Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1
an den Nachbarn zu zahlen. Nach der Baugenehmi-
gung aus Kopenhagen wird Moskau umso mehr da-
rauf bestehen.
Deutschland beobachtet die Verhandlungen zwi-
schen Russland und der Ukraine mit großem Inte-
resse. Auch künftig lässt sich die Versorgung hierzu-
lande mittel- und langfristig nur dann problemlos si-
cherstellen, wenn auch nach einer Inbetriebnahme
von Nord Stream 2 noch russisches Gas durch die
Ukraine nach Deutschland fließt. Sollten sich die
Verhandlungen noch über den Jahreswechsel hin-
ziehen, könnte das mit dem Auslaufen der noch bis
zum 31. Dezember geltenden Transitvereinbarung
im Extremfall zu Lieferunterbrechungen führen.
Damit wäre die Gasversorgung aber noch nicht un-
mittelbar gefährdet. Deutschland verfügt über er-
hebliche Speicherkapazitäten. „Die Speicher in
Deutschland sind zu annähernd 100 Prozent gefüllt.
Die Vorsorge für den Winter ist damit maximal“,
sagte Sebastian Bleschke, Geschäftsführer der Initia-
tive Erdgasspeicher, in dem sich große Speicherbe-
treiber zusammengeschlossen haben, dem Han-
delsblatt. „Dank der gut gefüllten Gasspeicher ist
die Versorgungslage in Deutschland damit bestens
abgesichert“, sagte er. Auch europaweit sei der Füll-
stand „extrem hoch“.
Auch die Bundesregierung gibt sich gelassen.
Man gehe davon aus, „dass es eine Einigung über
die Fortsetzung des Gastransits gibt“, sagte eine
Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums.
Grundsätzlich gelte außerdem, dass Europa hohe
Speicherkapazitäten und eine gute Speicherbefül-
lung aufweise. Ähnlich bewertet auch die EU-Kom-
mission die Lage. Man sei „sehr zufrieden“ hinsicht-
lich der Vorbereitungen für den kommenden Win-
ter, heißt es in internen Brüsseler Papieren.
Für die Ukraine fühlt sich die Entscheidung der
dänischen Regierung wie eine Niederlage an; aller-
dings wie eine „erwartete“, wie der CEO des ukrai-
nischen Gaskonzerns Naftogaz, Andriy Koboljew,
betonte. „Die prinzipienorientierte Position Däne-
marks hat das Projekt einige Zeit verzögert, aber
solch eine geopolitische Waffe ist nicht mit Instru-
menten aufzuhalten, die ausschließlich Handelsbe-
ziehungen regulieren.“
Kiew hofft immer noch darauf, dass Nord Stream
2 mit US-Sanktionen gestoppt wird. Koboljew kün-
digte an, die ukrainischen Diplomaten in ihren An-
strengungen diesbezüglich weiter unterstützen zu
wollen. Allerdings ist die Ukraine zum Spielball der
amerikanischen Innenpolitik geworden, seit be-
kannt wurde, dass Donald Trump das Land zu Er-
mittlungen gegen seinen politischen Rivalen Joe Bi-
den gedrängt hat. Die Affäre ist Teil des Amtsenthe-
bungsverfahrens gegen den US-Präsidenten. Der

Die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht
läuft gerade. In der kommenden Woche soll sich
der Wirtschaftsausschuss des Bundestags mit dem
entsprechenden Gesetzentwurf befassen. Die Kriti-
ker des Pipelineprojekts hatten befürchtet, das fe-
derführende Bundeswirtschaftsministerium werde
das Gesetz möglichst zugunsten von Nord Stream 2
gestalten. In Brüssel heißt es aber, der Gesetzent-
wurf stelle eine „saubere Umsetzung“ der Richtlinie
dar. Im Kern geht es bei der Regulierung um die
Frage, in welchem Umfang die Betreiber auch Drit-
ten Zugang zu der Pipeline gewähren müssen.
Bleiben noch die Sanktionen der USA: Das Zeit-
fenster, um die Drohungen wahr werden zu lassen,
schließt sich. Ein Gesetzentwurf, der schwere Stra-
fen für am Bau beteiligte Firmen vorsah, vor allem
die Betreiber der hochspezialisierten Verlegeschiffe,
steckt im Kongress fest. Experten rechnen daher
nicht mit neuen Verzögerungen, Nord Stream 2
werde 2020 in Betrieb gehen. Allerdings werde die
Pipeline zunächst nicht voll ausgelastet sein.
Im kommenden Jahr werde die für einen Durch-
fluss von 55 Milliarden Kubikmeter ausgelegte Nord
Stream 2 maximal 20 Milliarden Kubikmeter Gas
nach Europa bringen, sagt Maria Belowa von Vygon
Consulting voraus. Auch Fitch-Analyst Dmitri Ma-
rintschenko erwartet, dass Nord Stream 2 erst 2021
ihre volle Kapazität erreicht. 2020 müsse Gazprom
daher noch 40 bis 50 Milliarden Kubikmeter Gas
durch die Ukraine leiten, schätzt er. Das wäre etwa
die Hälfte des diesjährigen Transits.
Obwohl es um Nord Stream 2 weiterhin einige
Fragezeichen gibt – auch die Weiterleitung des Ga-
ses in Deutschland durch die OPAL-Pipeline ist nach
einem Beschluss des Europäischen Gerichtshofs
nicht mehr im vollen Umfang möglich –, stärkt die
frische Baugenehmigung aus Kopenhagen Russland
nun in seinen weiteren Transitverhandlungen mit
der Ukraine. Die letzte Runde war erst vor wenigen
Tagen in Brüssel gescheitert.
Putin lotet die neuen Möglichkeiten bereits aus:
Der Kremlchef zeigte sich am Donnerstag bei einem
Besuch in Ungarn zu einer „konstruktiven Zusam-
menarbeit, dem Transit durch die Ukraine und Gas-
lieferungen an die Ukraine“ bereit, sogar zu einer
„deutlichen Verringerung des Preises“. Allerdings
forderte er dazu als Vorbedingung, sich „von den
Absurditäten freizumachen“ und beiderseits alle
Schadensersatzforderungen fallen zu lassen.
Von einem solchen Schritt würde in erster Linie
Gazprom profitieren, denn der russische Staatskon-
zern schuldet dem ukrainischen Gasunternehmen
Naftogas nach einer Entscheidung des Stockholmer
Schiedsgerichts 2,6 Milliarden Dollar. Für Russland
ist es eine prinzipielle Frage, keine Kompensation


