von kia vahland
G
eometrisch, rational, konzentriert
auf das Wesentliche, nämlich die
harten Fakten: So scheint sie zu
sein, die Moderne, trotzend dem Chaos des
Lebens und der Fantasie. Abstrakte Kunst
soll für einen unbedingten Fortschritts-
glauben stehen, einen Bruch mit allem Da-
gewesenen und der Mystik sowieso. Dies
aber ist eine spätere Wunschvorstellung,
ein Konstrukt der Nachgeborenen, die ihr
eigenes Weltbild in der Kunst wiederfin-
den möchten. Tatsächlich aber trieb viele
der frühen Abstrakten eine durchaus ro-
mantische Vorstellung an: So begeistert,
manchmal auch überwältigt sie waren von
all den naturwissenschaftlichen Erfindun-
gen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhun-
dert, so wenig interessierte sie der kapita-
listische Materialismus. Sie verabschiede-
ten sich von der Historienmalerei, den gut
kenntlichen Porträts, der getreuen Wieder-
gabe von Landschaften und Dingen gerade
deshalb, weil ihnen vor allem die akademi-
sche Malerei zu simpel vorkam, zu ehrpus-
selig und zu ignorant gegenüber übersinn-
lichen Phänomenen. Röntgenstrahlen, Mi-
kroskope, Teilchenphysik bewiesen den
Avantgardisten, dass es mehr gibt auf der
Welt als das, was das Auge auf den ersten
Blick zu erkennen vermag.
Für frühe Vertreter der Abstraktion wie
Piet Mondrian und Wassily Kandinsky ist
dieser Hang zum „Geistigen“, wie es
Kandinsky ausdrückt, längst nachgewie-
sen. Seine musikalisch bewegten „Improvi-
sationen“, sein Abschied von russischer
Volkskunst und deutscher Ritterromantik
zugunsten wilder, freier Farbwirbel sind
motiviert von Verachtung für ein Denken
in Geld und Gütern sowie in scheinbar
unumstößlichen Realitäten. Geschickt
gelang es ihm, sich in seinen Schriften als
Erfinder einer ungegenständlichen Moder-
ne auszugeben.
Übersehen wurde dabei lange, dass er
keineswegs der erste Abstrakte war, da vor
ihm nicht minder spirituell motivierte Kol-
leginnen bereits die Schwingungen ihres
Geistes und ihrer Seele in ungegenständli-
che Malerei auf Papier und Leinwand über-
setzten. Und wo diese Künstlerinnen, dar-
unter die Britin Georgiana Houghton,
dann doch wiederentdeckt wurden, hafte-
te ihnen schnell das Etikett der Esoterike-
rinnen an; sie galten fälschlicherweise als
Frauen ohne Weltbezug, ohne kunsthistori-
sche Kenntnis und Ambition. Selbst die
wohl schöpferischste dieser spirituell moti-
vierten modernen Künstlerinnen, die
Schwedin Hilma af Klint (1862 bis 1944),
wurde erst in den vergangenen Jahren
wirklich gewürdigt, mit einer Retrospekti-
ve im Moderna Museet in Stockholm, ei-
nem Auftritt auf der Venedig-Biennale und
schließlich einer fulminanten Ausstellung
im New Yorker Guggenheim-Museum, die
in 2018/19 mit mehr als 600 000 verkauf-
ten Karten zum Kassenschlager wurde.
Der Schöpferin freier Abstraktionen wid-
met die Kunstkritikerin und Wissen-
schaftshistorikerin Julia Voss nun eine gro-
ße, gründlich recherchierte und wunder-
bar anschaulich geschriebene Biografie.
(Hilma af Klint – „Die Menschheit in Er-
staunen versetzen“. S. Fischer, Frankfurt
2020, 600 Seiten, 25,- Euro)
Mit analytischem Blick gelingt der Auto-
rin das Kunststück, Hilma af Klints heute
manchmal fremd erscheinenden spirituel-
len Gedankengänge ernst zu nehmen, zu
verstehen, ohne sie sich selbst zu eigen zu
machen. Ihr Trick ist ein erzählerischer:
Sie behandelt die Geister af Klints als Figu-
ren, es sind Wesen mit Eigenschaften und
Macken, die deshalb von Belang sind, weil
sie der Protagonistin etwas bedeuten.
