Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

wandel bei, sondern auch zur städtischen Luftverschmut-
zung: 10 der 20 smogreichsten Städte der Welt liegen in
Indien. Kohlekraftwerke verbrauchen viel Wasser. Eine
wachsende Abhängigkeit von Kohle- und Ölimporten
schwächt die Wirtschaft; im Lauf der globalen Ölkrisen
wurde die indische Währung stark abgewertet.
Der beste Weg zu moderner und sauberer Energie führt
über den Stromsektor. Erneuerbare Stromquellen werden
mit fallenden Kosten zunehmend wettbewerbsfähig ge-
genüber Kohle. Wenn Motorroller, Autos, Busse und Last-
wagen künftig mit Strom fahren, ist der Verkehr nicht
mehr völlig vom Erdöl abhängig.
Aber das alles ist leicht gesagt. Mehr als 300 Millionen
Inder haben überhaupt keinen Zugang zum Stromnetz.
Weitere Millionen sind zwar angeschlossen, bekommen
aber nur hier und da Strom, weil das Netz in einem er-
bärmlichen Zustand ist – und gewiss nicht in der Lage,
zusätzliche Energie aus Wind und Sonne zu verkraften.
Nach heftigen Unwettern bleiben manchmal tausende
Menschen wochenlang ohne Strom, wie ich auf meiner
Reise durch Indien erlebte.
Ungeachtet dieser Tatsachen malt Modis Regierung ein
verheißungsvolles Bild von der Zukunft. In Paris gelobte
sie, den nicht fossil erzeugten Stromanteil von heute
24 Prozent bis 2030 auf 40 Prozent zu erhöhen. Ende 2016
erhöhte Modi seine Prognose sogar auf 60 Prozent – ein
wahrhaft ehrgeiziges Ziel. Heutzutage beruht Indiens
nichtfossiler Strom vorwiegend auf Wasserkraft, aber die
Planung weiterer Wasserkraftwerke droht an vielen Hin-
dernissen zu scheitern: Baugenehmigungen sind schwierig
zu beschaffen, für Stauseen müssen große Flächen aufge-
kauft werden, und das Aushandeln von Entschädigungen
für die umgesiedelten Gemeinden schürt politischen Streit.
Auch Kernkraftwerke können angesichts chronischer
Bauverzögerungen keine führende Rolle übernehmen.
Um ihr 60-Prozent-Ziel zu erreichen, setzt die Regierung
deshalb fast ausschließlich auf Sonne und Wind, die bis
2030 rund 350 Gigawatt liefern sollen. Davon würden
250 Gigawatt durch Solarkraft erzeugt; das wären mehr als


80 Prozent der heute weltweit verfügbaren Solarenergie.
Dieses Ziel ist zwar kühn, wird aber immer realistischer
dank der fallenden Solarkraftkosten: Sie sind in Indien wäh-
rend der vergangenen fünf Jahre um zwei Drittel gesunken.
Eine neue Solaranlage ist schon heute billiger als ein neues
Kraftwerk, das Importkohle verbrennt, und wird 2020 sogar
kostengünstiger sein als eines, das heimische Kohle nutzt.
Außerdem investieren die Regierung und ausländische
Geldgeber in ein nationales Netz so genannter grüner Korri-
dore. Diese Übertragungswege verbinden sonnige Regio-
nen wie die Wüste Thar im Bundesstaat Rajasthan mit weit
entfernten Städten wie Mumbai und Delhi.
Die Regierung setzt sich das ehrgeizige Ziel, die Dächer
in Städten, aber auch in entlegenen, nicht ans Stromnetz
angeschlossenen Dörfern mit Solarmodulen auszustatten.
Zum Vergleich verweist man gern auf das Fernmelde-
wesen, das einen Riesensprung vom lückenhaften Festnetz
zu flächendeckendem Mobilfunk geschafft hat. Ebenso,

AUF EINEN BLICK
OHNE INDIEN UNMÖGLICH

1


Der Energiebedarf der wachsenden Bevölkerung
Indiens nimmt stark zu. Wenn sich der dortige
Energiesektor nicht wandelt, bedrohen seine enormen
CO 2 -Emissionen die globalen Klimaziele.

2


Um den CO 2 -Ausstoß zu beschränken, muss Indien
den Übergang von Kohle zu Erdgas bewältigen und
ein zuverlässiges Stromnetz aufbauen, das große Men-
gen von Wind- und Solarenergie aufnehmen kann.

3


Zusätzlich muss das Land Energiesparmaßnahmen
einleiten und umweltschonende Verkehrsmittel
fördern. Dafür braucht es technische und finanzielle
Unterstützung aus dem Ausland.

Seit Jahrzehnten
brennen in den
Minen nahe der
Großstadt Jharia
ungeheure Kohle-
feuer, verursacht
durch Zigaretten,
Blitzschlag oder
Selbstentzündung.
Sie blasen perma-
nent giftige Gase
und Kohlen dioxid in
die Luft.

GETTY IMAGES / LIGHT ROCKET / JONAS GRATZER
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