Ins Wochenende mit ...
WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211^59
Natürlich, das spüren Sie. Ich habe schon vor Jah-
ren meinen Freunden von der Ost- und Westküste
gesagt, sie sollten sich um die „Flyovers“ küm-
mern, um die Menschen in den Orten, über die
sie fliegen. Bei dem Thema werde ich laut! Die Ab-
gehängten im Herzen Amerikas haben gemein-
schaftlich eine Stimme bekommen – mit Trump.
Er ist nur ein Produkt der Bedingungen.
Elon Musk, Mark Zuckerberg und andere Silicon-
Valley-Pioniere haben ein ähnliches Erlöser-Den-
ken wie einst Ford. Reizt Sie das nicht?
Das letzte Jahrhundert hat uns den Bankrott gro-
ßer Ideologien gebracht: des Kommunismus und
des Faschismus. Unser Jahrhundert wird uns un-
weigerlich den Bankrott technischer Utopien zei-
gen. Das ist wie an die Wand geschrieben. Jeder,
der kein Depp ist, kann das sehen. Wir können
den Mars nicht mit einer Million Menschen besie-
deln, und schon gar keinen ferneren Stern. Und
durch Gen-Manipulationen und Medikamente
werden wir nicht unsterblich.
Die Akteure der Film- und Fernsehwirtschaft
schauen derzeit mit leuchtenden Augen auf all
die Streaming-Plattformen aus den USA: Netflix,
Amazon Prime, Disney Plus, Apple und
AT&T-Warner. Sind Sie auch Profiteur?
Nicht wirklich. Ich habe „Into the Inferno“ erfolg-
reich mit Netflix produziert. Die haben diesen
Film über Vulkane sehr nobel behandelt.
Nicht zu vergessen, dass Sie für Disney Plus in
der neuen Serie „The Mandalorian“ spielen, die
sich aus „Star Wars“ heraus entwickelt hat.
Ich passe da gut hinein. Schon bei „Jack Reacher“
war ich ein kompetenter Schauspieler, der glaub-
haft Schrecken erregte. Nun spiele ich einen Cha-
rakter, dem man nicht über den Weg trauen darf.
Läuft also ganz gut für Sie bei dieser neuen Art,
Film und Fernsehen zu machen.
Streaming wird Leben übernehmen, das noch
dem Kino vorbehalten ist. Die 14-jährige Tochter
einer Schauspielerin sagte mir, sie gehe nicht ins
Kino, weil es da dunkel sei und sie keinen kennen
würde. Kinos werden für Event-Movies weiter
wichtig sein.
Ist der Streaming-Boom unter dem Strich eine
positive oder bedenkliche Entwicklung?
Ich habe da keine leuchtenden Augen. Aber im-
merhin werden jetzt meine Filme aus den 1970er-
Jahren für Leute in Missoula, Montana, zugäng-
lich, Teenager haben da einen Filmklub aufge-
macht. Jetzt schauen sie da die alten Sachen,
Knopfdruck genügt.
Sie haben im Dokumentarfilm „Lo and Behold“
versucht, das Internet zu erklären. Jüngst rede-
ten Sie sogar in Los Angeles zur 50-Jahres-Feier
des ersten Internetkontakts. Erklären Sie uns:
Was ist das Netz?
Es schafft großartige Möglichkeiten. Denken Sie
beispielsweise daran, dass 1,5 Millionen Videoga-
mer geholfen haben, eine auch für Supercompu-
ter nicht lösbare Struktur eines Enzyms zu lösen.
Das hat einen Durchbruch gebracht im Kampf ge-
gen Krebs und Aids.
Das ist das Positive. Und der abträgliche Teil?
Das Internet macht viele Menschen existenziell
einsamer, obwohl wir so vernetzt sind. Persönlich
bleibt es bei meinem Verzicht auf ein Handy. Ich
möchte nicht immer verfügbar sein. Jeder, den
ich kenne, beklagt sich darüber. Auf meinem Tab-
let habe ich die Encyclopædia Britannica sowie
Bücher und Drehbücher gespeichert. Aber Mails?
Websites? Outlook? Meine Terminplanung erledi-
ge ich lieber per handgeschriebenem Kalender.
Das ist schneller. Ich möchte nicht die Erfahrung
von Wirklichkeit über Applikationen herstellen.
Damit sind Sie heutzutage Exot.
Na und? Ich habe ein 14-jähriges Mädchen kennen
gelernt, die schickt täglich mehr als 2 000 SMS,
manchmal nur ein Smiley. Das ist ein tragisches
Vorbeileben am Leben. Damit müssen wir lernen
umzugehen. So wie wir auch nicht mehr mit gro-
ßen amerikanischen Straßenkreuzern wie in der
Elvis-Presley-Zeit fahren, sondern mit kleinen
Stromautos.
