Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 9 / 26.2.2022DER SPIEGEL 31

Viele Grüne finden, es sei ein Feh-
ler gewesen, dass Scholz sich im De-
zember auf das Gruppenantragsver-
fahren eingelassen habe. »Lauterbach
und Scholz hätten die Impfregelung
besser über die Ampel organisieren
sollen. Die Ausgestaltung wäre dann
in der Koalition zu verhandeln ge-
wesen«, sagt ein Grünenabgeordne-
ter. Über die Ausgestaltung hätte man
ja verhandeln können. »Wir sind jetzt
schon in einer Phase des Muddling-
through angelangt«, des Durchwurs-
telns, beklagt ein erfahrener Grünen-
politiker.
Der SPD-Linke Stegner drängt auf
ein Machtwort des FDP-Vorsitzen-
den. »Wir sollten eine pragmatische
Lösung finden. Wenn Christian Lind-
ner sich entscheidet, würde das sicher
helfen«, sagt Stegner. Fraktionschef
Rolf Mützenich will zudem noch mal
das Gespräch mit seinem Kollegen
Christian Dürr suchen, heißt es. An
einem geschwächten Kanzler könne
auch die FDP kein Interesse haben.
Unter Sozialdemokraten und Grü-
nen wird gerätselt, was die Liberalen
antreibt. Manche mutmaßen, die FDP
wolle sich mit Blick auf die anstehen-
den Landtagswahlen profilieren.
Denn die Umfragewerte der Libera-
len sind gesunken (siehe Grafik).
Tatsächlich gründen die Sololäufe
der FDP vor allem auf einer Furcht:
Seit Beginn der Ampelkoalition gibt
es in der Parteispitze die Sorge, man
könnte in der Wahrnehmung der eige-
nen Anhängerschaft mit SPD und
Grünen zu einem Block verschmel-
zen. In der engeren Führung wird die
Lage so analysiert: Man dürfe gegen-
über zwei linken Partnern nicht un-
kenntlich werden.
Dafür zu sorgen ist vor allem die
Aufgabe des designierten FDP-Gene-
ralsekretärs. Seine Mission sei: »so
viel FDP wie möglich«, sagt Bijan
Djir-Sarai. Der Drang, sich unter-
scheiden zu wollen, hat auch mit den
Startbedingungen dieser Regierung
zu tun. SPD und Grüne stehen sich
kulturell und inhaltlich näher, für die
FDP hingegen war die Ampelkoali-
tion kein Herzensprojekt. Noch im
Wahlkampf hatte Lindner auf ein
Bündnis mit der Union gehofft, er-
gänzt durch die Grünen in einer Ja-
maikakoalition. Schnell musste die
FDP-Führung umsteuern. »Man darf
nicht vergessen, für uns in der FDP
war der Weg in die Ampel länger als
für SPD und Grüne«, sagt Djir-Sarai.
Der Frust bei vielen Grünen und
Sozialdemokraten ist mittlerweile ge-
waltig. »Die FDP ist im Panikmodus
angekommen«, sagt eine Abgeordne-
te der Grünen, »das geht zulasten von

Haushalt und signalisierte bereits An-
fang Februar seine Zustimmung zu
einer Erhöhung der Pendlerpauschale.
Einmal mehr fühlen sich die Grü-
nen in dem Verdacht bestärkt, die
FDP nehme es mit dem Klimaschutz
nicht ernst genug. »Immer neue teu-
re Forderungen rauszuhauen ist dem
gemeinsamen Arbeiten nicht zuträg-
lich. Vor allem wenn sie, wie bei
der Erhöhung der Pendlerpauschale,
dem Klima schaden und Besserver-
dienende privilegieren«, sagt der grü-
ne Bundestagsabgeordnete Andreas
Audretsch.
Tage zuvor hatte sich FDP-Bun-
desverkehrsminister Volker Wissing
gegen den Vorschlag der grünen Um-
weltministerin Steffi Lemke gestellt,
in Brüssel niedrigere CO 2 -Grenzwer-
te für Autos durchzusetzen. Wissing:
»Man kann nicht immer nur Druck,
Druck, Druck ausüben.«
Schmerzhaft wird den Grünen die-
ser Tage bewusst, welche Macht die
FDP durch die Übernahme der
Schlüsselressorts Verkehr und Finan-
zen bekommen hat. Und dass die Li-
beralen zusammen mit der SPD am
längeren Hebel sitzen, wenn sie sich
einig sind. So war es schon in den
Koalitions verhandlungen.
In der FDP hingegen herrscht gute
Stimmung. Gerade einmal 11,5 Pro-
zent der Zweitstimmen holte die Par-
tei bei der Bundestagswahl, rund
3 Prozentpunkte weniger als die Grü-
nen und 14 Prozentpunkte weniger
als die SPD. Trotzdem schafft es die
kleinste Truppe seit dem ersten Tag,
der Koalition ihren Stempel aufzu-
drücken. Selbst altgediente Liberale
können sich nicht daran erinnern,
wann die FDP zuletzt so viel Einfluss
in einer Koalition hatte.
Das sorgt nicht nur bei den Grü-
nen, sondern auch in der SPD für
Frust. Grund ist vor allem der Corona-
kurs der FDP. Die Weigerung der Li-
beralen, den Großteil der Schutzmaß-
nahmen über den 19. März hinaus zu
verlängern, schwächt die Position des
Kanzlers. Wegen der FDP konnte
Scholz den Ländern in der Minister-
präsidentenkonferenz Mitte Februar
keine Zusagen machen. Ob er denn
überhaupt ein Verhandlungsmandat
für die Mehrheit im Bundestag habe,
ätzte Bayerns Ministerpräsident Mar-
kus Söder (CSU).
Die Coronapolitik belastet das
Verhältnis von SPD und FDP, zwi-
schen denen es in den ersten Regie-
rungswochen noch überraschend gut
gelaufen war. Wen man in der SPD
auch fragte, stets gab es Lob für die
Liberalen, die sich so professionell,
verlässlich und kooperativ zeigten.

