Frankfurter Allgemeine Zeitung - 14.03.2020

(Nancy Kaufman) #1

SEITE 20·SAMSTAG, 14.MÄRZ2020·NR. 63 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


E


in Teil desPersonalsdesRafik-
Hariri-Krankenhauses streikt.
Man habegenug vonder „kras-
sen Nachlässigkeit“ derVerwal-
tung und zuständigenRegierungsfunktio-
nären, hieß es in einer Erklärung. Die
Ausstattung der Klinik istveralt et,die Be-
schäftigten erhalten ihre bescheidenen
Löhne nur mit Verzögerungen. Dabei
steht das Krankenhaus imZentrum der
Bemühungen der libanesischen Regie-
rung,dieVerbreitung desCoronavirus
einzudämmen.Esist ein Streik, der Bän-
de spricht:Die Libanesen müssen sichin
diesenTagennicht nur darüber Sorgen
machen, dassdie Pandemie das Gesund-
heitssystem des heruntergewirtschafteten
Staates zum Einsturzbringt. DieVorgän-
ge im Hariri-Krankenhaus hängen nicht
zuletzt damit zusammen, dassder Liba-
non in einerWirtschaftskrisesteckt, wie
sie das Land nochnicht erlebt hat.
Laut den Szenarien derWeltbank,die
in Beirut unter Diplomatenkursieren,
könntedie Hälfte,imschlimmstenFall so-
garmehr als zwei Drittel der Libanesen
unter die Armutsgrenze fallen. Schon
jetzt istfür viele der wirtschaftlicheÜber-
lebenskampf zu einemtägl ichenStress-
test geworden. Es gibt Banker,die schon
vondrohenderHyperinflation,Zusam-
menbruchder Staatsgewalt, Aufruhr und
Blutvergießen sprechen.
Ministerpräsident Hassan Diabgabzu
Beginn derWocheeine offizielle Bank-
rotterklärung ab, die auchdas Wirt-
schaftssystems des Landes einschloss.
Die Regierungwerdeinsgesamt 1,2 Milli-
arden Dollar,die fürStaatsanleihen (et-
wasmissverständlichEurobonds ge-
nannt) am Montagfällig geworden wä-
ren, nicht zahlen, erklärte er.Das gelte
auch fürkommende Runden in dennächs-
tenJahren. Die Devisenreservenseien
„auf einem bedrohlichniedrigenStand“,
sagteDiab. Man müsse Sorge tragen, die
Grundversorgung der Bevölkerung zu si-
chern. Unddafür sind die Dollarreserven
unerlässlich, denn es mussvon Getreide
über Medikamenteoder Treibstoff fast al-
les importiertwerden. Esgehe nicht an,
erklärte der Regierungschef, dassder
Staat von1000 libanesischen Pfundetwa
500 dafür aufwende, die Schulden zu be-
dienen. Die Staatsverschuldung liegt
nachseinenWorten bei 170 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes–das istder
schlechteste Wert auf derganzenWelt.
UndDiab, der erst seit Januar im Amt
ist, sprachauchaus, wasFachleute seit
Jahren sagen: DasWirtschaftssystemdes
Landes istgenauso am Ende wie derStaat
selbst. Der Aufbau produktiver Wirt-
schaftszweigesei untergraben worden,
sagteder Regierungschef, derVokabeln
wie Selbsttäuschung und Illusionen be-
nutzte. Er wies auf den aufgeblähtenBan-
kensektor mit insgesamt65Banken hin,
dessenVermögenswerte 400 Prozent des
Bruttoinlandsproduktesbetragen. „Heute
zahlen wir den Preis für dieFehler,die
vorJahren begangen wurden“, sagte
Diab.
Der Regierungschef umschreibt ein
hochkorruptes System, das seinÜberle-
ben mit einem brandgefährlichen Schnee-
ballsystem sicherte.Ein Kartell vonpoliti-

schenFührern, vielevonihnenWarlords
aus denZeiten des Bürgerkrieges, hat den
Libanon über Jahrzehntedreist ausge-
plündert. Die Infrastruktur des Landes
verfällt.Die Elektrizitätsgesellschaftist
ein Milliardengrab, jedenTagfällt der
Strom für mehrereStunden aus. Die Müll-
abfuhrist so teuer wie in Metropolenvom
SchlageNew Yorks, aber derUnratwird
einfachauf übervollen Halden abgeladen.
Um die Staatsfinanzenvordem Zusam-
menbruchzubewahre n, besorgtesichdie
Zentralbank über Privatbanken wieder
und wiederauf PumpDevisen–und bot
im Gegenzug absurdhohe Renditen. Der
Libanon funktionierte wie einRenten-
staat –maßgeblichgetragenvonder gro-

