blieb schon am Mor-
genzur Hälfteleer.Der Händler mit dem
größten und teuersten Stand, spöttisch
„Bulgari“genannt,wartrotzdem da, klag-
te aber seinerseits über 50 ProzentVer-
dienstausfall. Am Kioskgegenüberstapel-
tensichmittags noch18unverkaufte
Exemplare der römischenZeitung „LaRe-
pubblica“,kurz danachwurde zugesperrt.
Trotzdemwarbis Mittwochfür die Ita-
liener nochalles verfügbar.Seithergibt es
nur nochdie Grundversorgung. Zuvorwar
es derRegierung nicht so gutgelungen,
mit überraschenden Schrittenvorüberge-
hendePanikreaktionenzuvermeiden. Be-
voramvergangenen Sonntaggegen
Uhr die Lombardei und 14weiter enordita-
lienische Provinzen zur „roten Zone“ wur-
den,gabeszuviele Gerüchte.Der Minis-
terpräsidentwollteseinenSchritt mit den
betroffenenRegionalregierungen abstim-
men,doch vonirgendwowurden diever-
traulichen Entwürfe für das Gesetzesde-
kret an die Medienweiter gereicht. Zwi-
schen der Ankündigung am Samstag-
abend, derUnterschrift um 2Uhr mor-
gens und derVeröffentlichung im Geset-
zesblatt am Sonntagnachmittagvergingen
weitereStunden. Derweil kamesinNord-
italien zu dramatischen Szenen. In Mai-
land und anderswowollten viele den letz-
tenZug nachSüditalien nehmen.Eine
amerikanische Korrespondentin be-
schrieb die Szene in einem überfüllten
Nachtzugbei Twitter unter dem Titel
„Flucht ausPadua“ und ernteteeinen
Sturmder Entrüstung. Denn zwischen
20000 und 50000 Italiener,die imNorden
arbeiten und zwischen Samstagnachmit-
tag und Sonntagvormittag zu denWur-
zeln ihrerFamilieinden Südengeflüchtet
sind,könnten entscheidend zurVerbrei-
tung desVirusimganzen Land beitragen.
Bisher istdie Lagenur in der Lombar-
dei dramatisch, derreichstenRegionIta-
liens mit 10 Millionen Einwohnern. Das
dortigeGesundheitssyste m, das beste und
am großzügigsten finanzierte Italiens,
stößt längstanseineKapazitätsgrenz en.
Die Stimmung istverzweifelt:Vonden am
Freitag in Italien registrierten15000 Fäl-
len vonCorona-Infizierten entfallen 7700
auf die Lombardei, davon4435 in norma-
ler Krankenhausbehandlung und zusätz-
lich650 in Intensivstationen. Dochdie In-
tensivplätzereichen nicht mehraus. Seit
mehr als einerWochewirdversucht,Ab-
hilfezuschaffen. Eingerichtet wurden
Plätze in normalen Krankenhausbetten
und Beatmungsgerätefür „subintensive“
Behandlung, nun wirdinder Mailänder
Messe ein Behandlungszentrum eingerich-
tet. Der Bürgermeister der lombardischen
StadtBergamo, Giorgio Gori, berichtet da-
von, dassergenügendkonkreteFälleken-
ne, in denen im entscheidenden Moment
für einen Corona-infizierten Patienten
kein Behandlungsplatz in der Intensivstati-
on mehrverfügbargewesen sei. In einem
der meistgehörtenRadiosender wirddie
Nachrichtverbreitet, dassder Gründer ei-
nes erfolgreichen mittelständischenUnter-
nehmens im Altervon82Jahrenverstor-
ben sei. DerUnternehmer namensRaffae-
leCifarelli sei schon durch andereKrank-
heitenvorbelastet gewesen und mangels
Erfolgsaussichten nicht auf einen der ra-
renIntensivplätzegekommen. In derSta-
tistik isternur einervon890 lombardi-
schenTodesopfern.Selbst diejenigen, die
schließlicheinen der begehrenswerten
Plätzeinder Intensivstation bekommen,
finden sichnicht in einerbeneidenswer-
tenLagewieder.DramatischeFilme aus ei-
ner Intensivstation zeigen lebloseKörper
vonsedierten Patienten, die an Maschi-
nen angeschlossen sind und ohneBewusst-
sein der turbulenten Situation der Intensiv-
station ausgeliefertsind.
Dagegen sind die ProblemeimZentrum
oderimSüden Italiensnochimmer über-
schaubar.Die RegionLatium rund um
RommeldeteamDonnerstag 172 Infekti-
onsfälle,davon 20 in der Intensivstation,
Apulien berichtetevon 98 Infektionsfäl-
len,davon zwei mit Intensivbehandlung,
und Kalabrien hattenur 32 Infizierte. Da-
her hatte der RegionalpräsidentApuliens,
MicheleEmiliano, amvergangenenWo-
chenende einenverzweifelten Appell an
die Landsleute gerichtet,die im Norde nar-
beiten: „Kommen Sie nichtnachHause in
den Süden,Sie könnten damitIhreGroßel-
tern umbringen.“ Emiliano hatteschon zu-
vorals Er ster angeordnet, dassjederRück-
kehrer aus demNorden ohneAusnahme
für 14Tage in Quarantäne muss. Apulien
istdabei nocheinigermaßengut organi-
siert.Aber eswäre nicht auszudenken,
waspassierenwürde,wenn in derbevölke-
rungsreichenRegionKampanien mit ih-
rerchaotischen Hauptstadt NeapelInfekti-
onszahlen wie in der Lombardeiregis-
trier twürden. Oderwenn dieWelle der In-
fektionen die ärmste und völlig dysfunktio-
naleRegionKalabrien treffenwürde.