Die Speicher in
Deutschland
sind zu
annähernd 100
Prozent gefüllt.
Die Vorsorge
für den
Winter ist
damit
maximal.
Sebastian Bleschke
Initiative
Erdgasspeicher

Umstrittene Energie für Deutschland
Verlauf der Nordstream-Pipeline dur ch die Ostsee Nach Deutschland importierte Gasmengen nach Lieferländern


Importmenge an Erdgas in Terawattstunden


2010 2017
Deutschland

Lubmin
bei Greifswald

Bornholm


Narva-Bucht


Dänemark


Polen


Schweden Russland


Finnland
Norwegen
Estland

Lettland


Litauen


Weißrussland


Ukraine


Russl.


HANDELSBLATT 1) enthält Gas aus Großbritannien, 2) Belgien, Dänemark • Quellen: Nord Stream, Bundesnetzagentur


Nord Stream 2
Hoheitsgewässergrenze
Wirtschaftszonengrenze

Sonstige
Länder

Nieder-
lande

Nor-
wegen

Russland und
GUS

40 %


1 384 1 676


26 % 26 % 8 %


65 %


2010


2017 17,1 % 15,9 %13,3


Streit darüber bindet die politische Energie, die für
einen Sanktionsbeschluss nötig wäre. Auch das
schwächt die Position Kiews.
Opposition appelliert an Merkel,
sich für Kiew einzusetzen
Die Opposition im Bundestag fordert Kanzlerin
Merkel daher auf, ihre Bemühungen zur Lösung
der Transitfrage zu verstärken. „Angela Merkel
muss zu ihrem Wort stehen“, sagte FDP-Fraktions-
chef Alexander Graf Lambsdorff dem Handelsblatt.
Die Kanzlerin dürfe nicht zulassen, dass Russland
Nord Stream 2 „für seine geopolitischen Interessen
sowie die wirtschaftliche und außenpolitische Iso-
lation Kiews einsetzt“. Die Pipeline dürfe nicht in
Betrieb genommen werden, solange es eine akzep-
table Lösung für die Ukraine gebe. Grünen-Wirt-
schaftspolitikerin Claudia Müller äußerte sich ähn-
lich: „Die Bundesregierung hat die trilateralen Ge-
spräche leider stiefmütterlich behandelt“, sagte sie
dem Handelsblatt. Außer bloßen Willensbekundun-
gen und naivem Optimismus sei keine klare politi-
sche Linie zu erkennen. Jürgen Hardt, außenpoliti-
scher Sprecher der Unionsfraktion, räumte ein:
„Die Europäische Union braucht eine Energiestrate-
gie, in der Sicherheit für alle Mitgliedstaaten und ih-
rer Partner, darunter die Ukraine, Wirtschaftlich-
keit und die Klimafrage miteinander in Einklang ge-
bracht werden.“ Davon ist Brüssel allerdings noch
weit entfernt.
Derzeit liegt der Fokus auf den Transitgesprächen
mit Russland und der Ukraine. Der Vorschlag der
EU-Kommission für ein neues Abkommen zwischen
den beiden Ländern sieht vor, dass Russland und
die Ukraine einen mindestens zehn Jahre andauern-
den Transitvertrag über jährlich mindestens 40 bis
60 Milliarden Kubikmeter pro Jahr abschließen, der
eine „Ship-or-Pay“-Klausel enthält. Das bedeutet,
dass sich Gazprom verpflichtet, diese Menge Gas
durch die ukrainischen Pipelines zu leiten und die
entsprechenden Transitgebühren auch dann zu
zahlen, wenn die Liefermenge verringert werden
sollte. Außerdem soll es die Möglichkeit geben, zu-
sätzlich flexible Mengen pro Jahr zu liefern. Ein
künftiger Vertrag soll sich zudem auf EU-Rechtsvor-
schriften stützen, und die Tarife sollen nach einer
EU-Methode festgelegt werden.
Die Ukraine akzeptiere den Vorschlag, doch die
russische Delegation sperre sich, sagte dervzustän-
dige EU-Vizekommissar Maros Sefcovic. Er gab sich
allerdings optimistisch: „Ich bin zu 100 Prozent
überzeugt, dass es eine Möglichkeit gibt, zu einer
ausgewogenen Lösung zu gelangen.“


Leitartikel Seite 14



Wirtschaft & Politik


WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211^9

Free download pdf