Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

meint man, könnte Indien in kurzer Zeit zu lokaler Solar-
energie übergehen, die ohne nationales Leitungsnetz
auskommt. Tatsächlich hat sich die Menge der Solarmo-
dule in jedem der vergangenen vier Jahre fast verdoppelt.
Das mag zwar sein, aber große Fotovoltaik-Freiflächen-
anlagen sind viel billiger, und ein umfassendes Netz kann
moderne Geräte wesentlich besser mit Strom versorgen –
und nicht bloß die paar Glühlampen und Ventilatoren, für
die ein Solarmodul auf dem Dach ausreicht. Es gilt also,
sowohl die zentrale als auch die dezentrale Energieversor-
gung zu fördern und das Stromnetz auszubauen und
zu verbessern. Dabei können einzelne Solarmodule und


Batterien das gesamte System stabilisieren, indem sie zu
einem lokalen Netz – einem Microgrid – verbunden wer-
den, das eine Wohngegend, ein Krankenhaus oder ein
Rechenzentrum bedient.


Erdgas hilft –
doch Energiesparen entscheidet
Dennoch wird das Angebot an erneuerbarer Energie dem
schnell zunehmenden Bedarf nicht nachkommen. Zudem
sind verlässliche Energiequellen nötig, die das unvor-
hersehbare Schwanken bei Solar- und Windkraftanlagen
ausgleichen. Vorläufig ist das Speichern in Batterien zu
teuer, um das Problem flächendeckend zu lösen.
Als Ausweg bieten sich Gaskraftwerke an: Erdgas
verursacht nur halb so viel CO 2 -Ausstoß wie Kohle. Derzeit
erzeugt es bloß acht Prozent von Indiens Strom, denn die
heimische Produktion fällt kaum ins Gewicht, und Import-
gas ist teuer. Deshalb haben frühere Regierungen lieber
auf die reichlich vorhandene heimische Kohle gesetzt.
Doch da das weltweite Angebot von Flüssiggas zunimmt,
sinken die Preise in Asien rapide.
Gaskraftwerke lassen sich billiger und schneller errich-
ten als Kohlekraftwerke. Zudem können sie ihre Leistung
rasch variieren und damit die Schwankungen der erneuer-
baren Energien ausgleichen. Erdgas kann an Stelle von
Kohle und Öl Gebäude und Fabriken mit Wärme versorgen;
es kann sogar Verkehrsmittel antreiben und dadurch die
CO 2 -Emissionen weiter reduzieren. Vikram Singh Mehta,
Leiter der Denkfabrik Brookings India und früher Chef der
Firma Shell India, plädiert daher dafür, Indiens Energie-
politik auf Erdgas auszurichten. Das Land müsse massiv in
ein eigenes Pipelinenetz für den Gastransport investieren
sowie in Terminals für den Flüssiggasimport.
Die Regierung Modi scheint auf Mehta zu hören. Sie
versprach im Dezember 2016, weder die öffentliche Hand


noch der Privatsektor würde nach 2022 noch ein einziges
Kohlekraftwerk in Auftrag geben; dafür soll mehr Erdgas
zum Einsatz kommen.
Aber selbst bei einer konsequenten Hinwendung zu
erneuerbaren Energien und Erdgas werden auf mittlere
Sicht Kohle und Erdöl den indischen Energiemix prägen.
Deshalb sind, wie Navroz Dubash vom Center of Policy
Research in Neu-Delhi betont, Investitionen in eine ener-
gieeffiziente Wirtschaft entscheidend. Indien könnte zum
leuchtenden Vorbild eines Entwicklungslands werden,
dessen Wirtschaft wächst, ohne dass gleichzeitig Energie-
verbrauch und Emissionen durch die Decke gehen.
Nach einer Prognose der Internationalen Energieagen-
tur in Paris wird Indien bei gleichbleibender Effizienz 2040
viermal so viel Strom brauchen wie gegenwärtig, doch
eine konsequente Energiesparpolitik kann die Zunahme
halbieren. Derzeit verzehrt die Industrie mehr als 40 Pro-
zent des indischen Energieaufkommens. Bei der Produk-
tion von Stahl, Ziegeln und Düngemitteln würden effizien-
tere Maschinen sowie der Übergang von Kohle zu Gas
oder Strom enorm viel Energie und Schadstoffe einsparen.
Auch der atemberaubend wachsende Bausektor birgt
ein großes Einsparpotenzial. Drei Viertel der Gebäude, die
2040 stehen werden, sind heute noch nicht vorhanden.
Entsprechend droht der Stromverbrauch für Wohnungen
und Geschäfte vor allem durch die Ausbreitung von Klima-
anlagen zu explodieren, wenn die neuen Gebäude nicht
Energie sparen.
Bereits heute ist Indien ein Vorreiter bei Maßnahmen
zur Kostensenkung von energieeffizienten Produkten. Eine
öffentlich-private Partnerschaft namens Energy Efficiency
Services Limited, die massentaugliche Geräte billig anbie-
tet, feiert durchschlagende Erfolge. Die Initiative hat bisher
mehr als 200 Millionen LED-Energiesparlampen zum Preis
herkömmlicher Glühbirnen verkauft – somit deutlich
billiger als im Westen üblich – und subventioniert nun die
Entwicklung effizienter Klimaanlagen. Wenn das Beispiel
Schule macht, wird die millionenfache Nachfrage des neu
entstehenden Mittelstands nach modernen Dienstleistun-
gen die Produktion sparsamer Geräte ankurbeln.
Indien könnte auch etwas gegen die wachsenden
Emissionen des Verkehrssektors unternehmen. Derzeit
verbraucht er nur 14 Prozent des nationalen Energieauf-
kommens, weil sehr wenige Inder ein Auto besitzen, doch
bis 2040 dürfte sich die Treibstoffnachfrage infolge höhe-
rer Einkommen mehr als verdreifachen. Die politischen
Entscheidungsträger verlangen inzwischen bessere Ver-
brauchswerte bei neu zugelassenen Fahrzeugen. Die
indischen Städte sollten darüber hinaus in Ladestationen
investieren, um Elektroautos attraktiver zu machen und
den Einsatz erneuerbarer Energien im Verkehr zu ermögli-
chen. Da mehr als 80 Prozent aller in Indien verkauften
Fahrzeuge Zwei- oder Dreiräder sind, könnte die Regie-
rung die Elektrifizierung vorantreiben, indem sie Elektro-
roller und -rikschas fördert. Zudem würde ein gutes öffent-
liches Verkehrswesen das Verlangen nach privatem Auto-
besitz bremsen.
Ein besser organisierter städtischer Verkehr könnte
buchstäblich Millionen Leben retten. Delhi und andere

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FOTOLIA / LAURIN RINDER
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