Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

26 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

Ende aber blieb bei ihr viel Frust,
nach einer steilen Karriere.
Mit 21 Jahren wurde die gebürtige
Dresdenerin im Jahr 1999 sächsische
Landtagsabgeordnete, 2005 zog sie
in den Bundestag ein. Der große
Schritt kam 2012, als sie überraschend
Bundesvorsitzende der Linken wurde.
Auf dem Göttinger Parteitag trat sie
an, um die alten Streitereien zu be-
enden – und wurde sogleich vollends
in die Machtkämpfe hineingezogen.
Damals wurde Kipping von vielen
Westlinken unterstützt, die den heu-
tigen Fraktionsvorsitzenden Dietmar
Bartsch als Vorsitzenden verhindern
wollten. Oskar Lafontaine und Sahra
Wagenknecht hatten Kipping die
Mehrheit gesichert, der Baden-Würt-
temberger Bernd Riexinger wurde
Co-Vorsitzender. Beide blieben im-
merhin fast neun Jahre im Amt.
Teile der Ostlinken um Bartsch
haben Kipping ihre Kandidatur al-
lerdings nie verziehen und bekämpf-
ten sie bis zuletzt. »Die roten Haare
werden wir ihr roden. Der Hexe Kip-
ping verweigern wir die Hand«,
dichteten Bartsch-Anhänger in Lie-
dern über ihre Gegnerin, das war die
Kultur innerhalb der Partei über Jah-
re hinweg.
Kipping versuchte, diese Kultur
der Missgunst als Vorsitzende zu
ändern und die Partei professioneller
und moderner zu machen. Schon

vor Jahren war absehbar, dass die
Linke gerade im Osten ein Demo-
grafie problem bekommt: Die alten
SED-Mitglieder sterben, Kipping
setzte daher auf einen Kurs der Ver-
jüngung. Sie zeichnete ein differen-
zierteres Bild der DDR, kein verklä-
rendes. Sie wollte der Linken das
Image der Russlandversteher abstrei-
fen und äußerte sich kritischer gegen-
über Moskau. Außerdem brachte sie
neue Themen ein, sprach über die
Machtverhältnisse der Geschlechter
oder die Herausforderung des Klima-
wandels.
»Als wir angefangen haben als Par-
teivorsitzende, hieß es, die Linke sei
so unattraktiv für jüngere Leute und
habe damit keine Zukunft und sei
eher ein Abwicklungsprojekt«, sagt
Kipping. Doch nachdem sie als Vor-
sitzende Zukunftsthemen in den Blick
genommen hatte, auch um Nach-
wuchs zu gewinnen, kritisierten eini-
ge in der Partei diesen Kurs lautstark.
»Hipsterpartei hieß es jetzt«, sagt
Kipping in ihrem Bundestagsbüro
und dreht sich mit dem Stuhl zum
Fenster. »Hätten wir in unserer Zeit
nicht so viele neue jüngere Mitglieder
in die Partei geholt, wäre die Linke
kaum noch handlungsfähig heute.«
Gerade auch in den Kommunen seien
es die Neugewonnenen, die die Partei
am Leben hielten. Im Bundestag stel-
len die Linken jedoch, was das Durch-
schnittsalter angeht, die älteste Frak-
tion nach der AfD.
Die Gegner von Kippings Kurs
aber wurden in der Partei ebenfalls
aktiv: Bartsch und Wagenknecht,
einst unerbittlich verfeindet, rauften
sich zusammen, übernahmen ge-
meinsam als Vorsitzende die Bundes-
tagsfraktion und stellten sich gemein-
sam gegen den Kurs der Erneuerung
und Verjüngung. Wagenknecht, die
einstige Unterstützerin Kippings,
fasste ihre Kritik sogar in einem Buch
zusammen und macht Kipping und
Riexinger indirekt dafür verantwort-
lich, die Linke auf einen falschen Weg
geführt zu haben. »Die Selbstgerech-
ten« wurde ein Bestseller.

I


n den verschlungenen Bürogän-
gen des Jakob-Kaiser-Hauses im
Bundestag geht Katja Kipping
durch einen dunklen Flur und sucht
nach dem aussortierten Müll ihrer
politischen Karriere. Sie öffnet eine
Tür zu einem kleinen Abstellraum, in
dem nur ein großer Kopierer steht,
weiter geht es im Flur, wo sie schließ-
lich eine der riesigen Müllboxen ent-
deckt. Drei davon seien voll gewesen,
erzählt sie. Voller alter Zeitungsarti-
kel und teilweise noch handgeschrie-
bener Briefe, die sie als Bundestags-
abgeordnete erhalten und nun aus-
gemistet hat.
Es ist kurz vor Weihnachten, und
Katja Kipping, 43, verabschiedet sich
von ihrem alten Leben.
16 Jahre lang war die Politikerin
der Linken Bundestagsabgeordnete,
nun wechselt sie von der Bundes- auf
die Landesebene, von der Opposition
in die Regierung: Kipping wird Sozial-
senatorin in Berlin. »Ich bin neugie-
rig«, sagt sie. Der Abschied kommt
ihr nicht ungelegen.
Die Auseinandersetzungen in der
Partei, besonders in der Bundestags-
fraktion, sind zuletzt wieder deutlich
härter geworden. Und Kipping war
sichtlich müde davon. Schon vor
einigen Wochen, als sich die neuen
Abgeordneten der geschrumpften
Fraktion zu einer Klausur in Leipzig
trafen, twitterte sie danach ein me-
lancholisches Herbstbild, das Bäume
und gelbe Blätter zeigte. »Manchmal
ist im Herbst die Aussicht aus dem
Zugfenster erfreulicher als der Ter-
min, der hinter einem liegt«, schrieb
sie.
Das vorläufige Ende ihrer Karrie-
re in der Bundespolitik zeigt auch,
wie brutal die Linkspartei mit ihren
eigenen Spitzenkräften umgeht, wie
sie sich in endlosen Flügelkämpfen
verheddert, anstatt scharfe Opposi-
tionspolitik zu betreiben und ihre
Führungsfiguren zu stärken. Mit Kip-
ping geht der Bundespartei nun eines
ihrer prominentesten Gesichter ver-
loren, die Politikerin war auch über
Parteigrenzen hinweg beliebt. Am

Endlich regieren


LINKE Nach 16 Jahren verabschiedet sich Katja Kipping als Abgeordnete aus dem Bundestag
und wird Sozialsenatorin in Berlin. Ihr Umzug von der Opposition in die
Landesregierung hat auch etwas mit ihrer größten Gegnerin zu tun: Sahra Wagenknecht.

Verbündete
Wagenknecht,
Bartsch:
»Russia Today«, so
nennt Kipping
die Moskau-Treuen
um Wagenknecht

Britta Pedersen / picture alliance / dpa

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