FOCUS - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
MUSIK

immer vertrauen / Er wird dir Streiche
spielen / Und es wird ihm egal sein, ob
du glücklich oder unglücklich bist / Aber
wenn du es nicht mehr unter Kon trolle
hast, fühle dich nicht schlecht / Es ist in
Ordnung, traurig zu sein.“ Da bleibt kein
Auge trocken.
Lieder wie diese werden wie Balsam auf
den geschundenen Ohren von Ar cade-
Fire-Superfans sein, die zuletzt ein wenig

haderten. Mit ihrem vorherigen Album
„Everything Now“ sei die Band künst-
lerisch auf Abwege geraten und habe
sich auch kommerziell geschadet, so
zumindest das gängige Narrativ unter
Kritikern. Dafür gibt es allerdings nur
wenig Belege. In sieben Ländercharts
stand das Album auf dem ersten Platz,
die dazugehörige Tour war wie üblich
ausverkauft und der Titelsong ist einer

Kritiken, die sie selbst über ihre Platte
geschrieben hatten.
Wie sich herausstellte, wollte vor allem
die Musikpresse von Arcade Fire nicht
den Spiegel vorgehalten bekommen,
sie wollte tief empfundenes Gefühl und
Pathos. Einige Jahre zuvor war eine ande-
re Stadionrockband namens U2 bereits
einen vergleichbaren Weg gegangen und
hatte ihr Image dekonstruiert. Setzt man
beide Gruppen parallel, dann entspricht
„Achtung Baby“ Arcade Fires „Reflek-
tor“, das Album, mit dem sich die Band
dem Bereich Dance näherte. „Zooropa“
wäre demnach „Everything Now“ und
„All That You Can’t Leave Behind“ als
Rolle rückwärts schließlich „WE“.
Ob der Vergleich aufgeht, hängt davon
ab, ob „WE“ einfach nur als eine Rück-
kehr in sicheres Gewässer betrachtet wer-

den muss oder vielleicht sogar als Weiter-
entwicklung. Denn nach all der Kritik, die
sich Arcade Fire für ihre Ausflüge in den
Dance-Bereich anhören durften, muss
man ihnen zugutehalten, dass sie noch
nie einen Song wie „Age of Anxiety II
(Rabbit Hole)“ veröffentlicht haben, der
sieben Minuten lang erbarmungslos
pumpt, und immer wenn man denkt, nun
ist Schluss, einfach weiterpumpt.n

Ehre zuteil wurde, als erstes Buch in
der Geschichte der Sowjetunion offizi-
ell verboten worden zu sein. Der Autor
erzählt von einer Gesellschaft, in der
Menschen Nummern statt Namen haben
und in gläsernen Häusern leben, in
denen sie zu ihrem eigenen Wohl von
ihren Beschützern überwacht werden.
Im Grunde genommen exakt der Stoff,
aus dem Arcade Fire ihre Werke weben.

Bei all den entlegenen und ineinander
verschachtelten Referenzen gelingt es
der Band wie üblich, ihre Inhalte in welt-
umspannende Songs zu verpacken, die
wie dafür gemacht sind, dass Tausende
von Zuschauern dazu in Stadien und auf
Open-Air-Festivals schunkeln und mit-
singen. „End of the Empire I–IV“ ist etwa
ein mehrteiliger Abgesang auf die Ver-
einigten Staaten, bei der sich Arcade Fire
auf dem halben Weg zwischen dem spä-
ten John Lennon und dem frühen David
Bowie bewegen, um zwischendurch mit
Streichern und allem Drum und Dran
einen Schlenker zum Fußballchor-
Britpop von Oasis zu machen. Tenor:
Es war nicht alles schlecht!

Wohin wir gehen
Aus „Lightning I, II“ meint man den
Bruce Springsteen der „Born to Run“-
Ära aus dem Arrangement heraus-
winken zu sehen: „Wir können es
schaffen, wenn du mich nicht verlässt“,
singen Butler und Chassagne, während
die Musik den Aufbruch zu besseren
Zeiten signalisiert: „Bitte verlasse mich
nicht / Ich werde dich niemals verlas-
sen“. Womit die Band auch den zweiten
Teil des Albums einläutet, die Kehrseite,
wenn man so will. War das „Wir“ der ers-
ten Hälfte noch das eigentliche Problem,
ist es auf der zweiten Hälfte zumindest
Teil der Lösung.
Mit „Unconditional I (Lookout Kid)“
singt Butler dann seinem Sohn ein zau-
berhaftes Lied, das sich aber auch an
alle Kinder und Eltern richtet und in
der künstlerisch schwierigen Kategorie
„Musiker machen Musik für ihren Nach-
wuchs“ eine erfreuliche Ausnahme dar-
stellt: „Pass auf, Kind, vertraue deinem
Verstand / Aber du kannst ihm nicht

Seit ihrem Debüt zeigt die kanadische Band


eine Neigung zu schweren Themen aller Art


Arcade Fire in fünf Alben


Wenn die Karriere
mit einem Begräb-
nis beginnt: das
fantastische Debüt
Funeral (2004)

Der Song „Black Mirror“
vom zweiten Album Neon
Bible (2007) inspirierte
die gleichnamige TV-Serie

The Suburbs (2010)
gewann 2011 den Grammy
als Album des Jahres –
gegen Lady Gaga, Eminem
und Katy Perry

Kunstgeschichte:
Reflektor (2013) zeigt
auf dem Cover Auguste
Rodins Skulptur
„Orpheus und Eurydike“

Klingt wie Abba!
Der Titelsong von
Everything
Now (2017)
zählt zu ihren
größten Hits

der meistgestreamten Arcade-Fire-Stü-
cke auf Spotify.
Tatsächlich war wohl weniger die
Musik das Problem, sondern die post-
moderne Ironie, mit der Arcade Fire sich
plötzlich den drängenden Themen der
Gegenwart näherten. Dem Problem Fake
News begegneten sie mit Fake News,
dachten sich eine absurde Werbekam-
pagne aus und veröffentlichten kluge
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