ßen Mehrheit der Libanesen, die imAus-
land arbeitet und Dollar in die Heimat
schickt.Aber dasVertrauen der Geldbe-
schafferist längstgeschwunden, der über-
lebenswichtigeZustrom an Devisenver-
siegt.Das Schneeball-System istzusam-
mengebrochen, und laut Einschätzung
vonDiplomaten undFachleuten istes,
solltenicht irgendwieBesserung eintre-
ten, eher eineFragevon Monaten denn
vonJahren, bis die Reservenaufge-
braucht sind.
Die Bevölkerung mussnun schmerz-
hafterfahren, dassdas Schneeballsystem
auchimNegativen funktioniert. Eine Aus-
wirkung der Krise jagt die nächste.Ar-
beitslose drängen auf den ohnehin schon

übersättigtenMarktder Taxifahrer,die
wiederum über schwindendeKundschaft
klagen. Jetztkommt auchnochdie Coro-
na-Pandemie dazu. DerVerband der oh-
nehin schon schwergebeutelten Gaststät-
tenbetreiber erklärte,dasssei nun der „fi-
nale Schlag“,der auchdie „letzteHoff-
nung“ zunichtemache.
Werinden Vierteln der einfachen Leu-
te mit denVerzweifelten spricht, hörtKla-
gen, die Miete oder anständiges Essen
nicht mehr zahlen zukönnen. Krise und
Dollarknappheit führen dazu, dassdie
Preise steigen, während die Kaufkraft
sinkt.Seit dem Jahr 1997 wirddie Lira,
das libanesische Pfund, zumfestgelegten
Kurs von1:1500gehandelt. In den Ban-

kenist das auchnoch derFall, aber in den
Wechselstubengabesfür einen Dollar bis-
weilen 2600 libanesische Pfund. Die Ban-
kengeben derzeit Dollarnur in sehr be-
grenzten Dosen aus,wasdie Importe und
damit dieWirt scha ft weiter abschnürt.Ei-
gentlichmüssteerdie Preise erhöh en, er-
klärtein Barbesitzer.Denn erkaufezum
inoffiziellenWechselkursein. Aber dann
komme jagarkeiner mehr.Das war, be-
vordie Regierung die Schließung aller Lo-
kale anordnete.
Diab und seine Mannschaftmüssen
schnell aus diesemTeufelskreis ausbre-
chen. Es istschon viel zu vielZeit verstri-
chen. Die Krise hattesichseit Jahren an-
gekündigt, im Oktoberwarden Libane-
sen der Kragengeplatzt.Massenproteste
brachen aus, der damaligeRegierungs-
chef Saad Haririgab auf. Obwohl dieZeit
angesichts des wirtschaftlichen Nieder-
gangs drängte, feilschtedie politische
Klasse bis zum Januar um eineNachfolge-
regierung. Diabs Bankrotterklärung ist
aber nochlangenicht der Befreiungs-
schlag, den der Libanon braucht.Esherr-
schen Zweifel daran, dassdie Verhandlun-
genüber dieRestrukturierung der Schul-
den so „fair undvertrauensvoll“ ablaufen,
wie sichder Ministerpräsident das
wünscht.VultureFunds, die sichauf Fälle
wie den Libanon spezialisierthaben,
könnten dieRegierung mit hochqualifi-
ziertenAnwältenvoramerikanische Ge-
richte zerrenund kostspieligeVergleiche
erzwingen. Eswäre nicht auszuschließen,
dasszum BeispielFlugzeugeder nationa-
len FluggesellschaftimAusland beschlag-
nahmtwerden. Es gibtferner Widerstand
der Banken, die bis zuletzt Druckauf die
Regierung ausgeübt hatten, die Bankrott-
erklärung zu unterlassen und die eng mit
der politischen Klasseverflochten sind.
Diesewiederum hatkein Interesse an
wirklichenReformen, weil sie um ihre
Pfründe fürchtet. Die politischenFührer
des Landes, auf derenWohlwollenRegie-
rungschef Diab angewiesen ist,sind eine
enormeHürde für Erneuerung. „Sie haben
den Ernstder Lagenochimmer nicht er-
kannt“, sagt ein frustrierterinder politi-
schen Klasse gutvernetzter Banker.Nach
seinerEinschätzung dürftewenigerals ein
Drittel der Bankendie Krise überleben.
Die Aussicht auf ausländische Hilfeist
begrenzt.Ein Einschreiten des Internatio-
nalen Währungsfondswäre nicht nur mit
einer Gewaltkur verbunden, sondern
auchmit amerikanischer Einflussnahme,
wogegensichdie vonIrangelenkteSchii-
tenorganisation Hizbullah sperrt –die
mächtigste und auchmilitärischstärkste
Kraf timLand. „MeinVertrauen, dassdie
neueRegierung diese systemische Krise
behebenkann, istbegrenzt“, sagt daher Si-
bylle Rizkvonder Nichtregierungsorgani-
sation „Kulluna Irada“, die Lobbyarbeit
für politischeReformen und ein funktio-
nalesWirtschaftssystem betreibt.Diab
verdiene Anerkennung dafür,die Reißlei-
ne gezogen und endlichdie Missstände
angesprochen zu haben, sagt sie.„Aber
seineRegierung istwie ein Pilot, der sich
mit dem Cockpitvertraut macht,wäh-
rend sichdas Flugzeug imSturzflug befin-
det–und der nochnicht gelernt hat, wie
man eineNotlandungvollführt.“

