Der Spiegel (2022-02-26)

(EriveltonMoraes) #1
32 DER SPIEGELNr. 9 / 26.2.2022

DEUTSCHLAND

glaubwürdiger Politik. Für uns ist das inak-
zeptabel.« Die FDP habe die Vereinbarung,
Differenzen stilvoll intern zu klären, aufge-
kündigt, heißt es aus der SPD. »Das Problem
in der Coronapolitik hat drei Buchstaben«,
sagt ein SPD-Stratege: »FDP.«
Zum regelrechten Stimmungskiller in der
Koalition entwickeln sich die Haushalts-
gespräche. Am 9. März will das Kabinett den
Etat für 2022 verabschieden sowie die Eck-
werte für 2023 und den Finanzplan bis 2025
beschließen. Die Aufstellung verlangt den
Ministern eine Menge ab, vor allem Verzicht.
Und der Überbringer der schlechten Botschaft
ist, sein Amt bringt es mit sich, Finanzminis-
ter Lindner.
Die Ressortchefs haben in ihren Anmel-
dungen viel mehr Geld verlangt, als Lindner
zur Verfügung steht. Bis 2026 lagen die For-
derungen eine knappe halbe Billion Euro
oberhalb des zulässigen Finanzrahmens, al-
lein für 2022 summierte sich die Überbuchung
auf rund 70 Milliarden Euro.
Jetzt rächt sich, dass sich die Ampelpar-
teien während ihrer Verhandlungen über eine
Koalition um die Entscheidung herumge-
drückt haben, was ihnen wichtig ist und zuerst
umgesetzt werden soll. Auch versäumten sie
es, ihren Vorhaben ein Preisschild umzuhän-
gen. So vereinbarten SPD, Grüne und FDP
etwa eine Kindergrundsicherung, legten aber
nicht fest, ob sie 5, 10 oder 20 Milliarden Euro
kosten darf.
Die Prioritätensetzung wird nun in den
Etatverhandlungen nachgeholt. Bis Ende ver-
gangener Woche war noch jeder Einzeletat
strittig. Jetzt muss Lindner selbst ran, um
seine Kabinettskollegen bei sogenannten
Chefgesprächen auf Kurs zu bringen. Bis
nächste Woche dauert der Verhandlungs-
marathon.
Die Botschaft des Finanzministers lautet
stets gleich: Nicht für alle Projekte ist Geld
vorhanden. Lindner will die Neuverschul-
dung dieses Jahr bei knapp 100 Milliarden
Euro deckeln, im kommenden Jahr will
er die Schuldenbremse wieder einhalten,
die ihm nur eine minimale Kreditaufnahme
erlaubt.
Die harte Linie bietet ihm Gelegenheit,
erschüttertes Vertrauen in den eigenen Reihen
wiederherzustellen. Das hat er durch eine
seiner ersten Aktionen im Amt gefährdet.
Viele Liberale nehmen ihm übel, dass er im
Rahmen des jüngsten Nachtragshaushalts
60 Milliarden Euro für die Bekämpfung der
Coronakrise in den Energie- und Klimafonds
verschob, um Spielraum für Investitionen zu
gewinnen.
Mit der Berufung von Lars Feld, dem ehe-
maligen Vorsitzenden des Sachverständigen-
rats, zu seinem persönlichen Wirtschafts-
berater konnte er Ansehen bei den eigenen
Anhängern zurückgewinnen. Der Freiburger
Ökonomieprofessor steht für eine sehr wirt-
schaftsliberale Sicht.
Die Personalie treibt aber vor allem Grüne
auf die Zinne. Feld gilt in deren linkem Flügel

als Aktivist einer ökonomischen Orthodoxie.
Doch Lindner kann solche Vorhaltungen
leicht kontern mit dem Hinweis, dass mehre-
re grüne Ressortchefs ehemalige Aktivisten
sogar zu Staatssekretären berufen haben:
Wirtschaftsminister Habeck holte sich mit
Sven Giegold einen Mitbegründer von Attac-
Deutschland ins Haus, Außenministerin
Anna lena Baerbock stellte jüngst die ehe-
malige Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan
als Sonderbeauftragte für internationale
Klimapolitik vor.
In der SPD üben vor allem die Parteilinken
Kritik an Lindner, der Rest der Partei hält sich
auffallend zurück. Viele erkennen an, dass es
für die Liberalen nicht einfach gewesen ist,
ihren Anhängern das Bündnis mit Rot-Grün
zu erklären, da müsse man ihnen auch Erfol-
ge gönnen.
Vor allem der frühere Bundesfinanz-
minister Olaf Scholz wirkt auf Insider sehr
zufrieden mit seinem Nachfolger Lindner.
Während er in Sitzungen oft auf sein Handy
schaue, wenn Vertreter der Grünen oder
auch seiner eigenen Partei reden, heißt es,
schenke er Lindners Ausführungen meist volle
Aufmerksamkeit. So war es Teilnehmern zu-
folge bei der Januarsitzung des Koalitions-
ausschusses.
Und auch am Mittwoch mussten sich Ha-
beck & Co. am Ende geschlagen geben. Für
eine Erhöhung der Pendlerpauschale um drei
Cent ab dem 21. Kilometer einen Koalitions-
krach vom Zaun zu brechen – das wollte die
Grünenspitze dann doch nicht riskieren. Das
Einzige, was sie im Gegenzug erhielt, war eine
wolkige Zusicherung, der zufolge die Pendler-
pauschale noch in dieser Legislaturperiode
neu geordnet werden soll.
Es oblag der neuen Grünenchefin Ricarda
Lang, den Kompromiss anschließend als Sieg
zu verkaufen. »Das ist ein starkes Paket«,
behauptete Lang nach der Sitzung des Koali-
tionsausschusses. »Ich denke, mit diesem Pa-
ket zeigen wir, dass die Menschen in diesem
Land sich gerade auch in schwierigen Zeiten
auf die Ampelkoalition verlassen können.«
Kevin Hagen, Valerie Höhne,
Christian Reiermann, Christoph Schult,
Christian Teevs, Severin Weiland n

Lindner-Berater Feld

Reto Klar / FUNKE Foto Services

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