Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
mehr als ein Jahrzehnt später, jeden-
falls außerhalb von Leipzig und Dres-
den. Ich habe mich daran gewöhnt,
langsam.
In Baden-Württemberg, wo ich bis
zu meinem Aufbruch in den Osten
die längste Zeit meines Lebens ver-
bracht hatte, war ich der Ossi-Verste-
her. Qualifiziert durch Geburt in Karl-
Marx-Stadt und sporadische Besuche
in Sachsen vor und nach dem Mauer-
fall. Zudem haftete mir ein Hauch von
Abenteuer an – meine Eltern hatten
Anfang der Achtzigerjahre per Aus-
reiseantrag den Westen erreicht, wir
waren schließlich am Bodensee ge-
strandet. Von da an verbrachte ich
mein Leben weitgehend im blühen-
den Südwesten der Republik.
Schon nach den ersten Tagen in
Chemnitz wurde mir klar: Ich bin ah-
nungslos. Und wenn ich schon keine
Ahnung hatte, wie musste es denen
gehen, die noch nie einen Fuß in die
sogenannten neuen Bundesländer
gesetzt hatten? Oder höchstens im
Urlaub an die Ostsee gefahren waren?
Just 2010 veröffentlichten For-
scher aus Jena, Leipzig und Wien eine
Studie über das Bild, das die über-

regionalen westdeutschen Medien
vom Osten zeichneten. Ihre Erkennt-
nis, zusammengefasst von dem His-
toriker Rainer Gries: »Die Ostdeut-
schen werden nicht auf Augenhöhe
wahrgenommen, sondern sie bleiben
auch zwei Jahrzehnte nach dem Mau-
erfall die anderen.«
Im Osten sitzend, fiel er mir auf:
Der Blick der West-Redaktionen ist
geprägt von Stereotypen und den
immer gleichen Themen: Stasi, Neo-
nazis, ungleiche Lebensverhältnisse.
Anlass für Berichterstattung waren
fast ausschließlich Statistiken und
Jahrestage, die Beiträge beruhten
häufig auf einer Art Glücksrad-Jour-
nalismus: Reporter schwebten in öst-
lichen Gefilden ein, sahen was, hörten
was und rauschten wieder ab. Wenn
es gut lief, hatten sie Erhellendes er-
fahren, im schlechtesten Fall kehrten
sie mit bestätigten Klischees in die
westlichen Schreibstuben zurück.
In Baden-Württemberg, wo ich mit
dem Journalismus begonnen habe,
riet mir eine erfahrene Kollegin schon
als Volontär bei einer Lokalzeitung,
montags den SPIEGEL zu lesen. Da
stehe immer was drin, was neu und
wichtig sei für die eigene Arbeit. The-
men und Nachrichten, die man auf-
greifen könne. Heute, in unserer Re-
daktion der »Freien Presse« in Chem-
nitz, ist der SPIEGEL in dieser Hin-
sicht für mich bedeutungslos. Klar,
viele Kollegen lesen ihn, die meisten
auch mit persönlichem Gewinn. Aber
die Redaktionskonferenzen, in denen
jemand auf einen SPIEGEL-Beitrag
hinwies, den wir unbedingt für unse-
re Arbeit an unseren eigenen, den
Ost-Themen beachten müssten, kann
ich nach mehr als zehn Jahren an
einer Hand abzählen.
Nimmt man die verkaufte Print-
auflage als Maßstab, interessieren sich
die normalen Leserinnen und Leser

