Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2017

(Tuis.) #1

REZENSIONEN


PHYSIK
GELUNGENE
RUNDUMSCHAU

Von allgemeine Relati-
vi tätstheorie bis
Z-Boson und quer
durch die Zeiten
behandelt dieser Band
die ganze Physik.


Wissenschaftshistori-
ker Ernst Peter Fischer
hat ein »großes« Buch
der Physik vorgelegt, das
schon von Umfang und Auf-
machung her diese Be-
zeichnung verdient. Auch
inhaltlich erweist es sich
als ziemlich umfassend.
Fischer beschreibt die
Physik als eine Naturwis-
senschaft mit Sonderstel-
lung, die tiefe Einsichten in
die Natur ermöglicht. Im


  1. Jahrhundert beginnt sie
    sich mit Galileo Galilei und
    später Isaac Newton neben
    der Philosophie zu etablie-
    ren – und wird im 20. Jahr-
    hundert zu jener Disziplin,
    welche die Philosophie
    vorantreibt und ihr Antwor-
    ten abverlangt. Bald spaltet
    sich die Physik in einen
    experimentellen und einen
    theoretischen Teil; diese
    beiden sind aber immer ein
    Ganzes und können nur


zusammen existieren.
Fischer knüpft hier an die
»Kritik der reinen Vernunft«
von Immanuel Kant an, die
Physiker wie Max Planck
und Albert Einstein stark
beeinflusst hat.
Der Autor stellt zehn
grundlegende Begriffe der
Physik in der Reihenfolge
ihrer Bedeutung vor, wobei
er viele historische Fakten
einbezieht. An vorderster
Stelle steht die »Energie«,
untersucht und definiert
von Aristoteles, Leonardo
da Vinci, Rudolf Clausius,
James Joule, James Watt,
Emmy Noether und natür-
lich Planck und Einstein.
Weitere Abschnitte sind
dem Atom, der Materie,
dem Feld, der Raumzeit und
den Quanten gewidmet;
abschließend werden noch
die Elementarteilchen, das
heutige Standardmodell der
Elementarteilchenphysik
und das Prinzip der Komple-
mentarität erörtert. Fischer,
zu dessen bevorzugten
Themen die Quantenmecha-
nik gehört, spart nicht mit
Bezügen zur tagtäglichen
Welt. So führt er uns den
gewaltigen Irrtum von Poli-
tologen und Wirtschafts-
experten vor, die im Hin-
blick auf bedeutende Verän-
derungen gern von »Quan-
tensprüngen« reden – nicht
wissend, dass Quanten-
sprünge in der Physik die
allerkleinsten energetischen
Veränderungen sind.
In Bezug auf die Materie
ist Fischers Beschreibung
des menschlichen Gehirns
mit der ihm innewohnenden
Vernunft interessant. Die-
ses Organ erreicht den
Höchstgrad an Komplexität
innerhalb des Universums,
soweit uns bekannt. Die
Materie versucht sich hier
quasi selbst zu finden und
zu verstehen.

Ein weiteres Kapitel
behandelt Disziplinen, in
die wir heute die Physik
unterteilen: klassische
Mechanik, klassische Elek-
trodynamik, Thermodyna-
mik, Relativitätstheorie und
Quantenphysik. Und wieder
stellt Fischer die einschlä-
gigen Entdeckungen in den
jeweiligen historischen Kon-
text. Hier findet sich so
ziemlich alles, was in der
Physik Rang und Namen

hatte – beginnend bei
Aristoteles, Galilei und
Newton bis hin zu Einstein,
Planck, Bohr, Feynmann
und Heisenberg.
Dem heutigen Stand der
Physik ist das vierte Kapitel
»Mosaik der Moderne« ge-
widmet. Wer denkt, dass er
jetzt mit dem Lesen aufhö-
ren kann, weil er sowieso
nichts mehr versteht, irrt.
Fischer stellt in elf Fach-
disziplinen die aktuellen
Forschungsrichtungen und
-ergebnisse so dar, dass
man sie nachvollziehen und
in das eigene Weltbild ein-
ordnen kann. Geophysiker
beispielsweise untersuchen,
welch gewaltige Energie in
der Erde gespeichert ist und
ständig von der Sonne emp-
fangen wird. Es ist beein-
druckend zu erfahren, wie
sich die Kontinentalmassen
verschoben haben und
immer noch verschieben,
und dass wir Menschen seit
zirka 11 000 Jahren in einer
Warmzeit leben.
Das Buch schließt mit
dem Kapitel »Physik und
Poesie« ab, in dem es von
da Vinci über Goethe und
Shakespeare bis zu Heisen-
berg und Einstein geht. Der

Schriftsteller Raymond
Chandler schmeichelt den
Physikern: »Ohne Wissen-
schaft wäre die Kunst ein
wüstes Durcheinander aus
Folklore und emotionaler
Scharlatanerie.«
Das Werk ist ausgiebig
bebildert, wobei viele Fotos
und grafische Darstellun-
gen leider nicht in die Be-
schreibungen einbezogen
sind und nur der Ästhetik
dienen. Das sind immerhin

67 ganzseitige Darstellun-
gen. Schade, dass die in-
teressanten Gebiete Radio-
aktivität und Kernphysik /
Kerntechnik mit den renom-
mierten Physikern Antoine-
Henri Becquerel, Otto
Hahn, Enrico Fermi und den
Curies keine Rolle spielen.
Fischer gibt rund 650
Schlagworte an, so dass ein
leichtes Navigieren möglich
ist. Wer sich weiterführend
informieren möchte, kann
die gut zitierte Originallite-
ratur oder eines der ande-
ren 24 Bücher des Autors
einsehen. Ungewöhnlich ist
der weiße Druck auf
schwarzem Hintergrund.
Grafisch sicher eine exzel-
lente Lösung, aber Bemer-
kungen können nicht mehr
an den Rand geschrieben
werden.
Das »Große Buch der
Physik« eignet sich für alle,
die Freude am Erkennen
der uns umgebenden Welt
haben und das Denken
nicht scheuen. Und das fast
ohne Formeln.

Klaus Konschak ist Physiker,
Strahlenschutzberater und
ar beitete viele Jahre als Leiter
des Zittauer Lehr- und For-
schungsreaktors.

Ernst Peter Fischer
DAS GROSSE BUCH
DER PHYSIK
Fackelträger, Köln 2017
320 S., € 40,–

Im Gehirn versucht sich die Materie


quasi selbst zu finden und zu verstehen

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