Die in behüteten Verhältnissen aufge-
wachsene Tochter eines Offiziers fand früh
Mentorinnen, die sie unterstützten. Viele
Schwedinnen mit Ambitionen versammel-
ten sich in zwar irgendwie christlichen,
aber vor allem sehr freigeistigen Zirkeln, in
denen einzelne von ihnen als Medien mit
Verstorbenen oder anderen Geistern in
Kontakt traten. Die Atmosphäre scheint be-
flügelnd, nicht repressiv gewesen zu sein;
die Stimmen, die erst af Klints Förderin-
nen, dann sie selbst hört, sind freundliche
Wesen, welche die Frauen ermutigen, sich
nicht einengen zu lassen, sondern ihrer
Fantasie, ihren Träumen und ihren künst-
lerischen Einfällen freien Lauf zu lassen.
Auch wenn die Autorin diese These ab-
lehnt, weil sie mit Hilma af Klints Selbstver-
ständnis nichts zu tun hat: Es liegt der Ge-
danke nah, dass die Séancen vor allem ein
Mittel weiblicher Selbstermächtigung in
Zeiten massiver Benachteiligung waren.
Wer sich seine eigenen Autoritäten und
imaginierten Freunde schafft, ist vom lie-
ben Gott, von Kunstprofessoren, Muse-
umsleuten, Vaterfiguren aller Art zumin-
dest innerlich nicht mehr abhängig. Dazu
passt, dass sich Hilma af Klint zwar später
für Rudolf Steiners anthroposophische
Lehre interessiert, sich aber auf diese nicht
beschränkt, sondern sie munter mit Ele-
menten des Hinduismus, Sufismus und ei-
genen ganzheitlichen Ideen mischt. Ihr
Ziel ist, das binäre Denken zu unterlaufen
und fließende Übergänge etwa zwischen
Männlichkeit und Weiblichkeit, Herz und
Verstand zu zeigen. Erst der Rückenwind
durch die Freundinnen und die Geister
gibt der Künstlerin die Stärke, radikal zu
sein, im Denken wie im Malen.
Welche Freiheit Hilma af Klint fand,
lässt staunen. Die Vorstellung, da habe ei-
ne Spiritualistin abgeschottet vor sich hin-
gewerkelt, ist grundlegend falsch. Af Klint
reiste, sie war im ständigen Dialog mit ih-
rer jeweiligen Partnerin und anderen
Freundinnen und Freunden, sie kannte
sich in der Kunst und der intellektuellen
wie politischen Landschaft aus. Der Bruch
mit der gegenständlichen Malerei passiert
ihr nicht zufällig, er ist ein Plan. Die langsa-
me Entwicklung von organischen Kurven
hin zu kantiger Geometrie ergibt sich da-
bei fast zwangsläufig. Formal scheut sie,
im Gegensatz zu vielen anderen Künstle-
rinnen dieser Jahre, auch Größe nicht.
Manche ihre Formspiele finden sich auf
überdimensionalen Bildern. Dass all das
nicht oder kaum verstanden wurde in ihrer
Zeit, vermochte af Klints Produktivität
nicht zu stoppen. Sie entschied einfach,
dass ihre Gemälde erst Jahrzehnte nach ih-
rem Tod publik gemacht werden durften.
Julia Voss‘ für den Leipziger Buchpreis
nominierte Biografie gibt Hilma af Klint ih-
re Geschichte zurück – was bei einer Prot-
agonistin, die Unmengen persönlicher
Selbstzeugnisse vernichtet hat, kein einfa-
ches Unterfangen ist. Tatsächlich genügt
es nicht, nur die Verdienste einer lange zu
Unrecht vergessenen Künstlerin zu würdi-
gen, um überholte Narrative zu ändern. Da-
für braucht es Personen aus Fleisch und
Blut. Erst wer versteht, aus welchen nicht
nur intellektuellen, sondern auch lebens-
weltlichen und zeithistorischen Gründen
Hilma af Klint malte, wie sie malte, und
dachte, wie sie dachte, kann alte Vorurteile
besiegen und eine Leerstelle in der Kunst-
geschichte ausleuchten. Das gelingt die-
sem Buch unbedingt.
Als „Batman Begins“, der erste Teil von
Christopher Nolans Batman-Trilogie,
2005 in die Kinos kam, war der Film für vie-
le nichts weiter als perfekt inszeniertes Hol-
lywoodkino. Mark Fisher sah darin Bedeu-
tenderes – nämlich ein politökonomisches
Problem: „Das Faszinierende der jüngsten
Batman-Verfilmung liegt in der zaghaften
Rückkehr zur Frage nach dem Guten. Der
Film gehört immer noch zur ,Restaurati-
on‘, insofern als dass er sich nichts jenseits
des Kapitalismus vorstellen kann. Er dä-
monisiert eine bestimmte Form des Kapita-
lismus – das postfordistische Finanzkapi-
tal – und nicht den Kapitalismus an sich.“
In Beobachtungen wie dieser verband Fis-
her wie kein anderer Gedanken zur Popkul-
tur mit Philosophie, Ökonomie und Politik.