Genervt waren die Genossen eher
von aktivistischen Grünen.
Doch der rot-gelbe Friede ist da-
hin. Die öffentlichen Provokationen
der FDP in der Coronapolitik haben
die Sozialdemokraten verstört. Schon
als der designierte Generalsekretär
Bijan Djir-Sarai den Präsidenten des
Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler,
öffentlich anzählte, zeigten sich viele
Genossen empört. Manche vermute-
ten, der Koalitionspartner ziele auf
SPD-Gesundheitsminister Karl Lau-
terbach. Dessen Autorität werde mit
den Angriffen auf den ihm unterstell-
ten RKI-Chef untergraben.
Noch größere Irritationen lösen
Rufe aus der FDP nach einem »Free-
dom Day« aus. »Ich halte gar nichts
von dem Gerede über einen Freedom
Day«, sagt Thomas Kutschaty, SPD-
Bundesvize und Spitzenkandidat bei
der Landtagswahl in Nordrhein-West-
falen. »Wir haben die Coronamaß-
nahmen doch nicht aus Lust an Frei-
heitseinschränkungen ergriffen, son-
dern um Freiheit zu ermöglichen. Es
ging darum, Menschenleben zu schüt-
zen.« Ein Spitzengenosse geht noch
weiter: Er hoffe, dass die »Besoffen-
heit der FDP um einen Freedom Day«
bald ende.
Nächster Konflikt: die allgemeine
Impfpflicht. Zuletzt ließen führende
FDP-Politiker weiter offen, wie sie
sich entscheiden werden, eine Grup-
pe um Bundestagsvizepräsident
Wolfgang Kubicki hatte ihre Ableh-
nung schon vor Weihnachten an-
gekündigt. Was die Genossen jetzt
vor allem ärgert, ist die Distanzie-
rung von FDP-Justizminister Marco
Buschmann. »Wenn wir die Impfquo-
te nicht deutlich erhöhen, drohen im
Herbst erneut Freiheitseinschränkun-
gen für Millionen Bürger«, sagt SPD-
Mann Ralf Stegner. »Das kann die
FDP nicht wollen.«
Auch die Grünen sind verärgert
über den Coronakurs der Liberalen.
»Wer auf Zeit spielt, setzt unsere Frei-
heit in Herbst und Winter aufs Spiel.
Zeitspiel ist also ein Foulspiel an uns
allen«, sagt der Gesundheitspolitiker
Janosch Dahmen. Grüne vermuten,
dass ein von dem FDP-Abgeordneten
Andrew Ullmann federführend ko-
ordinierter Gruppenantrag für eine
Impfpflicht ab 50 Jahren absichtlich
so spät vorgestellt wurde, dass die
erste Lesung der Entwürfe nicht be-
reits im Februar erfolgen konnte. Ein
Vorwurf, den die FDP-Fraktion zu-
rückweist.
Die Schuld für das Impfpflicht-
Chaos sehen die Grünen allerdings
nicht nur bei der FDP, sondern auch
bei den Sozialdemokraten.

Designierter General-
sekretär Djir-Sarai:
Ein Problem mit drei
Buchstaben?

Bundestagsvize-
präsident Kubicki:
Den Kanzler
geschwächt

»Für uns in
der FDP war
der Weg in die
Ampel länger
als für SPD
und Grüne.«
Bijan Djir-Sarai,
Freidemokrat

Daniel Hofer

Thomas Niedermueller / Getty Images

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