Fata Morgana:Dieser SupermarktinBeirut vermitteltkerngesunden Handel–davonkannimLibanonkeine Rede sein. Fotodpa

F.A.Z. FRANKFURT. Voreiner Wo-
chehat dieseZeitungüber eine Aus-
einandersetzungvonÖkonomen be-
richtet, an der ClaudiaKemfertvom
Deutschen Institut fürWirtschaftsfor-
schung (DIW) beteiligtwar und die
sichumdie Bewertung der deutschen
Energiepolitikdrehte(CausaKem-
fert:Chronologie einer Eskalation,
F.A.Z. vom6.März). DIW-Präsident
MarcelFratzscher wurde darin mit
der Aussagezitiert, die Artund Weise
sei „völlig unter der Gürtellinie und
inakzeptabel“gewesen, wie dieZei-
tung „Handelsblatt“ Ende Februar
über die Kritik an der Ökonomin be-
richtethatte, ohne dassmit dieser
über die persönlichen Anfeindungen
gesprochen wurde. Dazu hieß es in
demF.A.Z.-Bericht:„Dass(Kemfert),
wie im Artikel derWirtschaftszeitung
erwähnt, auf AnfrageeinenKommen-
tar abgelehnt hatte,kümmerte Fratz-
scher nichtweiter.“ Dazustell en wir
richtig: Das „Handelsblatt“ hatKem-
fert nicht zu derfachlichen und per-
sönlichen Kritik zu ihrerPerson kon-
taktiertund ihrkeine Möglichkeitge-
geben, darauf zureagieren.

ash. FRANKFURT. Die Öffnung
des Glücksspielmarktes in Deutsch-
land für privateAnbieterwirdauch
zum PreisvonWerbebeschränkun-
genfür dieUnternehmenerfolgen.
Zwischen sechs Uhr am Morgenund
abends 21 Uhr darflaut des neuen
GlücksspielstaatsvertrageskeineWer-
bung imRundfunk und Internetfür
virtuelle Automatenspiele, Online-
Pokerund Online-Casinogezeigtwer-
den.„Werbung für Sportwettenmit
aktiven Sportlernund Funktionären
istunzulässig“, heißt es im ersten Ab-
schnitt unterParagr aph5Artikel 3.
Am Donnerstag hatten die Minister-
präsidenten denStaatsvertragverab-
schiedet, der ab Mitte2021gelten
soll. Dassein OliverKahn alsVor-
standsmitglied des FC Bayern oder
einzelne Fußballstars das Angebot
vonSportwettenanbietern propagie-
ren, wäre dann unzulässig.Werbung
vonAnbietern auf Trikotsoder Ban-
den istdagegenweiterhin erlaubt.
Noch mussder Staatsvertragvon
der EU notifiziertund vonden Län-
derparlamenten ratifiziertwerden.
Aufgebautwerden soll eine Glücks-
spielbehörde zurÜberwachung, die
ihren Sitz in Sachsen-Anhalt haben
soll. Datenschützer kritisierendas
Durchleuchten jedes Spielers und das
Libanesische Sammeln sensiblerDaten.

Bankrotterklärung


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Richtigstellung


Vorbei: Oliver


Kahn und das


Glücksspiel


DasWirts chafts system desLandes istgenauso am Ende wieder Staatselbst.


Drohen jetztHyperinflation, Zusammenbruchder Staatsgewalt,


Aufruh rund Blutvergießen?


VonChris toph Ehrhardt, Beirut

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