Spektrum der Wissenschaft Spezial - Biologie Medizin Hirnforschung Nr3 2017

(Ann) #1


Jedes Jahr erhalten weltweit zehntausende Menschen
ein Organtransplantat. Doch während das medizini­
sche Fachwissen rund um Organverpflanzungen rapide
angewachsen ist, fehlt es an Spenderorganen. Im Schnitt
sterben jeden Tag schätzungsweise 16 Menschen in Europa
und 22 in den USA, während sie auf ein Ersatzorgan war­
ten – sei es ein Herz, eine Leber oder ein anderer Körperteil.
Und die Kluft zwischen der Zahl der Patienten, die eine
Transplantation benötigen, und der Menge der zur Verfü­
gung stehenden Spenderorgane wird immer größer.
Eine Möglichkeit, dieser Unterversorgung etwas entge­
genzusetzen, besteht darin, Ersatzorgane im Labor zu
züchten. Noch vor einigen Jahren glaubten Wissenschaft­
ler, dies mit Stammzellen bewerkstelligen zu können, die
sich in verschiedene Gewebe ausdifferenzieren können.
Hierbei versucht man, die Zellen in einem künstlichen
Gerüst, dessen Gestalt dem jeweiligen Organ nachemp­
funden ist, zu einem Gewebeverband heranwachsen zu
lassen. Das scheitert allerdings bisher daran, die Ausdiffe­
renzierung so gekonnt zu steuern, dass ein voll funktions­
fähiger Körperteil entsteht. Forscher verfolgen die Idee
zwar weiter, kommen aber nur langsam voran.
Eine kleine, jedoch wachsende Zahl an Wissenschaft­
lern, mich eingeschlossen, hält einen anderen Weg für
aussichtsreicher: nämlich der Natur die Organsynthese zu
überlassen. Die Evolution hat bereits ein ausgezeichnetes
Verfahren hervorgebracht, um eine Hand voll identischer
Zellen in sämtliche spezialisierten Organe und Gewebe
eines kompletten Organismus zu verwandeln – sei es eine
Maus oder ein Mensch. Diese Meisterleistung gelingt
innerhalb von Wochen und Monaten, nachdem Ei­ und
Samenzelle zu einer Zygote verschmolzen sind. Ohne ein
künstliches Gerüst entwickelt diese sich zu einem ausge­
wachsenen Lebewesen mit Herzkammern, Lungen, Nieren
und anderen Körperteilen. Deshalb drängt sich die Mög­
lichkeit geradezu auf, Organe aus Schweinen oder ande­
ren Tieren zu entnehmen, um sie Patienten einzusetzen.
Ein normales Schweineherz wäre aber nur von gerin­
gem medizinischem Nutzen, da seine Verpflanzung in
einen menschlichen Körper eine massive Abstoßungsreak­
tion des Immunsystems provozieren würde. Zwar verwen­
den Mediziner heute Herzklappen von Schweinen als
Gewebeersatz für Menschen, aber erst, nachdem diese
chemisch vorbehandelt wurden, um die Immunabstoßung
zu verhindern. Das dabei angewendete Verfahren würde
bei komplexen Organen zum Verlust der Funktion führen.
Meine Kollegen und ich sind allerdings davon überzeugt,
dass es möglich ist, Organe aus menschlichen Zellen in
Schweinen oder Rindern zu züchten. Das resultierende
Tier wäre eine Chimäre, ein Lebewesen also, das Körper­
teile zweier verschiedener Spezies in sich vereinigt – ganz
ähnlich dem Greifen aus der griechischen Mythologie, der
den Kopf und die Schwingen eines Adlers und den Körper
eines Löwen besaß.
Unser Ziel ist es, ein solches Mischwesen zu erzeugen,
indem wir humane Stammzellen in sorgfältig präparierte
Tierembryonen einbringen, so dass Chimären mit menschli­
chen und tierischen Anteilen entstehen. Nachdem man
diese eingeschläfert hat, kann man ihnen die menschlichen

Organe entnehmen, um sie Patienten zu transplantieren.
Die Idee klingt vielleicht etwas weit hergeholt, aber For­
scher in den USA und in Japan haben bereits gezeigt, dass
sie grundsätzlich funktioniert. Mehrere Arbeitsgruppen
injizierten unabhängig voneinander Stammzellen von Ratten
in Mäuseembryonen und ließen die resultierenden Misch­
wesen von Mäuseleihmüttern austragen. Nach einigen
Wochen Schwangerschaft kamen Tiere auf die Welt, die
wie Mäuse aussahen und sich auch so verhielten – bis auf
die Tatsache, dass sie Körperteile von Ratten besaßen.
Wissenschaftler aus meiner und aus anderen Gruppen
haben auch schon den nächsten Schritt unternommen und
humane Stammzellen in Schweineembryonen injiziert.
Einige dieser Verpflanzungen waren erfolgreich: Sowohl
der Embryo als auch das in ihm entstehende menschliche
Gewebe entwickelten sich normal. Wir setzten die Chi­
mären in Säue ein und ließen sie von diesen drei bis vier
Wochen lang austragen. Diese Zeit möchten wir künftig
sukzessive ausdehnen und jeweils ermitteln, wie viele
Zellen des Embryos menschlichen Ursprungs sind. Voraus­
gesetzt, die Versuche verlaufen erfolgreich und wir erhalten
die behördliche Erlaubnis, beabsichtigen wir, die Embryo­
nen schließlich vollständig heranwachsen zu lassen – was
bei Schweinen etwa vier Monate dauert.
Allerdings sind wir noch nicht so weit, diesen letzten
Schritt, die Züchtung chimärer Ferkel, in Angriff zu neh­
men: Wir müssen noch viel lernen darüber, wie man
humane Stammzellen und Tierembryonen optimal präpa­
riert, so dass die Chimären die gesamte Schwangerschaft
überleben. Eine Menge kann schiefgehen. Aber selbst
wenn es uns nicht gelingen sollte, vollständig ausgeformte
Organe zu züchten, dürften wir durch unsere Experimente
zumindest ein besseres Verständnis davon bekommen,
wie komplexe und schwere Krankheiten entstehen, fort­
schreiten und sich klinisch manifestieren – beispielsweise
Krebserkrankungen. Falls wir jedoch Erfolg haben, könnte
unser Ansatz enorme Wirkungen auf die Transplantations­
medizin zeitigen. Wartelisten für Patienten, die ein Organ
benötigen, würden möglicherweise bald der Vergangen­

AUF EINEN BLICK
MISCHWESEN FÜR DIE MEDIZIN

1


Biologen arbeiten daran, menschliche Körperteile in
Tieren heranwachsen zu lassen. Sie möchten damit
dem Mangel an Spenderorganen entgegenwirken,
der für viele Patienten tödliche Folgen hat.

2


Das Konzept besteht darin, humane Stammzellen in
speziell vorbereitete Tierembryonen einzupflanzen,
so dass der entstehende Organismus – eine Chimäre –
menschliche Organe ausprägt.

3


Nach der Geburt der Jungtiere lassen sich ihnen die
entsprechenden Körperteile entnehmen, um sie
Patienten einzusetzen.
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