Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 37

Wahlkreis seit Jahren, sagt der frühe-
re Sozialarbeiter Karlheinz Endru-
schat, aber: »Es hat sich nichts ver-
bessert.« Er und Kutschaty haben
einst in der Essener SPD zusammen-
gearbeitet, Kutschaty war Vorsitzen-
der, Endruschat Stellvertreter. Sie
schmiedeten Pläne am Küchenzim-
mertisch von Endruschat. Inzwischen
ist er aus der SPD ausgetreten, was
auch mit seinem früheren Kumpel zu
tun hat.
»Thomas Kutschaty verkennt die
wahren Probleme im Essener Nor-
den«, sagt er. Günstiger Wohnraum
sei wichtig, aber es brauche auch hö-
herwertige Wohnungen und Eigenhei-
me, damit es »eine Durchmischung in
der Sozialstruktur« gebe, sagt Endru-
schat. Die Zahl der Menschen mit Mi-
grationshintergrund steige seit Jahren,
die Folgen sehe Kutschaty mit seiner
»linken, sozialdemokratischen Ideo-
logie« nicht. Kutschaty, ein Altlinker?
Der Politiker, den Endruschat be-
schreibt, hat kaum Gemeinsamkeiten
mit Scholz.
Kutschaty wurde als Kind eines
Eisenbahnerhaushalts geboren, die
Familie lebte in einer 53-Quadrat-
meter-Wohnung. Kutschaty machte
Abi tur, studierte Jura. Jedenfalls das
hat er mit Scholz gemein. Jemand in
der SPD, der beide gut kennt, sagt:
»Beide sind Juristen, beide lesen sich
in alles ein. Sie haben immer das Ziel,
ihre Argumente auf sicherem Grund
aufzubauen, dabei ist das in diesen
Zeiten utopisch.«
Später arbeitete Kutschaty für die
Verbraucherzentrale, beriet Miete-
rinnen und Mieter. Er habe gemerkt,
sagt er, dass man Gesetze ändern
müsse, um die Situation der Men-
schen zu verbessern, daher sei er in
die Politik gegangen. Kutschaty sagt,
seine Biografie passe zu seinen poli-
tischen Zielen, er komme »nicht aus
einer Adelsfamilie«. Er erzählt gern,
dass er in Essen in einer Zechensied-
lung wohne, wo man alle Nachbarn
duze und zusammenhalte.
Endruschat sagt: »Mit der Ruhr-
gebietsromantik wird die miserable
Situation schöngeredet. Ich kann kein
›Glück auf‹ mehr hören.«
Dreimal kam Scholz zuletzt nach
NRW, kurz vor der Wahl wird er
noch einmal mit Kutschaty auftreten.
Man hätte den Kanzler gern öfter
gebucht, heißt es in der SPD. Aber
irgendwann hätten sich die Genos-
sen in Schleswig-Holstein beklagt,
wo am 8. Mai ein neuer Landtag ge-
wählt wird. Im Norden wollten sie
auch etwas vom großen Bruder ab-
bekommen.

Hetzer« in seine Richtung. Kutschaty
sieht sich um, er sucht nach zurech-
nungsfähigen Gesprächspartnern.
Franz Raulf ist kein Impfgegner,
er ist SPD-Mitglied und möchte über
die Ukraine reden, was für Kutschaty
fast noch unangenehmer ist. »Warum
haben Sie den Schröder in Ihrer Rede
nicht angesprochen?«, will der Ge-
nosse wissen. Ohne eine Antwort ab-
zuwarten, macht er weiter: »Hunder-
te Tote liegen in der Ukraine am We-
gesrand, die werden abgeschlachtet,
wir sind viel zu langsam.« Die Grünen
hätten das begriffen. »Müssen wir uns
von Baerbock und Hofreiter sagen
lassen, wie es geht?«, fragt Raulf.
Er sei 1939 geboren, er habe die
Weltkriegsbomben noch erlebt und
habe damals im Keller gesessen wie
jetzt die Menschen in der Ukraine:
»Warum drehen wir den Gashahn aus
Russland nicht zu?« Ein Embargo hät-
te »fatale Folgen«, sagt Kutschaty, er
rate zu »Besonnenheit«.
Scholz zögert zu dieser Zeit noch,
schwere Waffen an die Ukraine zu
liefern, er spricht von der Gefahr
eines dritten Weltkriegs. Inzwischen
hat er seine Meinung geändert. Auch
Kutschaty zögerte erst, auch er sprach
von einem dritten Weltkrieg, und in-
zwischen hat auch er seine Meinung
geändert. Er läuft dem Olaf auf den
Marktplätzen hinterher.
Seine Gegner von der CDU wer-
ben mit dem Kampf gegen Clans, mit
Nulltoleranzpolitik, die das Land si-
cherer gemacht haben soll. Seine SPD
verspricht vor allem mehr: mehr Er-
zieherinnen und Erzieher, mehr Leh-
rerinnen und Lehrer, mehr Pflegekräf-
te. Was die Strategen in beiden Par-
teien nicht auf dem Zettel hatten, sind
die Schattenthemen. Die Wahlkämp-
fer der CDU plagt die Mallorca-Affä-
re um die zurückgetretene Umwelt-
ministerin Ursula Heinen-Esser. Sie
hatte nach der Flut auf der Balearen-
insel einen Geburtstag mit anderen
Kabinettsmitgliedern gefeiert. Die
SPD muss sich Fragen zu ihrer Russ-
landpolitik gefallen lassen. Zu Putin,
Schröder und Manuela Schwesig.
Und zu Scholz.
Wer sich wie Kutschaty an den
Kanzler kettet, muss im Wahlkampf
also auch über alles sprechen, nicht
mehr nur über NRW. Fragt man ihn
nach seiner Einstellung zu Waffen-
lieferungen, sagt er Sätze, die sich an-
hören, als wären sie ihm im Kanzler-
amt aufgeschrieben worden: »Wir
stimmen uns eng ab mit den europäi-
schen Nachbarländern.«
Hinter vorgehaltener Hand sagt
Kutschaty, dass er nicht zu jedem mi-
litärischen Gerät alle Details erklären


