Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 27

Kipping zieht einen der Ordner aus ihrem
Regal im Bundestagsbüro und blättert. »Unsere
Vorhaben hätte ich auch gern in der Bundes-
politik umgesetzt, aber die Mehrheitsverhält-
nisse sind so, wie sie sind«, sagt sie. Kipping
glaubt, ihre Partei habe bessere Erfolgsaus-
sichten, wenn sie die Ampel von linker Seite,
also sozial-ökologisch, kritisiert, wie es auch
die zwei neuen Parteivorsitzenden Janine
Wissler und Susanne Hennig-Wellsow versu-
chen. Doch stattdessen würde sich ein Teil der
Bundestagsfraktion lieber an den Schüler-
demonstranten und anderen jungen Menschen
von Fridays for Future abarbeiten.
Die Linke hat bei der Bundestagswahl mas-
siv Stimmen an Grüne und SPD verloren, bei

den Jüngeren schnitt sie im Vergleich beson-
ders schlecht ab. Als Grund dafür sehen nicht
nur Kipping, sondern auch andere Linke die
unklare Programmatik der Partei: Steuert sie
mehr ins progressive oder eher ins konserva-
tive Lager?
Als einen großen Fehler sieht Kipping auch
das Abstimmungsverhalten ihrer Partei zur
Evakuierungsoperation der Bundeswehr in Af-
ghanistan: Damals enthielt sich die Linkenfrak-
tion größtenteils. Das Ziel des Wahlkampfs, mit
Grünen und SPD eine Regierung zu bilden, sei
dadurch nicht mehr glaubwürdig gewesen, sagt
Kipping und sieht die Verantwortung in Wagen-
knechts Lager, wo die größten Kritikerinnen
und Kritiker der Nato versammelt seien.

Kipping nennt die Gruppe nur »Russia To-
day«, weil viele von Wagenknechts Verbün-
deten enge Beziehungen zu dem russischen
Propagandafernsehsender RT unterhalten
und regelmäßig Interviews geben. Auch Wa-
genknecht selbst setzte sich zuletzt für den
Sender ein und positionierte sich gegen Lö-
schung von RT-Accounts auf Facebook und
YouTube. Diese Abgeordneten, glaubt Kip-
ping, verschreckten viele Menschen, die an
sich bereit wären, die Linke zu wählen.
Bartsch wirft sie vor, diese Gruppe zu stützen,
allein um sich selbst eine Mehrheit für seinen
Posten zu sichern. Gegen diese Bastion,
glaubt die Ex-Vorsitzende, seien die modern
denkenden Parteimitglieder auf Bundesebene
bislang nicht angekommen.
Einige Tage später, das neue Jahr hat ge-
rade begonnen. Nur zwei Kilometer Luftlinie
vom Bundestag entfernt, hat Kipping in einem
großen roten Backsteinhaus in Berlin-Kreuz-
berg ein zweites politisches Leben begonnen.
Die Kisten aus dem Bundestag sind soeben
im Büro angekommen, darin sind auch einige
Artikel und Briefe, die sie nicht entsorgen
wollte.
Kipping ist gut gelaunt, auf dem Tisch liegt
ihr grüner Stift, mit dem sie als Sozialsenato-
rin künftig ihre Vermerke auf die Akten
schreiben wird. Kipping ist zwar seit Jahr-
zehnten Politikerin, aber mit einer Verwal-
tung hatte sie unmittelbar bisher nie etwas zu
tun. »16,5 Zentimeter hatte mein Stapel mit
den Postmappen«, erzählt sie von ihren ers-
ten Tagen. Noch versuche sie, alles zu lesen,
was bei ihr auf dem Schreibtisch landet.
Es scheint so, als könnte sie selbst noch
nicht glauben, dass sie jetzt an diesem Tisch
sitzt. Noch während der Berliner Koalitions-
verhandlungen im Spätherbst hatte sie der
Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer ange-
rufen und sie zum Frühstück in einem Lokal
am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte ein-
geladen. Lange habe sie nicht überlegen müs-
sen, ob sie das Angebot annimmt.
Dass Kipping jetzt Teil einer Regierung
ist, hat sie dem moderneren Teil ihrer Partei
zu verdanken. Die erfolgreichen Landesver-
bände der Linken wie Berlin, Thüringen oder
auch Bremen und Hessen gehören dazu.
Dazu zählen Ministerpräsident Bodo Rame-
low oder Lederer in Berlin. Sie hatten den
Kurs Kippings unterstützt, als diese Vorsit-
zende war.
Mit den nachgeordneten Behörden hat die
neue Senatorin nun mehrere Hundert Mit-
arbeiter. Zum ersten Mal kann sie ihre poli-
tischen Ideen wirklich umsetzen. Sie will sich
vor allem für gute Bezahlung von Arbeit und
die soziale Infrastruktur in den Bezirken ein-
setzen. Ihre Vorgängerin, Elke Breitenbach,
galt in Berlin als Größe, die sich wie kaum
eine andere für die Benachteiligten in
der Stadtgesellschaft einsetzte. Darauf will
Kipping aufbauen. Ihre ersten Besuche im
neuen Amt führten sie zu Obdachlosen und
Geflüchteten.
Timo Lehmann n

Ex-Vorsitzende Kipping: »Die roten Haare werden wir ihr roden«, dichteten ihre Gegner

Marlena Waldthausen / DER SPIEGEL

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