Herr Herzog, Sie sind 1942 in München geboren,
flohen dann mit der Familie vor den Kriegsbom-
ben in ein Bergbauerndorf im Chiemgau, wo Sie
die Kindheit verlebten. Wie wichtig ist Ihnen die
bayerische Identität?
Das zählt als Erstes. Ich bin kein deutscher, son-
dern ein bayerischer Regisseur. Außer mir hätte
nur Ludwig II. den Film „Fitzcarraldo“ machen
können ...
... zu dessen ikonografischen Szenen der Trans-
port eines 340-Tonnen-Flussdampfers im Ur-
wald gehört.
Wer Traumschlösser wie Neuschwanstein baut,
hätte auch wie wir ein Schiff über einen Berg
wuchten können. Die Bayern sind ein starker
Stamm.
Wie kommt man von der Alm zum Kino?
Bevor ich elf wurde, wusste ich nicht, dass Kino
existiert. Dann kam ein Mann mit Projektor in die
Schule und zeigte Lehrfilme. Langweilig! Erst spä-
ter in München sahen wir amerikanische B-Pictu-
res wie „Zorro“ oder „Doktor Fu Man Chu“. Und
ich dachte gleich: Das kann man besser machen,
ich muss das machen! Als ich 14 war, haben sich
entscheidende Sachen für mein Leben geklärt.
Als Produzent wissen Sie, wie man mit den Kos-
ten umgeht. Aber wissen Sie auch, wie man das
Kreative am besten meistert?
Es gibt da keinen Masterplan. Jedes Projekt ist an-
ders. Das Kreative ist meistens eine Überra-
schung. Auf einmal sehe ich einen Film vor mir,
so wie Sie einen Film im Kino sehen! Deshalb
kann ich Drehbücher so schnell schreiben. Ich
brauche nie länger als eine Woche dafür. Andere
brauchen anderthalb Jahre.
Für die Öffentlichkeit sind Sie ein Typ, der Grenz-
erfahrungen braucht, der Filme mit Grizzlys in
Alaska, Höhlenmalerei in Südfrankreich, Todes-
kandidaten in Texas oder Menschen in der Ant-
arktis macht und der die eigenen Schuhe vor lau-
fender Kamera isst, weil er eine Wette verloren
hat. Offenbar ein „leicht Verrückter“.
Einspruch: Die anderen sind verrückt. Schauen
Sie sich doch den täglichen Irrsinn im Fernsehen
an! Dann wissen Sie: Der Mann, mit dem Sie hier
reden, ist das wahre Zentrum. Der Rest der Welt
ist Außenseiter.
Sie scherzen. Genießen Sie das Klischee vom „Be-
sessenen“?
Das kümmert mich nicht. Ich kann nicht die Au-
ßenansicht von mir bestimmen. Wenn Sie unter
„Werner Herzog“ googeln, finden Sie mindestens
30 Doppelgänger. Ich bin bei Facebook und auf
Twitter! Auf Websites gebe ich Lebensratschläge.
Das ist alles unlenkbar, da helfen keine Anwälte.
Wer ich bin, weiß ich.
„Ich habe immer Unglück angezogen“, haben Sie
erklärt. Gehört das zum Herzog-Mystizimus?
Nein, es ist wahr. Beim ersten Film ist mein
Hauptdarsteller vor Drehende verunglückt, erst
fünf Monate später war er gehfähig. Bei „Fitzcar-
raldo“ hatten wir zwei Flugzeugabstürze, einen
Grenzkrieg zwischen Peru und Ecuador, mein ge-
rade fertig gestelltes Camp für 1 000 Leute wurde
angegriffen. Auch bei Dokumentarfilmen bin ich
sehr krank geworden, ich hatte Malaria oder Den-
guefieber.
Sie suchen Extreme – und machen eben extreme
Erfahrungen.
Sagen wir: ungewöhnliche. Wenn Sie in Afrika
drehen, werden Sie normalerweise nicht von be-
trunkenen Soldaten festgesetzt.
Ihre Arbeit ist mit vielen Filmpreisen bedacht
worden. Ist das der Preis für Ruhm?
Ich höre das Wort akustisch und weiß nicht, was
es bedeutet. Wertschätzung ist okay. Aber
Ruhm?
Im Dezember erhalten Sie fürs Lebenswerk so-
gar den Europäischen Filmpreis.