könne. Dagegen macht ihm beim
Länderfinanzausgleich niemand et-
was vor. Doch was bringt ihm das,
wenn Deutschland gerade über einen
möglichen Atomschlag diskutiert?
Bis Mitte Mai will Kutschaty mehr
als 300 Wahlkampftermine ab solviert
haben. Er trinkt keinen Kaffee, er
raucht nicht und ist Vegetarier. Er
steht morgens um 5.45 Uhr auf und
macht sich Kakao, so erzählt er es.
Vor ein paar Monaten trug er noch
Vollbart, inzwischen stellt er seinen
Rasierer auf drei Millimeter. Das, so
hört man aus der SPD, hätten ihm
Wahlkampfberaterinnen empfohlen.
Scholz wird mitunter als emo-
tionsbereinigter Politiker beschrie-
ben, als Mann aus der Tiefkühltruhe.
Kutschaty sagt: »Wir sind beide keine
Lautschreier, sind auch mal nach-
denklich, wenn es das erfordert. Wir
sind beide nicht aus der Mikrowelle.«
Doch das Bild des sanftmütigen Poli-
tikers nehmen ihm nicht alle ab, nicht
mal in der SPD.
Dort gibt es Leute, die ihn mit
einem Krokodil vergleichen: Es liegt
träge im Sumpf, macht nichts, doch
wenn ein Gegner kommt, schnappt
es zu. Es gab zuletzt kaum einen Kar-
riereschritt Kutschatys ohne Konflikt.
Sein Weg zum Fraktionschef führte
über eine Kampfkandidatur, die Wahl
gewann er mit vier Stimmen Vor-
sprung. Um SPD-Landesvorsitzender
zu werden, räumte er den damaligen
Amtsinhaber beiseite. Die beiden ha-
ben seitdem nie wieder miteinander
gesprochen.
Ein Samstag im Essener Norden,
Kutschaty steigt im Stadtteil Alten-
essen in den Bus. Es wird eine Fahrt
durch seinen Wahlkreis, sie geht vor-
bei an Geschäften, die Gold ankaufen
oder Zubehör für Shishabars anbie-
ten. Fast 40 Prozent der Kinder hier
seien auf Transferleistungen angewie-
sen, erzählt Kutschaty. Vor andert-
halb Jahren schloss das Krankenhaus
in Altenessen, Hunderte Arbeitsplät-
ze gingen verloren. Bei der Landtags-
wahl 2017 holte die AfD in Kutschatys
Wahlkreis mit 13 Prozent eines ihrer
besten Ergebnisse.
Kutschaty sagt: »Die Menschen
malochen, dafür wollen sie gesehen
werden, mit allen ihren Lebens-
leistungen.« Den Respekt, von dem
Scholz im Bundestagswahlkampf
sprach, brauche es gerade hier. »Die
ungelernte Putzkraft, der ungelernte
Kassierer, denen müssen wir wieder
Sicherheit geben. Sie leisten einen
Beitrag für unsere Gesellschaft, ihnen
möchte ich sagen: Ich sehe euch.«
Mehr Wohnungen, bessere Schu-
len, das verspreche Kutschaty seinem Lukas Eberle n

CDU

SPD

Grüne

FDP

Linke

AfD

31

29

16

8

4

6

Kopf an Kopf


»Wen würden Sie
wählen, wenn am
Sonntag Landtags-
wahl in Nordrhein-
Westfalen wäre?«,
Angaben in Prozent

S◆Quelle: Civey-Umfrage für
den SPIEGEL vom 28. April bis


  1. Mai 2022; Befragte: 4008;
    die statistische Ungenauig-
    keit der Umfrage liegt bei bis
    zu 2,6 Prozentpunkten; an
    100 fehlende Prozent: »eine
    andere Partei«


»Mit der
Ruhrgebiets-
romantik wird
die mi serable
Si tuation
schöngeredet.«
Karlheinz
Endruschat,
Weggefährte
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