Durch seinen frühen Tod im Januar
2017 verlor der Popdiskurs eine seiner gro-
ßen kritischen Stimmen. Fisher war Kul-
turwissenschaftler, Journalist, Verlags-
gründer und Blogger. Mit „k-punk: Ausge-
wählte Schriften 2004-2016“ ist nun sein
letztes posthum veröffentlichtes Buch in
deutscher Übersetzung erschienen. Darin
sind neben einer Vielzahl seiner Blogeinträ-
ge auch die wichtigsten Texte Fishers aus
Magazinen und Zeitungen wie demGuardi-
anoderWireversammelt.
Seinen Blog startete Fisher 2003. Mit
großer Liebe zu Nische und Mainstream
gleichermaßen schrieb er darin kulturkri-
tisch über Film, Literatur, Musik und Ge-
sellschaft. In den Nullerjahren war k-punk
einer der einflussreichsten britischen Pop-
Blogs. Simon Reynolds, Musikjournalist
und Freund Fishers, beschreibt den Blog
im Vorwort des Buchs als „One-Man-Maga-
zine“, das für ihn wichtiger gewesen sei als
jedes andere britische Magazin. Viele der
Artikel sind Besprechungen oder kurze Es-
says, die ein Thema anreißen oder kom-
mentieren. K-punk war die Baustelle eines
Denkers, der seine Gedanken nach und
nach zusammenträgt, um sie später ausge-
reift in Buchform zu bringen. Ein Kernele-
ment seines Schreibens war es, die ver-
schiedensten Ausprägungen des digitalen
Kapitalismus mit einer Kultur zusammen-
zudenken, der die Zukunft verloren gegan-
gen ist. Für den Schriftsteller David Peace
war er der „vertrauenswürdigste Naviga-
tor in unseren aus den Fugen geratenen
Zeiten“.
Fishers Verdienst war es dabei, eine Brü-
cke zu schlagen, zwischen Ästhetik, Poli-
tik, Kritik und Aktivismus – wenn er etwa
in der Literaturverfilmung „Die Tribute
von Panem“ fasziniert eine „an Punk erin-
nernde Immanenz“ entdeckt, die er „bei ei-
nem Kulturprodukt lange nicht mehr gese-
hen habe“, oder wenn er in der Musik des
Rap-Superstars Drake das Muster der exis-
tenziellen Leere und Traurigkeit des hedo-
nistischen Individuums erkennt.
Trotz seiner dystopisch-anklagenden
Analysen von Popkultur und Gesellschaft
verlor Fisher nie den Blick für eine Alterna-
tive zum für ihn deprimierenden Status
Quo. Als er seinen Kampf gegen die Depres-
sion verlor, schrieb er gerade an seinem
neuen Buchprojekt „Acid Communism“, in
dem er das utopische Potential der Gegen-
kultur der 1960er ergründen wollte. „k-
punk: Ausgewählte Schriften 2004-2016“
endet mit dessen unfertiger Einleitung.
tobias obermeier
Mark Fisher: K-punk. Ausgewählte Schriften
2004-2016. Aus dem Englischen von Robert Zwarg.
Miteinem Vorwort von Simon Reynolds. Edition Tia-
mat, Berlin 2020. 622 Seiten, 24 Euro.
Rebellion gegen die binäre Welt
Nominiert für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse: Julia Voss räumt in ihrer wunderbar
anschaulichen Biografie der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint mit allen Klischees auf
Julia Voss behandelt die Geister
in af Klints Leben als
Figuren wie alle anderen auch
Man muss wissen, aus
welchen lebensweltlichen
Gründen Hilma af Klint malte
Welche Freiheit im Leben
wie im Malen Hilma af Klint
fand, lässt staunen
Großer Navigator
Gesammelte Texte des britischen
Pop-Denkers Mark Fisher
14 HF2 (^) LITERATUR Mittwoch, 11. März 2020, Nr. 59 DEFGH
Hilma af Klint auf dem Weg zur Abstraktion:
Der „Baum der Erkenntnis“ aus dem Jahr 1913 (links)
und „Die Taube“ (rechts) von 1915.