Ich finde, die Ehrung kommt zum falschen Zeit-
punkt. Den Preis fürs Lebenswerk soll man mir
erst um die Ohren knallen, wenn ich schon zehn
Jahre im Rollstuhl bin! Jetzt ist das noch nichts für
mich. Ich habe einen viel intensiveren Output als
vor 30, 40 Jahren. Und damals habe ich auch
schon jährlich ein großes Projekt vollendet. Vori-
ges Jahr habe ich drei lange Filme herausgebracht.
Was ist der Grund für die höhere Produktivität?
Die Abläufe sind eingespielt, die technischen Din-
ge leichter. Bewegliche, digitale Kameras funktio-
nieren schnell, ich kann auf dem Laptop fast so
schnell schneiden, wie ich denke. Und ich muss
mich nicht mehr wie früher monatelang um Fi-
nanzierung kümmern. Oft steht das heute schon
von Anfang an.
Zur Vielzahl von Ehrungen in der Filmbranche
tragen Sie mit einem eigenen Werner-Herzog-
Preis bei. Warum?
Der soll an jemanden gehen, der eine Vision hat
und den unerhörten Mut, etwas Neues zu schaf-
fen, Gefilde zu besetzen und das weit darzulegen.
Die Jury ist originell: Sie besteht aus Ihnen.
Es gibt Berater. Im Moment wäre eine andere
Konstruktion zu schwerfällig. Das wird sich aber
ändern. Irgendwann gibt es mich nicht mehr.
Wenn ich aufgeamselt bin, wird die Jury völlig un-
abhängig von mir sein.
Sie haben in Ihrer langen Karriere rund 900 Ge-
spräche mit Medien geführt. Erinnern Sie sich an
Claas Relotius, der Sie vor Jahren für den „Tages-
spiegel“ interviewt hat?
So spontan: nein.
Das ist der Mann, der beim „Spiegel“ allerhand
Geschichten erfand oder verfälscht hat.
Verstehe. Ein wunderbarer Fall. So etwas verfolge
ich mit Begeisterung. Wie konstruiert sich Wahr-
heit? Das ist eine der zentralen Fragen. In mei-
nem Film „Family Romance“ geht es um eine Ser-
vice-Firma, die an einsame Freunde auf Zeit ver-
mietet. Getrennt davon brachte das japanische
Fernsehen eine Dokumentation, die zum Skandal
führte. Denn der Mann, der darin als Kunde auf-
trat, war in Wirklichkeit ein Mitarbeiter der Ser-
vice-Agentur „Family Romance“. Der Gründer
verteidigte das mit dem Hinweis, ein echter Klient
hätte aus Scham gelogen, um das Gesicht zu wah-
ren. Sein Mitarbeiter aber hätte das 200-mal ge-
macht und wüsste, wie’s läuft. Manchmal muss
die Wahrheit von einem Betrüger kommen.
In Ihrem Gespräch mit Reporter Relotius erklär-
ten Sie: „Es gibt keine Formel für Wahrheit.“ Of-
fenbar hat ihm das gefallen.
(Lacht) Der hat sicherlich andere Motive für sein
Tun gehabt. Wir müssen insgesamt aufmerksamer
schauen, was Fake News sein könnten. Journalis-
mus handelt auf einer völlig anderen Verantwor-
tungsebene als Filmkunst.
Es gibt den Verdacht, dass Relotius auch Teile des
Interviews mit Ihnen manipuliert hat.
Wirklich? Lasst ihn ruhig bei mir die Sachen erfin-
den. Wenn es der Wahrheitsfindung dient ...
Herr Herzog, vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Hans-Jürgen Jakobs.
Fordlandia, Brasilien:
Drehort für Herzogs
neueste Filmprodukti-
on über die geschei-
terte Urwald-Utopie
von Henry Ford.
Bryan Denton/The New York Times/Redux/laif
Der Filmemacher
Filmen war früh die
Berufung des Autodi-
dakten aus Bayern, der
1962 mit 20 den ersten
Kurzfilm („Herakles“)
herausbrachte. Seine
bekanntesten Spiel-
filme, wie etwa „Fitz-
carraldo“, entstanden
mit Schauspieler Klaus
Kinski. Herzog, 77, ist
auch als Produzent,
Buchautor, Schauspie-
ler, Opernregisseur
und Synchronsprecher
(„The Simpsons“)
aktiv.
Die Preise Herzog
erhält am 7. Dezember
den Europäischen
Filmpreis. Er selbst
verleiht über seine
Stiftung den Werner-
Herzog-Filmpreis.
Zuletzt ging er an den
Komponisten Ernst
Reijseger.
Vita
Werner Herzog