Stern (2022-02-17)

(EriveltonMoraes) #1

FOTOS: ACTION PRESS; VOLKER ROLOFF/ZDF; DDP


se denPlatzinihremLeben,densie
brauchen,damitSawatzki anderen
davonerzählenkann.Sietutdas
sachlich,keinbisschenselbstmit-
leidig. ImInterviewuntermauert
siedieErzählungenharterMomen-
te,diedasBuchungeschöntoffen-
legt, zusätzlichmitvielVerständnis
fürihreEltern.Esgehtihr,daswird
schnellklar,nicht umVorwürfe.

In„Brunnenstraße“erzählenSie
IhreGeschichte,nennendasBuch
aberRoman.UmDistanzzuwah-
renzumErlebten?
Ichbinvorsichtig, weildieErinne-
rungtrügt undsichmitBildernaus
derFantasiemischt.DaseigeneEr-
lebendecktsichnieganzmitden
Ereignissen.IchwolltemirdieMög-
lichkeitbewahren,nichtnuraufFak-
tenzurückgreifenzumüssen,son-
dernauchfreierzählenzukönnen.
IhreMutterstarbimOktober2020.
DasVerhältniszuihrwarlange
schwierigwegendesSchweigens,
mitdemsiedieErkrankungihres
MannesunddieÜberforderung
derTochterbelegte.
Seitdemmirklargewordenwar,dass
ichmichmitmeinerKindheitbe-
schäftigenmusste,hatteich ver-
sucht,mitihrzureden.Dasfielihr
schwer.InihrerGeneration wurden
Problemebessernicht thematisiert.
VielleichtkonnteIhreMutterein-
fachgutverdrängen.
Ja,vielleichtkonntesienichtanders.
UndsoetwaswiePsychotherapie
hielt siefürGeldverschwendung.
DaskenneichausvielenFamilien.
WannwusstenSie,dassSiedenDe-
ckellüftenmüssen,derIhreErin-
nerungenunterVerschlusshielt?
BisichMitte 30 war,hatteichdie
BilderausmeinerKindheitweitge-
hendausgeblendet.Als ichdann
Mutterwurde,spürteich,dassich
michmitdemThemaauseinander-
setzenmusste.Bisdahindachteich,
dieSchauspielereiunddasHinein-
versetzeninRollenwürdenmirhel-
fen.AberdaswareinTrugschluss.
Mannimmtsichimmermit.

AberSiehattensichKinderge-
wünscht?
IchhatteursprünglichnieeineFa-
miliegewollt, ichwolltemichnicht
binden.Dasändertesicherst,alsich
Christiankennenlernte.Ohneihn
wäreichvielleichtalleingeblieben.
ZumGlückbinichihmbegegnet.
ZumGlückhabenwirunserewun-
derbarenKinder.

AndreaSawatzkiteiltihreKindheit
in zweiLeben.Daserstedauertebis
zuihrem achtenLebensjahr.Sie
waralleinmitihrerMutter,oftauf
sich gestellt,aberglücklich.Die
ElternhattensichimKrankenhaus
kennengelernt,erPatient,sieKran-
kenschwester.Günther Sawatzki
warJournalist, 25 Jahreälter,ver-
heiratetundluddieMutteraufeine
DienstreisenachItalienein.Seine
Geliebte,Anfang 30 undunerfah-
renmitMännern,kehrteschwan-
ger zurück. Am23.Februar 1963
wurdeAndreageboren.Einfröhli-
chesKindmitrotenHaarenund
Sommersprossen,dasseinerstes
LebensjahraufderSäuglingssta-
tionderKlinikverbrachte,inder
dieMutterarbeitete,weilKinder
imSchwesternheimnicht erlaubt
waren.Erstkümmertensichdie
Kolleginnenum sie,dannüber-
nahmeineKinderomadieAufsicht,
späterdieVermieterin,dieauchals
Tagesmutterfungierte undeine
Tochterhatte.

WennIhreMutter zur Frühschicht
aufbrechen musste, stellte sie
ihremKinddenWecker.Siemach-
tensichFrühstückundliefenal-
leinzumKindergarten.Daswäre
heute für viele unvorstellbar.
WarumtrauenElternihrenKin-
dernsovielwenigerzu,alsIhnen
zugetrautwurde?
Ichvermute,siewollenesbesser
machen.GleichzeitigwerdenKin-
derheutepsychischvielmehr unter
Druckgesetzt,etwabeimThema
Schule,aberauchinihrerFreizeit.
Ich staune manchmal, welchen

VerpflichtungenKindernachdem
Unterricht noch nachkommen
müssen.
SielebtenineinerweiblichenWelt.
WennmaleinMannauftauchte,
beschreibensieihnals jemanden,
derfremdroch.WarIhnender
Geruchunangenehm?
Nichtunangenehm,abereswarein
Geruch,denichnicht anmichheran-
lassenwollte,weilermirfremdwar.
AlsSieacht waren,trateinMann
inIhr Leben,denSiekaumkann-
ten:IhrVater.Damitendeteder
unbeschwerteTeilder Kindheit.
MeinVaterwarMitte 60 ,seineFrau
wargestorben.MeineMutterbe-
wundertediesenklugen,gebildeten
Mannnochimmer.Alsozogenwir
zu ihminseineWohnunginder
Brunnenstraße.

DerzweiteTeilihrerKindheitbe-
gann.Die kleineAndrea warim
schwäbischen Vaihingen aufge-
wachsen,mussteinBaldhamneue
Freundinnen suchen und ihre
Mutter,diesiebisdahinganzfür
sich gehabt hatte, plötzlich mit
einemFremdenteilen.Docherst
malwarsiefrohüberdieAussicht,
endlichzubekommen,wasalle an-
derenhatten:eineFamilie.DasFa-
milienlebenaberbegannmiteinem
Betrug:GüntherSawatzki warnicht
mehrdererfolgreiche Journalistvon
einst,sondernohneAufträgeund
verschuldet.DieMuttermussteals
NachtschwesterdieFamilieernäh-
ren.DieTochterwurde fürdieBe-
treuungdesVaterseingespannt.

Ihr VaterwarJahrgang1906,sehr
strengunderwartete,dasssich
Kinderunterordnen.Wieprägend
wardas?
Erschwerend kam die Krankheit
hinzu,dieihn oftzornigwerdenließ,
wennichnichtgleichkuschte.Natür-
lichhatsichdasbeimireingeprägt.
Ichhabegelernt,michanzupassen,
Dingenicht großzuhinterfragen.
Gab Ihnen die Angepasstheit
Halt? 4

DIE TOCHTERROLLE


WAR EINE ZUMUTUNG


IhreSöhne
Bruno(l.)und
MoritzBerkel,
hier 2 018
beieiner
Filmpremierein
Berlin,sind
mittlerweile
19 und 22




    1. 2022 43



Free download pdf