Wie neu einige veränderte Merkmale tatsächlich sind,
von denen Anthropologen eigentlich seit Jahrzehnten
wussten, ergaben erst Genomstudien im neuen Jahrtau-
send. So enthält der Speichel bei heutigen Nachfahren von
Ackerbauern in der Regel deutlich mehr Amylase als bei
modernen Jägern und Sammlern. Dieses Enzym zerlegt
Stärke in kleinere Zuckereinheiten. Die meisten heutigen
Menschen besitzen von dem zugehörigen Gen – AMY 1 –
mehrere Kopien, manchmal mehr als zehn. Dagegen
haben zum Beispiel die traditionell lebenden Datooga in
Tansania nur ganz wenige Kopien dieses Gens. Das Phä-
nomen findet sich weltweit. Wo Menschen Getreide
anbauten, muss es sich für sie ausgezahlt haben, die
Stärke schon beim Kauen gut aufschließen zu können.
Zu den am besten untersuchten Anpassungen an die
Landwirtschaft zählt die Laktosetoleranz im Erwachsenen-
alter. An sich bilden zwar Säuglinge und Kleinkinder das
im Darm zum Abbau von Milchzucker (Laktose) benötigte
Enzym Laktase, doch die Herstellung wird später bei der
Mehrzahl der Menschen eingestellt. Mindestens fünfmal in
der jüngeren Vergangenheit setzten sich allerdings unab-
hängig voneinander Mutationen durch, die auch Erwach-
senen eine Verwertung von Milch erlauben. Dies geschah
etwa bei drei Völkern Afrikas südlich der Sahara mit einer
langen Tradition der Rinderhaltung. Eine weitere solche
Mutation kommt in Arabien vor. Offenbar hatte sie einst
Populationen von Kamel- und Ziegenhirten Vorteile ge-
bracht.
Am häufigsten und heute am weitesten verbreitet ist
die fünfte solche Mutation. Sie findet sich bei Bevöl-
kerungen aus Irland bis Indien mit Schwerpunkt in Nord-
euro pa, wo meist mehr als 90 Prozent der Individuen sie
tragen. Offenbar rührt sie von einem einzigen Menschen
her, der vor schätzungsweise 7500 Jahren lebte (siehe
Spektrum April 2014, S. 70). Der berühmte Gletschermann
»Ötzi«, der vor 5500 Jahren in den Südtiroler Hochalpen
starb, besaß sie nicht. Vielleicht kam die Genvariante
damals im Alpenraum noch wenig vor. Auch bei den
frühen europäischen Bauern fehlte sie wohl. Sie fand sich
zumindest in keiner DNA-Probe von über 5000 Jahre
alten Skeletten. Dass heute in derselben Region gut drei
Viertel der Menschen diese Genversion tragen, ist nur
scheinbar widersprüchlich, denn die Diskrepanz lässt sich
mit Hochrechnungen zu den Auswirkungen einer na-
türlichen Selektion erklären: Eine vorteilhafte Mutation
nimmt in einer Population leicht überhand, wenn ihre
Häufigkeit im Lauf der Genera tionen exponentiell steigt.
Eine Zeit lang macht sich die neue Variante noch we-
nig bemerkbar; doch erscheint sie erst häufig genug, kann
sie bald vorherrschen.
Auch erstaunlich viele äußerliche Merkmale der heu-
tigen Menschen haben keine lange Vergangenheit. Das
starke, glatte Haar der Ostasiaten beruht zum Beispiel
wesentlich auf einer Mutation in dem Gen EDAR, die sich
erst vor gut 30 000 Jahren ereignete. Das Genprodukt ist
für die Steuerung der frühen Entwicklung von Haut, Haa-
ren, Zähnen und Nägeln wichtig. Auch die amerikanischen
Ureinwohner trugen bereits diese Variante, als sie Amerika
besiedelten.
Tatsächlich ist die Evolutionsgeschichte unserer Haut-,
Haar- und Augenfarbe oft bemerkenswert jung. Anfangs
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AUF EINEN BLICK
DIE MENSCHHEIT WIRD BUNTER
1
Sogar noch in den letzten 10 000 Jahren ermöglichten
neue Mutationen biologische Anpassungen an verän-
derte Lebensbedingungen. Dazu gehören kulturelle
Errungenschaften wie die Milchwirtschaft.
2
Weil die Bevölkerungen nach der Umstellung auf den
Ackerbau stark zunahmen, stieg das Angebot an
potenziell günstigen neuen genetischen Varianten, an
denen Selektionsmechanismen angreifen konnten.
3
Fraglos wird der Mensch auch künftig evolvieren.
Obwohl sich die Bevölkerungen mischen, wird es den
kosmopolitischen Einheitstyp nicht geben. Dazu sind
die einzelnen Merkmale zu unabhängig voneinander.