Deshalbblieb dem Ministerpräsidenten
schon am Montagabend nichts anderes üb-
rig, als dieKonditionen der „roten Zone“
im Norden aufganz Italienauszudehnen.
Contesprachdabei nicht davon, dassganz
Italien„rotesGebiet“ sei, sondern nur von
einer „geschütztenZone“. Der Effekt ist
der gleiche. Auchander österreichischen
oder deutschen Grenzewirdnun nicht
mehr unterschieden zwischen Italienern
aus ruhigenRegionen undInfektionsgebie-
ten. Inganz Italien müssen nun allezu
Hause bleiben. Jederkann auf der Straße
angehaltenwerden mit derFrage:„Wo
wollen Sie hin?“ Jedermuss sichselbstei-
nenPassierschein ausstellen, auf einem
Formular des Innenministeriums, das bei
Falschangaben schwerestrafrechtliche
Konsequenzen androht.Die einzigen Kri-
terien für den Aufenthalt auf derStraße
sind „nachgewiesene Notwendigkeiten
der Arbeit“, „grundlegendeNotwendig-
keit“ und „gesundheitliche Motive“. Der
Einkauf in–immer nochgut gefüllten –
Lebensmittelmärktenbleibt erlaubt, das
Abendessen mitFreundenzuHauseist
verboten. In der Pressekonferenz mit dem
Chef desKatastrophenschutzes berichtet
eine Journalistin, sie habegemeinsammit
demEhemanndenHundausgeführt,sei
angehaltenworden und habe eine Andro-
hungvonBußgeld erhalten. Der oberste
Katastrophenschützer will das ausdrück-
lichnicht verurteilen. Spaziergang zu
zweit sei nicht angesagt, auchzuHause
solle man einen MeterDistanz halten. In
den Nachrichtensendungen erklärennun
Regierungsjuristen im Detail,wasgenau
erlaubtist und wasnicht.Womöglichhal-
tenbald Soldatendie Bürgeranund damit
ItaliensStraßenleer.
In derPolitik geht die Diskussionweiter
mit denForderungen desPopulistenSalvi-
ni, alleFabriken zu schließen.Erwittert
wohl, dassItalien selbstnachzweiWo-
chen Quarantäne nicht infektionsfrei sein
könnte, und dannkönnteman dem Minis-
terpräsidenten die Schuldgeben, der sich
staatstragend gibtund andererseitsvon
seinen Gegnernals Möchtegern-Churchill
verspottetwird. DieUnternehmerhalten
dagegen. Bei Schließung derFabriken sei-
en Italiens Marktanteile in derWelt gefähr-
det, vorallem auchdie Grundversorgung
für Italien.Dochdie Gewerkschaften
streuen nun die Sorge,dassinFabriken
der Kleinunternehmer oder an dichtbe-
setzten Fließbänderndas Ansteckungsrisi-
ko hochsei. Eskommt zu wildenStreiks.
In Rommit seinen ausgestorbenenStra-
ßen stehendagegenganz andere Überle-
gungen imVordergrund.Ausdem Ministe-
rium für wirtschaftliche Entwicklung wird
berichtet, dassnun so gut wie alle nach
Hause gingen. Auchdas Kabinettdes Mi-
nisters erweistsichplötzlich als entbehr-
lich,während dochfrüherdie Pöstchen
nie genug waren. Im Auslandspresseclub
mit 60 Arbeitsplätzen fürKorresponden-
tenwollen dievomMinisterium ges tellten
Pförtner einfachnur nach Hause.Dafür
gibt es nun tausend Ausreden, bis hin zur
angeblich dramatischen Gesundheitslage
in Rom, die durch nichts belegt ist. Am
Campode’Fioridarfdie Kioskbesitzerin
nachden immer detaillierterenVorschrif-
tenihr Kioskweiter offenhalten. Nicht
weit entfernt istauchder Laden fürTierbe-
darf und Katzenfutter immer nochganz le-
galgeöffnet.
Lebe nim
Rückspie gel
Von Sven Astheimer
Plötzlichfehlt
Katz enfu tter
Trevi-Brunnen im März2020:Viel Platz für eineTaube Foto©2020 Shutterstock
Trevi-Brunnen im Juni 2017:Wenig Platz für vieleTouris ten Fotodpa
DasCoronavirus hatItalienins Chaosgestü rztund dasLeben
aufden Kopf gestellt–im Großen wieim Kleinen.
VonTobiasPiller ,Rom