Süddeutsche Zeitung - 18.11.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
Es ist stets etwas zu kalt im säulenverzier-
ten Saal1100, in dem das Repräsentanten-
haus seine Impeachment-Anhörungen ab-
hält. Hinten im Publikum haben sich eini-
ge Zuschauer in Schals gewickelt. Vorne
aber sitzt Jim Jordan und hat das Jackett
ausgezogen, so wie immer, wenn er das
tut, was ihm sichtlich Freude bereitet: Zeu-
gen zu grillen, giftige Fragen zu stellen,
den Präsidenten zu schützen.
Der republikanische Abgeordnete ist
in der Impeachment-Untersuchung Do-
nald Trumps eifrigster Verteidiger, der
Mann fürs Grobe, der ohne Hemmungen
all die Diplomaten angreift, die in den Zeu-
genstand treten, um Licht in die Ukraine-
Affäre zu bringen. Ein Kämpfer in Hemd
und Krawatte, der sich um die Etikette
nicht kümmert.
Kämpfen, das kann Jordan gut. Als jun-
ger Mann war er in Ohio Champion im Rin-
gen, er gewann 150 Wettkämpfe und ver-
lor nur einen einzigen. Trotzdem wurde
er nicht Profisportler, sondern studierte
Jura und ging in die Politik. Es sei aber der
Sport, der ihn darauf vorbereitet habe, sei-
ne Gegner in Washington auf die Matte zu
legen, sagt er. Daran arbeitet er seit 2006,
als er das erste Mal in den Kongress ge-
wählt wurde. Rasch positionierte er sich
am rechten Rand der Fraktion, im Free-
dom Caucus, einer Gruppe von besonders
konservativen Abgeordneten. Dort legte
er sich immer wieder mit der Parteifüh-
rung an. Seit Trumps Wahl sieht der
55-Jährige seine Gegner allerdings aus-
schließlich bei den Demokraten.
In den Impeachment-Anhörungen
zeigt sich das gerade deutlich. Am Freitag
erhielt Jordan die Gelegenheit, die ehema-
lige US-Botschafterin Marie Yovanovitch
zu befragen, die von der Trump-Regie-

rung abrupt von ihrem Posten in der Ukra-
ine entfernt worden war. Als Jordan seine
Redezeit überschritten hatte, wurde er
von Adam Schiff, dem demokratischen
Vorsitzenden des Geheimdienstausschus-
ses, ermahnt: „Meine Geduld läuft lang-
sam aus.“ Jordan erwiderte barsch: „Unse-
re Geduld mit Ihnen ist schon lange ausge-
laufen.“ Durch Saal 1100 ging ein Raunen.
Später stellte sich Jordan vor die Kameras
und bezeichnete das Amtsenthebungsver-
fahren als „Schauprozess“.
Es sind diese Aussagen, die bei Trumps
Haussender Fox News in Dauerschleife
laufen. Der Wortwechsel mit Bill Taylor,

dem US-Gesandten in Kiew, der als erster
Zeuge auftrat, ging im rechten Netz viral.
All die Vorwürfe, die Taylor gegen Trump
erhebe, würden nur auf dem Hörensagen
beruhen, warf Jordan ihm vor. Er habe nie
selbst mit dem Präsidenten gesprochen,
glaube aber zu wissen, was diesen ange-
trieben habe, als er die Militärhilfe für
Kiew blockierte. „Und Sie sollen der Star-
zeuge sein?“ Nach Jordans Argumentati-
on gibt es für Trumps Verhalten gute
Gründe: Er habe sich eben um die Korrup-
tion in der Ukraine gesorgt.
Eigentlich sollte der Mann, den die
New York Timeseinen „Pitbull“ nannte,
bei den Anhörungen gar keine Rolle spie-
len. Er ist nicht Mitglied des Geheim-
dienstausschusses. Um ihm trotzdem ei-
nen Platz in den Hearings zu verschaffen,
wechselten ihn die Republikaner in letz-
ter Minute in den Ausschuss ein. Aus ihrer
Sicht hat sich das wohl gelohnt. Kein Abge-
ordneter setzt besser die Strategie um, die
Trumps Verbündete im Repräsentanten-
haus eingeschlagen haben: kein Fehlver-
halten zugeben, keinen Fußbreit nachge-
ben. Je mehr die Impeachment-Untersu-
chung nach einer parteipolitisch motivier-
ten Veranstaltung aussieht, desto besser
für den Präsidenten.
An diesem Kalkül dürfte auch der Um-
stand nichts ändern, dass nun neue Mitar-
beiter des Weißen Hauses ausgesagt ha-
ben. Sie bezeichneten Trumps Verhalten
gegenüber der Ukraine als „unangemes-
sen“. Auf Jordans Loyalität, davon kann
man ausgehen, kann sich der Präsident
verlassen. Ob er den notorischen Lügner
Trump denn gar nie lügen gehört habe,
wurde er von CNN einmal gefragt, kein
einziges Mal? Nein, sagte Jordan: „Das ha-
be ich nicht.“ alan cassidy

