Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 35

auf der Tastatur, sondern mit »rot-
zen«. Ein anderes Wort für Koksen.
Weil einer von Ertls Kollegen Kokain
dabeigehabt habe, sei »im Gesamt-
zusammenhang« davon auszugehen,
dass auch Clemens Ertl an diesem
Abend Kokain konsumiert habe. So
zumindest das Ergebnis der Chat-
Auswertung.
Nach der Razzia flöhte die Kripo
München die Chats auf Ertls Handy –
33 974 Nachrichten, zurück bis ins
Jahr 2005. Die Ermittler fanden
nichts. Seine SMS: zurück bis 2006.
Auch nichts. Die Festplatte und einen
USB-Stick seiner Mutter: 789 622
Dateien, meist Unterrichtsmateriali-
en und private Urlaubs- und Fami-
lienfotos. Wieder nichts. Den Laptop
des Vaters, 1 248 620 Dateien: Fotos,
Rechnungen, Schulmaterial. Nichts.
Auch nicht in den Haaren, die man
Ertl abschnitt, dem Blut, das man ihm
abnahm, der Urinprobe, die er abgab.
Nichts, nichts und noch mal: nichts.
Vielleicht ja, weil schlicht stimmt,
was Ertl dem SPIEGEL an Eides statt
versichert: dass er in seinem Leben
noch nie illegale Drogen genommen
habe. Vor ein paar Monaten, im Juli,
stellte die Staatsanwaltschaft die Er-
mittlungen gegen ihn in Sachen Koks
ein. Und auch wenn man keinem in
den Kopf gucken kann: Nach den Re-
geln des Rechtsstaats ist er damit un-
schuldig.
Oder fast zumindest. Denn eines
hatten die Fahnder bei ihrer erfolg-
losen Drogenjagd durch das digitale
Vorleben des Clemens Ertl noch ent-
deckt: dass Ertl irgendwann mal in
einem Chat über zwei Kollegen her-
gezogen hatte. Beleidigung also, er
musste 1000 Euro an ein Hospiz zah-
len. Und auf seine alte Dienststelle
darf er wohl auch nicht zurück. So
wie offenbar kaum ein Polizist, der
ins Visier der Ermittler geriet.
Dies ist die Geschichte des größten
Ermittlungsverfahrens innerhalb der
Münchner Polizei seit Jahren. Be-
kannt als »Koks-Skandal«, unter-
sucht von einer Sonderkommission
»Nightlife«. Sie ermittelte gegen 37
Polizisten und 21 andere Personen. Es
kam im September 2020 zu einer
Razzia, mit 19 Staatsanwälten, mehr
als 200 Polizisten, mit Spezialeinhei-
ten aus drei Bundesländern. Und der
bayerische Innenminister Joachim
Herrmann gab schon kurz danach in
der »Bild«-Zeitung den Tenor des öf-
fentlichen Urteils vor: »Was sich da
abgespielt hat, ist ... eine kriminelle
Sauerei.«
Der Rechtsstaat hat seine Zähne
gezeigt. Aber hat er sich am Ende ver-
bissen?

In München
zerbröselte
schon einmal
eine Polizei­
affäre in
ziemlich
kleine Teile.

