Stern (2022-02-17)

(EriveltonMoraes) #1
KerstinHellberg
undFotografRobert
Riegergefieldas
Ausflugslokalim
Grunewald,dasAndreaSawatzki als
Treffpunktvorgeschlagen hatte

Siehatmichteilweiseeherverunsi-
chert,weilichwusste,ichkomme
damitnicht weiter.
GleichzuBeginnverletzteIhr Va-
terSiesehr:ErheirateteIhreMut-
terzwar,schlossSiejedochvonder
Feieraus.IhreMutterfügtesich.
Waswirdamalsalledreinichtwuss-
ten:Erwardaschonkrank. Diese
Krankheitkommtschleichend. Die
BetroffenentunDinge,diefüran-
derenichtnachvollziehbarsind.
SchonbaldmusstenSiesichum
IhrendementenVaterkümmern.
WarIhnenklar,wasdieKrankheit
bedeutete?
SiehattekeineNamen,wurde tabui-
siert.MeineMutterwirdesverstan-
denhabenalsKrankenschwester,
abersiehatesmirnicht erklärt.
AlsSie zehnwaren,begannIhr
VaterseinGedächtniszuverlieren
und die Orientierung, wurde
manchmalaggressiv.
MirhatvorallemdieUnruhezu
schaffengemacht,dieStimmungs-
umbrüche,diesesRumlaufen,die
Versuche,abzuhauenodermeine
Mutterzuwecken.Abgesehenda-
von,dassmichmeinVaterschon
früh, als ichelf Jahrealt war,nicht
mehr erkannte.
DieDemenzschrittraschvoran.
Mit 13 wuschen,wickeltenund
füttertenSieIhrenVater.Siebe-
schreibenimBuch,wieSienachts,
wennIhreMutterarbeiteteundSie
mitihmalleinwaren,keinAuge
zubekamen.
Ichhabe gehorcht,obnebenandie
Schranktür quietschte.Dashieß,
dassersichaufdenWegmachte,
dasserbaldrufenddurchdieWoh-
nungirrenundanderHaustürrüt-
telnwürde.Dannmussteichihn
zurückinsBettbringen.Vonden
NächtenhätteichmeinerMutter
gernschondamals erzählt.
MalbandenSieIhrenVateram
Stuhlfest,damiterRuhegab.Oder
SiewünschtensichseinenTod.
SpäterschämtenSiesichdafür,
littenunterdemGefühl,versagt zu
haben.Dabei warenSieeinKind
undvollkommenüberfordert.
Heuteweißichdas.Daswarauchein
Beweggrund,diesesBuchzuschrei-
ben.KinderhandelnauseinerNot
heraus.KeinKindträgtSchuld. Esist
sehrwichtig, dass man sich von


Schuldgefühlenfreimacht.Viele
Menschensträubensich. Dabeiwird
mannurglücklich, wennmansich
ausderOpferrollebefreit.Dasist
schmerzhaft,aberwichtig.Wenn
mansichderKindheitverweigert,
werdeneinemauchvielekreative
Momenteabhandenkommen.Die
steckeninderselbenSchublade.

DasKindAndreaentwickelteauch
Schuldgefühle gegenüber seinen
Haustieren,einemKaninchenund
einemWellensittich,dieerkrankten,
weilessichaufgrundderUmstän-
de nicht genugkümmernkonnte.

IrgendwannlittauchdieSchule.
AnfangswaricheineguteSchüle-
rin.Aberich schliefkeineNacht
mehr.Tagsüber konnteich mich
einfachnicht mehrkonzentrieren.
Erst wiederholteich eineKlasse,
dannverließichdasGymnasium.
DamitwareinTraumgeplatzt.Sie
wolltenTierärztinwerden.
IchliebteTiereundliebesienoch
immer.Ichwollteunbedingt,dass
meine Kinder mit Tieren aufwach-

sen.WirhattenzeitweisezweiKat-
zen,dreiHunde,Meerschweinchen,
Hamster,Mäuse,Hasen.DasHaus
warvoll. WennmichandereMütter
bemitleideten,weilichGassigehen
undKäfigesauberhaltenmusste,
dachteichnur:Genaudashabe ich
mirschonimmergewünscht.
IhreSöhnesindmittlerweileer-
wachsen.KönnenSieloslassen?
DasistschoneinegewaltigeUm-
stellung. Aberschönistes doch,
wenndieKinderihrenWegfinden
undihr eigenesLebenbeginnen.
WieergingesIhnenselbstbeim
AbschiedvomZuhause?
IchhattedasGefühl,dassichmit
demAuszugausdemElternhaus
automatischauchdieKindheithin-
termir lasse.DaswareinTrug-
schluss.DieeigentlicheAbnabelung
istvielkomplizierter. 2

AndreaSawatzki:
„Brunnenstraße“,
erscheintam
24 .2.bei Piper,
176 Seiten, 20 Euro
22222

Tonin Ton:
Währenddes
Gesprächslugte
dieJanuarsonne
durchdie
Fensterdes
Lokalsam
Schlachtensee

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