Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 141

E


r sagt, man solle seine Rippen
fühlen, und führt die Hand an
die Unterkante seines Brust­
korbs. Unter seinem Kaschmirpullo­
ver fühlt er sich an wie ein Skelett.
Michel Würthle betreibt seit fast
einem halben Jahrhundert ein Restau­
rant, aber korpulent war er nie, jetzt
ist er abgemagert.
Wieder nimmt er die Hand des Be­
suchers und geleitet sie an seine linke
Halspartie.
»Da ist es, das Karzinom.«
Sein Blick fängt an zu funkeln, Zei­
chen dafür, dass er nachdenkt, ob ihm
nicht doch noch irgendein Schmäh
einfällt. »Sie lassen dich nicht vom
Haken«, sagt er dann. »Weder die
Doktoren noch die Götter.« Er habe
jetzt auch noch einen Leistenbruch.
Bisher war ihm immer ein Schmäh
eingefallen, so war er, der Wiener,
durchs Leben gekommen. Schon als
er vor einem halben Jahrhundert in
Berlin mittellos ankam oder in den
Jahren, während derer er in vielen
Nächten den Exzess suchte, als die
Steuerfahnder ihn ins Gefängnis schi­
cken wollten, er sich in Spielsucht
verstrickt oder seine engsten Men­
schen verloren hatte, als erst sein
bester Freund, der Maler Martin Kip­
penberger, dann seine Frau und zu­
letzt sein Mentor, der Schriftsteller
Oswald Wiener, starb – stets ent­
gegnete er auf die Frage, ob es ihm
schlecht gehe, ein angriffslustiges
»Bist du deppert?«.
Er sah meist sehr gut aus in den
Maßhemden aus der Londoner St
George Street und den braunen Wild­
leder­Monks. Die stehen nun aufge­
reiht auf einem großen Schuhregal am
Eingang seiner Wohnung, wie ein
schweigendes Monument, als wollten
sie an bessere Zeiten erinnern. Zeiten,
in denen Michel Würthle nicht nur
gesundheitlich unangreifbar schien,
sondern auch Dinge wie englische
Maßhemden und Monks noch etwas
bedeuteten.
Inzwischen geht er nicht mal mehr
in die Paris Bar.

1979 hat Würthle das Lokal in der
Berliner Kantstraße zusammen mit
einem Wiener Freund gemietet und
renoviert. Otto Schily, ein Stammgast
aus Würthles erstem Lokal, dem Exil
in Kreuzberg, hatte ihm den Hinweis
gegeben. Ab da war er bis zur Corona­
krise an den meisten Abenden der
vergangenen vier Jahrzehnte in der
Paris Bar anzutreffen. In den ersten
Jahren hinter der Bar, später meist
an der Tür, wo er Gäste begrüßte und
platzierte und manchmal auch in
ausgesuchter Wiener Höflichkeit ab­
lehnte.
Über Jahrzehnte war die Paris Bar
das einzige Lokal West­Berlins, von
dem man auch in New York oder Paris
sprach; das immer aufhatte und wo
jede Nacht in den Morgenstunden alles
passieren konnte oder auch nur Joseph
Beuys zusammen mit Andy Warhol
und Robert Rauschenberg reinkam.
Wo die bildenden Künstler nicht nur
aßen, sondern auch ihre Werke an die
Wand hängten. Martin Kippenberger
konnte in der Paris Bar bis an sein
frühes Lebensende umsonst essen und
trinken. Er bezahlte Würthle mit
schwarz­weißen Ölgemälden, die lan­
ge in der Sitzecke vor den Toiletten
hingen, bis Würthle sie verkaufen
musste, um Steuerschulden zu beglei­
chen. Im Restaurant hing die Kunst,
und was nächtens vor dieser Kunst ge­
schah, wurde wiederum Teil der Kunst.
Sinnbild dieser gewollten Rückkopp­
lungen war ein großformatiges Kippen­
berger­Gemälde an der Stirnseite, das
den Gastraum der Paris Bar mit den
Bildern an den Wänden zeigt.
Wie alle guten Lokale sollte die
Paris Bar vom Wesentlichen handeln.
Vom Trinken und Reden und Ange­
ben, weniger vom Essen, wenngleich
es auch das gab. Dazu brauchte man:
einen Tresen und vor allem richtige
Kellner in Kitteln wie den berühmten
Herrn Breslauer, den Würthle noch
vom Vorgänger übernommen hatte
und dem er beibrachte, bei der Be­
stellung einer weiteren Flasche Puligny­
Montrachet nicht »noch so ’ne Pulle

Die letzte Runde


NACHTLEBEN Die Berliner Paris Bar war der Treffpunkt der Künstler, Filmemacher und Nachtmenschen, von Rainer
Maria Fassbinder über Georg Baselitz und Damien Hirst bis zu David Bowie. Doch nun läutet ihr Chef Michel
Würthle seinen Abschied ein – mit einem sechsbändigen Journal aus Zeichnungen und Fotos. Von Philipp Oehmke

für 180!« zu rufen. Es brauchte Tische
mit weißer Tischdecke und vergilbte
Wände mit Kunst, die irgendwem
etwas bedeutete, und sei es nur dem
Schöpfer selbst. Umstritten war Da­
mien Hirsts in Formaldehydlösung
eingelegter, halb verwester Kopf des
Bullen Simon, dessentwegen die
Rechtsanwälte aus der feinen Leibniz­
straße, eigentlich Stammgäste, Würthle
drohten, nicht mehr zu kommen. Und
natürlich brauchte es einen, und das
ist wahrscheinlich am Ende das Ge­
heimnis, der auf all das von außen ab
und zu kühl draufblickte und es ord­
nete, während er sich zugleich mit
Haut und Haaren darin verlor. Das
war Michel Würthle.

Paris Bar in Berlin:
An der Stirnseite hing
das Kippenberger-
Gemälde, das den
Gastraum zeigt

Michael Danner / laif

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