Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
Artikel mit langer Recherche werden von meh-
reren Kolleg:innen verfasst. Der Textstil er-
scheint mir als Leser jedoch sehr einheitlich.
Gibt es da eine Aufgabenteilung und dann
letztlich nur eine Autorin? Oder wird gemein-
schaftlich so lange redigiert, bis es ein Guss ist?
Martin Berthot
Lieber Herr Berthot,
Sie haben recht, wir arbeiten gern und oft im
Team. Manchmal, weil schnell viele Recher-
chen gleichzeitig laufen müssen, wie für ein
aktuelles Titelstück. Häufi g auch, weil die
Kolleginnen und Kollegen unterschiedliche
Expertise und Kontakte haben und so einen
Text gehaltvoller machen.
In solchen Teams gibt es fast immer einen
Hauptautor oder eine Hauptautorin, die ge-
meinsam mit der Ressortleitung planen, wer
welche Teile beisteuern kann und wie alle
Teile zusammen einen stimmigen Text er-
geben. Die Reporterinnen und Reporter sam-
meln Fakten und Eindrücke, schreiben einen
Textteil und schicken ihn an den Hauptautor,
der die Einzelteile zu einem Gesamttext zu-
sammenfügt.
Danach bearbeitet die Ressortleitung den
Artikel, sie prüft, ob er stimmig aufgebaut
und verständlich ist. Das trägt dazu dabei,
dass der Artikel als ein Ganzes daherkommt.
Trotzdem bleibt etwas von der Besonderheit
der einzelnen Autoren erhalten, sei es der
lakonische Blick, der hintergründige Spott
oder die Empathie für die Menschen, die sie
getroffen haben. Cordula Meyer (Ressort Deutsch-
land/Panorama)

Wer entscheidet, welche Themen in die nächs-
te Ausgabe kommen? Wird darüber in jedem
Fachbereich abgestimmt? Merja Rayley
Liebe Frau Rayley,
dieser Prozess macht einen entscheidenden
Teil unserer Arbeit aus – wir reden die ge-
samte Woche darüber: in den Konferenzen,
im Ressort, in der morgendlichen Lage der
Ressortleiterinnen und Ressortleiter, in
etlichen Gesprächen mit der Chefredaktion
und den Blattmachern. Schließlich geht es
jede Woche um die Frage: Was gehört in den

SPIEGEL? Und was muss vielleicht nicht
hinein?
Manches Mal sind wir uns schnell einig,
manches Mal wird hart gerungen. Ist das wirk-
lich neu? Ist das relevant? Hat der Kollege das
nicht schon mal so ähnlich geschrieben? In
diesen Runden tritt der Charakter dieser
Redaktion zutage: Wir schenken uns nichts,
kämpfen – nicht selten auch zwischen den
Ressorts – um den Platz, um die Frage, was
Titel, was Leitartikel werden soll.
Eine längst ausgeschiedener Ressortleiter
verriet übrigens einmal, wie man solche
Kämpfe für sich entscheidet: nie zu früh mit-
diskutieren. Meist gewinnt derjenige, der als
Letzter seine Argumente bringt. Aber das nur
unter uns. Markus Brauck (Ressort Wirtschaft)

Warum betonen Sie Ihre Unabhängigkeit,
während Sie schon das zweite Mal Geld von
Herrn Gates annehmen? Haben Sie das nötig?
Jörg Seemann
Lieber Herr Seemann,
»SPIEGEL-Journalismus muss unabhängig
sein«, das ist für uns keine Phrase, sondern
Überzeugung und Geschäftsgrundlage. Wir
achten penibel darauf, dass unsere Journalis-
tinnen und Journalisten in Themenwahl und
Urteil frei sind, keinen Interessenkonfl ikten

unterliegen. Obwohl Werbung unserem Ver-
lag Erlöse bringt, haben werbende Unterneh-
men keinerlei Einfl uss auf unsere Bericht-
erstattung. Das gilt seit 75 Jahren.
Und es gilt auch für Stiftungen. Zum The-
ma Gates: Es handelt sich nicht um Spenden
einer Einzelperson, sondern um eine Förde-
rung durch die Bill-und-Melinda-Gates-
Stiftung für das konkrete Projekt »Globale
Gesellschaft«. Es geht darum, Berichte über
drängende globale Themen, die ohnehin
Gegenstand unserer Arbeit sind, zu verstär-
ken. Die Artikel, Fotostrecken und Videos des
Projekts sind klar gekennzeichnet und ent-
stehen exakt wie alle anderen SPIEGEL- Texte:
Die Redaktion bestimmt anhand journalis-
tischer Kriterien, ob und wie sie ein Thema
aufgreift.
Uns war und ist wichtig, transparent über
dieses Projekt zu informieren. Ausführliche-
re Antworten fi nden Sie deshalb auf der Seite
spiegel.de/gates. Dort sind auch die detaillier-
ten SPIEGEL-Standards für unsere journalis-
tische Arbeit und Unabhängigkeit verlinkt.
Matthias Streitz (Ressort Entwicklung)

Wie schaffen es Journalistinnen und Journalis-
ten, mit den Anfeindungen von Andersdenken-
den umzugehen? Irene Schönknecht
Liebe Frau Schönknecht,
ich habe an sich kein Problem mit Anders-
denkenden, ich freue mich sogar, Argumente
auszutauschen. Wenn aber nur Anfeindungen
kommen, lohnt eine Diskussion nicht. Leider
passiert das fast täglich, zumindest wenn man
wie ich zur AfD, zu »Querdenkern« oder zu
sexualisierter Gewalt recherchiert. Hassmails
und entsprechende Nachrichten in den sozia-
len Netzwerken überfl iege ich, um einen gro-
ben Überblick zu behalten und zu sehen, ob
sich der Ton verschärft, jemand immer aus-
fälliger wird, Gefahr droht. Manches reiche
ich auch an unsere Rechtsabteilung weiter.
Ansonsten versuche ich, solche Nachrichten
zu ignorieren.
Im Laufe der Jahre ist mein sprichwört-
liches Fell dicker geworden, was gut ist. Es
darf nur keine Mauer werden, sodass nichts
mehr an mich herankommt. Wenn es mich
also doch mal nervt, rede ich mit Kolleginnen
oder Freunden darüber. Wo das nur bedingt
hilft, ist bei AfD-Veranstaltungen oder »Quer-
denker«-Demonstrationen. Da wurde ich
schon beschimpft, bespuckt, geschubst, ge-
treten, mit einem Fahnenstock attackiert. Da
hilft eigentlich nur, vorsichtig zu sein, in Be-
gleitung zu gehen oder sich mit anderen Kol-
leginnen und Kollegen zusammenzutun. Mir
hilft dann der Gedanke, dass ich so angefein-
det werde, weil den Demokratiefeinden mei-
ne Recherchen nicht gefallen. Ann-Katrin Müller
(Hauptstadtbüro)

Müssen die Autoren »gendern«, oder dürfen sie
das generische Maskulinum verwenden? Be-
steht die Gefahr, dass die SPIEGEL-Texte eines
Tages mit Gendersternchen übersät sein werden
und ich mein Abo kündigen muss? Gibt es »ver-

Sie fragen.


Wir antworten.


»Löchern Sie uns!«, haben wir Sie in den vergangenen
Wochen immer wieder gebeten. Und das haben Sie
getan. Es waren zu viele Zuschriften, um auf alle
ein zugeh en. Wir mussten eine Auswahl treffen.
Hier sind unsere Antworten.

60 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022 Illustrationen: Maren Amini / DER SPIEGEL

TITEL75 JAHRE DER SPIEGEL

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