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(Martin Jones) #1

nämlich ihren Beitrag zu gesteigerter Hirnleistung. Diese
Forschungen erwuchsen teils aus den Bemühungen seit
den 1970er Jahren, das Gen zu finden, das Chorea Hun-
tington verursacht. 1993 schließlich gelang es der Gene-
tikerin und Neuropsychologin Nancy Wexler und 57 weite-
ren Forschern der Huntington’s Disease Collaborative Re-
search Group, den Erbfaktor zu isolieren und seine DNA-
Sequenz zu bestimmen. Sie entdeckten ihn auf Chromo-
som 4. Diese Arbeit ermöglichte es, die krank machende
Wirkung von zu vielen – mindestens 36 – CAG-Tripletts zu
erkennen.
Der Genetiker David C. Rubinsztein lieferte 1994 Hin-
weise darauf, dass der Abschnitt im Huntingtin-Gen mit
den CAG-Tripletts mitunter von einer Generation zur nächs-
ten länger wird. Im selben Jahr entdeckte der Chemie-
nobelpreisträger von 1962 Max Perutz (1914 –2002), dass
Glutamin – die von dem Triplett kodierte Aminosäure – die
Bindung eines Proteins an andere Proteine fördert. Danach
traten diese Forschungen lange auf der Stelle. Man hielt
derartige Sequenzvervielfachungen eher für genetischen
Schrott ohne Funktion und konzentrierte sich lieber auf die
nichtpathologischen Funktionen solcher Genabschnitte.


Warum werden zu lange Gene nicht ausgemerzt?
Neuerliches Interesse an jenen Tripletts im Huntingtin-Gen
weckten 2008 John W. Fondon III, der heute an der Univer-
sity of Texas in Arlington arbeitet, und David G. King von
der Southern Illinois University Carbondale. Sie fragten
nämlich, ob solche wiederholten ganz kurzen DNA-Sequen-
zen – die auch bei einigen anderen erblichen neurodegene-
rativen Krankheiten vorkommen – wohl für die Entwicklung
und Evolution des Nervensystems eine Rolle spielen bezie-
hungsweise gespielt haben. Möglicherweise, spekulierten
sie, käme ein Mehr an CAG-Tripletts im Huntingtin-Gen dem
Verstand zugute, würde also schon bei Tieren die kognitiven
Fähigkeiten steigern und somit Sozialkompetenzen nicht
zuletzt rund um die Fortpflanzung fördern.
Eine Reihe von daraufhin durchgeführten Untersuchun-
gen bestärken diese These. Beispielsweise zeigten Forscher
um Michael Hayden von der University of British Columbia
in Vancouver: Jeder 17. Mensch trägt ein »gesundes«
Huntingtin-Gen mit zwischen 27 und 35 CAGs, also eine
ziemlich hohe, jedoch noch nicht schädliche Anzahl. Sol-
che Menschen haben tendenziell mehr Neurone im Palli-
dum als Menschen mit weniger Tripletts – in einem Hirnge-
biet, das sich an höheren kognitiven Prozessen beteiligt
und die Bewegungsplanung und -steuerung kontrolliert.
Hierzu könnte der Befund unserer Arbeitsgruppe passen,
wonach in Zellkulturen bei mehr Tripletts komplexere,
einem Nervensystem stärker ähnelnde Strukturen entste-
hen (siehe »Entwicklungsgeschichte nachspielen«, S. 71).
Gute kognitive Leistungen zeigen zunächst ebenfalls
Personen, die wegen einer zu hohen Triplettanzahl an
Chorea Huntington erkranken werden. Solange sie noch
gesund sind, schneiden sie nach einer Untersuchung von
Carsten Saft und Christian Beste von der Ruhr-Universität
Bochum von 2012 in verschiedenen Wahrnehmungstests
sogar besser ab als Menschen mit nicht krankhaften
Huntingtin-Varianten.


Protostomier /
»Urmünder«
Gliederfüßer /
Arthropoden

Deuterostomier / »Neumünder«

Stachelhäuter

Chordatiere

Wirbeltiere

Säugetiere

Primaten

Schädellose

Huntington-Gen

CAG-Sequenz

rote Punkte:
Anzahl an
CAG-Tripletts

Maus

Dictyostelium

Honigbiene Lanzettfischchen Mensch

A
e

Seeigel Zebrafisch

Taufliege

bis zu 35 CAG-
Wiederholungen
sind harmlos

Evolution eines Gens


Der bisher einfachste Organismus, bei dem das
Huntingtin-Gen in Erscheinung tritt, ist die Amöbe
Dictyostelium discoideum. Mit Hilfe des Gens kann
sie strukturierte Verbände bilden. Es bekam in der
Evolution der Tiere immer mehr Funktionen – zu-
erst in der Embryonalentwicklung und später noch
der des Gehirns. Damit geht eine zunehmen de
Anzahl einer bestimmten kurzen DNA-Sequenz
einher: des Nukleotidtripletts CAG
für die Aminosäure Glutamin.

Welche speziellen Aufgaben mögen dieses Gen und
sein Protein im Gehirn erfüllen? Als Forscher es im Gehirn
von Mäusen ausschalteten, starben Hirnzellen ab. Die
Tiere entwickelten nun ähnliche Symptome wie Mäuse,
denen man ein krank machendes Huntingtin verpasst
hatte. Wir selbst wiesen in Zellkulturen nach, dass eine
»gesunde« Version die Nervenzellen widerstandsfähiger
und stressfester macht. Wir zeigten außerdem, dass
über das Gen die Synthese des Wachstumsfaktors BDNF
(Brain-derived neurotrophic factor) stimuliert ist. Dieses
Protein unterstützt die Bildung von neuronalen Netzen und
die Signalübertragung im Gehirn.
Am aktivsten und vermutlich am wichtigsten ist das
Huntingtin-Gen jedoch in der frühen Embryonalentwick-
lung. Wenn es fehlte, kämen wir gar nicht erst zur Welt,
denn der Keim geht früh zu Grunde. Das Gen tritt während
der so genannten Gastrulation in Aktion: der Phase der

eine Amöbe;
bisher einfachs-
ter Organismus
mit Huntingtin-
Gen

Huntingtin
reguliert Zell-
teilung der
Fortpflanzung.

Huntingtin-Gen noch ohne die betreffende CAG-Sequenz
AMANDA MONTAÑEZ / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2016; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
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