Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

TITEL


16 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.


D


as Motorradwerk im Städtchen
Irbit hat eine ruhmvolle Ver-
gangenheit. Seit 1941 schrau-
ben Beschäftigte knapp 2000 Kilo-
meter östlich von Moskau Zweiräder
und Beiwagen zusammen, rumpelnde
Ungetüme wie aus einer längst ver-
gangenen Zeit. Das Uralgebirge, in
dessen Region die Stadt liegt, hat den
Maschinen ihren Namen gegeben. In
Russland kennt die Ural noch jedes
Kind. Nur kauft sie dort schon lange
kaum einer mehr.
Nun droht der Fabrik zum Ver-
hängnis zu werden, was bis vor Kur-
zem noch wie die Rettung schien, für
Marke, Werk und Arbeitsplätze: die
Integration auf dem Weltmarkt.
Die Geschäftsführung hat die Fer-
tigung der Ural-Gespanne einge-
stellt, die Bauteile fehlen. Das meis-
te Material stammt aus dem Westen:
Bremsen aus Italien, Zahnräder aus
Deutschland, Kolben aus Amerika.
Bis zu 80 Prozent der Komponenten
kamen bisher aus Ländern, die laut
Kreml inzwischen als »unfreundliche
Staaten« gelten. 99 Prozent der Rä-
der werden zudem exportiert, viele
in die USA, an Ural-Fans wie Holly-
woodstar Brad Pitt. Doch damit ist
es vorbei, seit die westlichen Straf-
maßnahmen greifen.
Nach mehr als 80 Jahren werden
weite Teile der Fertigung das Ural-
gebirge nun wohl verlassen müssen.
Geschäftsführer Ilja Chait hat ange-
kündigt, eine neue Fabrik in Kasach-
stan zu eröffnen. Nur so werde man
wieder Zugang bekommen zu Kun-
den und Lieferanten.
Der Fall ist bezeichnend für die
Lage vieler Firmen in Russland. Die
Sanktionen haben in der Wirtschaft
die Verhältnisse auf den Kopf gestellt.
Unternehmen, die eben noch beson-
ders innovativ und erfolgreich waren,
finden sich nun auf der Seite der Ver-
lierer. Den heftigsten Schlag haben
die Sanktionen ausgerechnet jenen
Firmen versetzt, die in den vergange-
nen Jahrzehnten auf Effizienz ge-
trimmt wurden und ihr Heil in der


Weltwirtschaft suchten. Nun werden
sie im Eiltempo aus den globalen
Wertschöpfungsketten geworfen. Das
gilt auch für den Boomsektor IT: Die
Branche kämpft mit einer massiven
Abwanderungswelle und dem wach-
senden Misstrauen im Westen. Die
Autoindustrie liegt am Boden.
Zeigt sich nun, dass Kritiker rich-
tiglagen, die Russland schon immer
als atomar hochgerüsteten Riesen auf
tönernen Füßen gesehen haben? Ein
»Nigeria mit Schnee«, wie Google-
Mitgründer Sergey Brin einmal spot-
tete? Mit einem Bruttosozialprodukt
in der Größenordnung von Spanien.
Der Kreml reagiert, wie er es in
solchen Lagen immer tut: Er gibt
Durchhalteparolen und Milliarden
aus. Eine vollständige Isolierung
»eines so großen Landes wie Russ-
land ist ganz sicher unmöglich«, be-
hauptet Präsident Wladimir Putin.
Allein in die Flugzeugindustrie wer-
den nun umgerechnet rund neun Mil-
liarden Euro gepumpt. Damit sollen
bis 2030 insgesamt 1000 Passagierjets
»made in Russia« gefertigt werden.
Eine Fantasiezielmarke: Selbst mit
Zugang zu westlicher Technik schaff-
te die Branche nicht einmal 20 Flieger
im Jahr.
In diesem Jahr dürfte die Wirt-
schaft massiv einbrechen. Der Inter-
nationale Währungsfonds rechnet mit
einem Minus von 8,5 Prozent, die
Weltbank mit 11,2 Prozent. Der in
Europa und den USA erhoffte freie
Fall aber ist ausgeblieben. Der Kurs
des Rubels ist leidlich stabilisiert, die
Schlangen vor den Geldautomaten
sind verschwunden. In Moskau tragen
manche Sparer ihr Geld sogar wieder
zu den Banken, statt es unterm Kopf-
kissen zu bunkern. Die westliche
»Strategie eines wirtschaftlichen
Blitzkriegs ist nicht aufgegangen«,
behauptet Putin. Aber hat er recht
damit?
Im Mittelpunkt der russischen Kri-
senabwehr steht Notenbankchefin
Elwira Nabiullina. Mit harter Hand
führte sie Kapitalverkehrskontrollen