FOTOS: MAURITIUS IMAGES / ART COLLECTIO
Hilma af Klint, porträtiert von einem un-
bekannten Fotografen. FOTO: MODERNA MUSEET
74
5
835
96
3
4
8
6
21 54
2
3
1
4
8
96
Lösungen vom Dienstag
DieZiffern 1 bis 9 dürfen pro Spalte und Zeile
nur einmal vorkommen. Zusammenhängende
weiße Felder sind so auszufüllen, dass sie nur
aufeinanderfolgende Zahlen enthalten (Stra-
ße), deren Reihenfolge ist aber beliebig. Weiße
Ziffern in schwarzen Feldern gehören zu kei-
ner Straße, sie blockieren diese Zahlen aber in
der Spalte und Zeile (www.sz-shop.de/str8ts).
© 2010 Syndicated Puzzles Inc. 11.3.
SZ-RÄTSEL
Suleymanli − Smirin (Englisch)
FürAufsehen hat der Sieg des erst 14-jährigen
Aserbeidschaners Aydin Suleymanli beim stark
besetzten Aeroflot-Turnier in Moskau gesorgt.
Dass ein solcher Erfolg neben Talent auch harte
Arbeit voraussetzt, machte der jugendliche Sie-
ger in einem Interview klar. Hier berichtet er,
dass er schon seit fünf Jahren etwa 5-6 Stunden
täglich mit einem renommierten Großmeister
trainiert! Suleymanlis Heimatstadt Baku ist auch
Geburtsort von Garri Kasparow, so dass in den
Schachmedien mit Bezug auf einen früheren Eh-
rennamen Kasparows von einem „neuen Biest
aus Baku“ die Rede ist. Nachfolgend die nach ei-
gener Aussage beste Partie des Siegers gegen ei-
nen starken israelischen Großmeister:
1.d4 d6 2.c4 e5 3.e3 Sd7 4.Sc3 g6 5.g3 Lg7 6.Lg
Se7 7.Sge2 0–0 8.0–0 f5 9.dxe5 dxe5 10.e4 c6 11.
Le3 Dc7 12.Dd2 Sb6(Einleitung einer taktischen
Operation, die auf den ersten Blick einen guten
Eindruck macht. Vorzuziehen war 12...Sf6)13.b
f4 14.gxf4 exf4 15.Sxf4 Lxc3(die Pointe, nun er-
obert Schwarz eine Figur. Suleymanli wird je-
doch zeigen, dass seine überlegene Entwick-
lung und bessere Figurenkoordination schwerer
wiegen)16.Dxc3 Txf4 17.Tad1(viel stärker als 17.
Lxf4 Dxf4)17...Le6(dieser natürliche Zug er-
weist sich schon als entscheidender Fehler, er-
forderlich war 17...Sd7)18.c5(schafft einen
mächtigen Stützpunkt auf d6)18...Th4(auf die-
sen Gegenangriff hatte Schwarz gebaut)19.Td
Sd7(auch 19...Sbc8 20.Df6 Sxd6 21.cxd6 Dxd
22.Dxh4 wäre traurig)20.f4(nach diesem kraft-
vollen Zug steht Weiß auf Gewinn , keinesfalls
aber 20.Txe6 Dxh2 Matt)20...Lh3(auf 20...Sf
folgt vernichtend 21.Df6)21.Dc4+ Kf8 22.Lxh
Txh3 Diagramm 23.De6(danach bricht die
schwarze Position zusammen)23...Txe3 24.
Txd7 Dxd7 25.Dxd7 Txe4 26.Dd3 Te6 27.Dd7 Te
28.f5(leitet die finale Attacke ein)28...gxf5 29.
Txf5+ Kg7 30.Tg5+ Kf6 31.Tg3 b5 32.Dd6+ Kf
33.Dh6(Schwarz gab in hoffnungsloser Lage
auf). stefan kindermann
Sudokuschwer
1396 54287
6782 39451
4258 7 1936
54 391762 8
8 1 65427 9 3
7 9 23681 4 5
9541 86372
2817 93564
3674 25819
8 7
8 2 9 5
5 6 4
9 7
6
3 4 6
7 4 2 1
6 5
9 8
Str8ts: So geht’s
Biestaus Baku
Str8tsleicht
a 8 7 6 5 4 3 2 1
bcdef gh
Position nach 22.Txh
43 76
456978
32 954867
213546 78
21 54
87 261543
956478 32
678 32 1
87 23
2 3 7 9 1 5 6
Schwedenrätsel