I


ch kam 2010 zurück nach Sach-
sen und war baff: wie sie einem
begegneten, die Menschen hier.
Diese Mischung aus Scheu und Stren-
ge. Kleingartenpflege mit einer nie
gesehenen Ernsthaftigkeit. Sport sel-
ten nur zum Spaß. Abendessen im
Restaurant spätestens um 18 Uhr.
Wurstgulasch. Würzfleisch. Soljanka.
Es dauerte, bis wir uns verstanden.
Bis ich sie verstand.
Die Eigenheiten der Sachsen, ja
der Ostdeutschen insgesamt, hatten
nicht einfach nur überlebt. Waren
nicht Teil eines größeren Ganzen ge-
worden, innerhalb dessen sie als folk-
loristische Besonderheit ihren Platz
fanden wie in anderen Regionen.
Die vermeintlichen DDR-Über-
bleibsel waren bestimmender Teil der
Ost-Identität. Von vielen gelebt auf
eine Art, als wollte man den Westen
nicht reinlassen in sein Leben. Als be-
stünde die Gefahr, dass man sich sonst
als Ost-Bürger in den neuen Möglich-
keiten auflöst.
Dieses Vorsichtige, Zweifelnde
und die weitgehende Abwesenheit
von so etwas wie Dolce Vita prägen
die sächsische Grundstimmung auch

OSTDEUTSCHLAND

Die Wirklichkeit ist


krass genug


Der Blick der West-Redaktionen auf die neuen Bundesländer ist geprägt
von Stereotypen und den immer gleichen Themen: Stasi, Neonazis,
ungleiche Lebensverhältnisse. Ich weiß auch, warum: weil es verdammt schwer
ist, den Osten zu erklären – selbst als Ossi. Ein Essay von Sascha Aurich

Fake News, Hate Speech oder Lügenpresse: In kaum einem
anderen Bereich hat sich in den vergangenen Jahren so
deutlich Entfremdung gezeigt wie im Verhältnis zwischen
Medien und ihren Nutzerinnen und Nutzern.
Etablierte Medien gelten Impfskeptikern, Verschwörungs­
theoretikern oder einfach denen, die sich nicht (mehr)
angesprochen fühlen, wahlweise als gekauft, parteiisch oder
politisch instrumentalisiert. Dass sie informieren, filtern
und aufklären, dass sie eine Wächterfunktion ausfüllen und
die Flut an Informationen ordnen, zählt anscheinend
nicht mehr.
Was aber bedeutet es für unser demokratisches Zusammen­
leben, wenn wir etwa in Ostdeutschland einen großen
Teil der Menschen nicht mehr erreichen? Wie verändert sich
unsere Debattenkultur, wenn Politikerinnen und Politiker,

aber auch Autorinnen und Autoren im Netz (und im schlimmsten
Fall darüber hinaus) beschimpft und angegriffen werden –
nur weil sie eine Meinung vertreten, die nicht allen gefällt?
Und wie kommt es, dass aus gerechnet in Deutschland
Wissenschaftlerinnen und Forschern nicht mehr geglaubt wird?
Vor allem aber: Was hat das mit uns, den Medien, zu tun?
Auf diese Fragen suchen wir Antworten. Was müssen wir
tun, um wieder die zu erreichen, die wir verloren haben? Wie
schaffen wir es, Vertrauen aufzubauen? Um das, was so gern als
Spaltung der Gesellschaft bezeichnet wird, zumindest nicht
größer werden zu lassen.
Anlässlich des SPIEGEL­Jubiläums haben wir ausnahms ­
weise mal andere gebeten, sich dazu Gedanken zu
machen – auch darüber, was wir als SPIEGEL besser machen
könnten.

Aurich ist stellvertre-
tender Chefredakteur
der »Freien Presse«.
Geboren 1973 im
damaligen Karl-
Marx-Stadt, zog er
im Januar 1982
mit seinen Eltern in
den Westen. 2010
wechselte er von
der »Pforzheimer
Zeitung« aus
Baden-Württemberg
zur »Freien Presse« –
nicht etwa wegen
ausgeprägter
Heimat gefühle,
sondern weil eine
interessante
Aufgabe lockte.

Uwe Mann / Freie Presse

68 DER SPIEGELNr. 2 / 8.1.2022

TITEL 75 JAHRE DER SPIEGEL

2022-02SPAllTitel456552202_Aurich-EssayKul-068068 682022-02SPAllTitel456552202_Aurich-EssayKul-068068 68 06.01.2022 23:13:4406.01.2022 23:13:44

Free download pdf