ein und setzte über Wochen den Han-
del an der Moskauer Börse aus, um
einen Crash zu verhindern. Weil sie
sich trotz innenpolitischen Gegen-
winds eigentlich immer an im Westen
anerkannte Standards halten, gelten
die Wirtschaftspolitiker um die mäch-
tigste Frau des Landes als »Flügel der
Wirtschaftsliberalen«.
Den Experten ist Hitzköpfigkeit
fremd. Stets haben sie darüber ge-
wacht, dass Moskau in guten Zeiten
Reserven anlegt und nicht über seine
Verhältnisse lebt. Auffallend ist die Dis-
ziplin, mit der Putin ihnen den Rücken
frei hält von Abschottungsspinnereien
einiger Hardliner. So hatten Abgeord-
nete vor Kurzem im Parlament Vor-
schläge eingebracht, Russland solle
wegen der Sanktionen aus der Welt-
handelsorganisation WTO austreten.
Der Vorstoß versandete.
Moskaus Wirtschaftspolitiker ver-
suchten, ausländische Investoren im
Land zu halten »und nicht alle Brü-
cken zum Westen abzubrechen«, sagt
Janis Kluge, Russlandökonom bei
der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Das ist verblüffend: Moskau handelt
in vielem noch immer so, als wären
die Sanktionen nur eine Episode, als
könnte es für Russland noch einen
Weg zurück zur Normalität geben.
Dabei sieht vieles danach aus, als
würde sich die russische Wirtschaft
von den Volkswirtschaften des Wes-
tens entkoppeln, womöglich sogar
von weiten Teilen der Weltwirtschaft.
Die Wirtschaftsdaten sind teilweise
so verheerend, dass Russland die Ver-
öffentlichung der Handelszahlen ge-
stoppt hat.
Die Zweifel wachsen, ob Russland
westliches Know-how vollständig aus
anderen Ländern ersetzen kann. Aus
eigenen Quellen kann es kaum schöp-
fen. Die Liste der russischen Inno-
vationsflops ist lang und mitunter
unterhaltsam. Für den Bau des
Hybridautos Yo-Mobil wurde zwar
eine Fabrikhalle in Sankt Petersburg
hochgezogen. Über die Installation
der Maschinen eines süddeutschen
Zulieferers aber kam das Projekt nie
hinaus. Nicht wie geplant verlief auch
die Vorstellung des tanzenden Robo-
ters »Boris«: Unter der Verkleidung
kam ein Mensch zum Vorschein.
Dahinter steckt ein grundlegendes
Problem. Fortschritt entsteht meist
aus dem Streben nach höherer Effi-
zienz. Der russischen Wirtschaft, die
laut Schätzungen inzwischen zu
mehr als 50 Prozent vom Staat kon-
trolliert wird, ist das an vielen Stellen
fremd – mit weitreichenden Konse-
quenzen, wie sich an der Autoindus-
trie zeigt.

Kummer gewohnt


SANKTIONEN Die westlichen Strafen treffen russische Unternehmen massiv –


und doch ist es dem Kreml bislang gelungen, den großen


Crash zu vermeiden. Ist die Wirtschaft des Landes stärker als gedacht?


* ohne Brennstoffe;
** 2021: vorläufige Zahlen;
S◆Quelle: GTAI, Russisches
Finanzministerium

Steuereinnahmen
Russlands, in Mrd.
Rubel**

Moskaus
Geldquellen

aus Gas und Öl
aus ander en Quellen

„….………

†….………

†……‡ †…†„

Gesamteinnahmen
2021: 25.287 Mrd.
Rubel

Ausfuhrgüter
Russlands, 2020
in Prozent

,

,

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Sonstige

Maschinen

Kohle

Eisen und Stahl

Rohstoffe*

Gold

Chem. Erzeugnisse

Nichteisen-Metalle

Nahrungsmittel

Petrochemie

Erdöl
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