Es gibt, nach dem Stand der Er-
mittlungen, mindestens zwei, wo-
möglich auch drei, vier oder fünf
Beamte in der Münchner Polizei, die
mit einem Promi-Dealer um die Häu-
ser zogen. Die offenbar Kokain mit
ihm schnupften, Kokain von ihm
kauften, mit Rabatt. »Sollten sich die
Vorwürfe bestätigen, haben die Be-
troffenen nichts, aber auch gar nichts
bei der Polizei zu suchen«, stellte
Münchens damaliger Polizeipräsident
Hubertus Andrä zu Recht klar.
Aber: Bei 13 von 37 beschuldigten
Beamten ist das Verfahren mittler-
weile eingestellt, weil ihnen nichts
nachzuweisen war. Weil sie als un-
schuldig zu gelten haben, ohne Wenn
und Aber. Ein weiterer ging kürzlich
mit einem Freispruch aus dem Ge-
richt, da gilt dasselbe. Dazu kommen
drei Einstellungen mit Geldauflage –
so wie im Fall Ertl, wegen der Be-
leidigung. Außerdem setzte es elf
Strafbefehle; damit will sich der
Staat oft zähe Prozesse ersparen.
Doch die Hoffnung, dass die Beschul-
digten mitspielen und gestehen, ist in
den meisten Fällen schon geplatzt.
Die Polizisten, nicht die Staatsanwäl-
te, wollen die Sache lieber vor Ge-
richt klären.
In 19 der 37 Verfahren geht es auch
nicht – oder nicht mehr – um Drogen,
sondern um ganz andere Sachen.
Mutmaßliche Beleidigung, Anstiftung
zum Geheimnisverrat, Körperverlet-
zung im Amt. Alles Zufallstreffer bei
der Auswertung der beschlagnahm-
ten Handys, Computer, Datensticks.
Bei der Großrazzia in 30 Wohnungen,
auf sieben Revieren, stießen die Er-
mittler dagegen auf nicht mal zehn
Gramm Marihuana. Und auf kein ein-
ziges Gramm Kokain.
Jakob Schmidkonz, den Chef-
ermittler der Staatsanwaltschaft, ficht
das nicht an. Schmidkonz sagt: Bei

einem Polizisten ist das öffentliche
Interesse an der Strafverfolgung be-
sonders groß. Deshalb stellt er kein
Verfahren einfach so ein, wie das sei-
ne Behörde vielleicht bei Betäu-
bungsmittelverstößen anderer Bürger
täte – und auch regelmäßig tut. Dass
Polizisten sich ans Gesetz hielten, da-
rauf müssten Staat und Bürger sich
nun mal absolut verlassen können.
Und aus dem Grund sei eine entschie-
dene Linie unbedingt nötig.
Wohl wahr, trotzdem drängt sich
die Frage auf, wann hart zu hart wird
und aus dem Exempel ein Extrem.
Wenn nämlich nicht nur das Vorleben
von Beamten über 15 Jahre auf links
gedreht wird, sondern auch das Le-
ben von Freundinnen und Freunden,
Geschwistern, Eltern. Ihre Laptops.
Ihre Schlafzimmer. Um am Ende drei,
vier Gramm Hasch und Marihuana
im Schrank eines Vaters zu finden,
zum Eigenkonsum. Offenbar gibt es
einen Reflex, sich gerade bei Ermitt-
lungen gegen Polizisten nichts nach-
sagen zu lassen und den Verdacht erst
mal lieber zu groß als zu klein zu for-
mulieren.
Dafür gibt es Beispiele: So hieß es
2015, beim SEK Köln sei es zu
menschenverachtenden Aufnahme-
ritualen gekommen – am Ende blieb
von den Vorwürfen so gut wie nichts
übrig. Oder das SEK Frankfurt: Wur-
de 2021 aufgelöst, angeblich eine
braune Brut, was sich aber laut In-
nenministerium dann doch nicht be-
stätigte. In Mülheim an der Ruhr
kamen die Ermittler wohl tatsächlich
einigen rechtsradikalen Polizisten auf
die Spur; in München zerbröselte
dagegen schon einmal eine Polizei-
Affäre in ziemlich kleine Teile.

Der Kronzeuge
Was dagegen nun als größter Skandal
in der Münchner Polizei gilt, begann
mit einem läppischen Blechschaden:
Christoph Petrou (Name geändert),
Koks-Lieferant in den Szenelokalen,
war am 8. April 2018 schwer zuge-
dröhnt mit dem Auto in ein Garagen-
tor gekracht. Festnahme, Untersu-
chungshaft, Zeit, sich Gedanken zu
machen.
Das K83, die Drogenfahndung,
hatte Petrou schon länger auf dem
Schirm, für einen großen Fang hielt
sie ihn erst mal nicht. Doch um Straf-
milderung zu bekommen, machte er,
womit keiner gerechnet hatte. Er be-
gann zu reden – und hörte nicht mehr
auf. Er redete über eine Nobeldisco,
wo er offenbar so was wie der Haus-
dealer war. Und am meisten elektri-
sierte die Ermittler, was Petrou über
Polizisten sagte, die er kannte. In

Ausriss aus »Bild«-
Zeitung 2020:
Boulevardpresse und
Innenminister
gaben das Urteil vor

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