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:Nina Bovensiepen,
René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
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ARTDIRECTOR:Christian Tönsmann; Stefan Dimitrov
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Zamdorfer Straße 40, 81677 München

von bernd kramer

D


eutschlands Hochschulchefs tref-
fen sich am Montag in Hamburg,
an jener Uni also, wo AfD-Grün-
der Bernd Lucke ausgebuht und FDP-
Chef Christian Lindner ausgeladen wur-
de. Der Ort scheint das Thema zu diktie-
ren: Die Rektorinnen und Rektoren wol-
len über die Meinungsfreiheit reden – sie
jetzt also auch noch mal. Im April schon
hatte der Deutsche Hochschulverband,
die Standesvertretung der Professoren,
gewarnt, die Debattenkultur an
Instituten und Fakultäten sei gefährdet.
„Die Toleranz gegenüber anderen Mei-
nungen sinkt“, heißt es in der Resolution.
Eine Behauptung, für die der Professoren-
verband keinen näheren Beleg bringt.
Dafür macht er sich erschreckend gedan-
kenlos den rechten Kampfbegriff der Poli-
tical Correctness zu eigen.
Die Alarmrufe verwundern schon al-
lein deswegen, weil die Universitätsbevöl-
kerung heute eher vielfältiger und gemä-
ßigter zu sein scheint als früher. Der An-
teil derer, die sich als links bezeichnen,
ist auf lange Sicht deutlich gesunken, wie
Konstanzer Hochschulforscher festhiel-
ten: 58 Prozent waren es zu Beginn der
90er-Jahre, 45 Prozent im Jahr 2013 (ak-
tuelle Zahlen wurden nicht erhoben). Die
Ränder im politischen Spektrum an den
Unis sind schmal geworden. Wenn es also
eine Phalanx der Unduldsamen in den
Hörsälen und Seminaren gibt, macht die
Debatte sie größer, als sie wirklich ist. Ein
paar Extrembeispiele finden sich immer.
Aber vieles, was als Beleg angeführt wird,
zerbröselt bei näherem Hinsehen.
Der Verein Deutsche Sprache versuch-
te kürzlich mit Flugblättern, Studierende
gegen „rechtswidrige sprachpolizeiliche
Genderregeln ihrer Universitäten“ zu mo-
bilisieren. Das klingt dramatisch, aber
fragt man an einer Uni wie Greifswald
nach, deren Sprachregime der Verein als

besonders rigide geißelt, findet man
wenig, was die reißerischen Worte recht-
fertigen würde: Seminararbeiten werden
weiter nach Inhalt und korrekter Zitier-
weise bewertet, Dozenten vergeben mit-
nichten reihenweise Strafpunkte für feh-
lende Gendersternchen und Binnen-Is.
Die „rechtswidrigen sprachpolizeilichen
Genderregeln“ bestehen lediglich im Be-
mühen, die Studierenden für eine inklusi-
ve Sprache zu sensibilisieren.
Auch FDP-Chef Christian Lindner, der
auf Einladung der Jungen Liberalen an
der Universität sprechen sollte, ist nicht
das Opfer einer Gesinnungspolizei, son-
dern schlicht der Raumvergabeordnung.
Die Uni gestattet keine parteipolitischen
Veranstaltungen. Wie zweckmäßig diese
Vorgabe ist, wenn gleichzeitig Sahra Wa-
genknecht sprechen darf, weil sie nicht
von der Parteijugend, sondern einem Ar-
beitskreis linker Ökonomiestudenten ge-
laden war, ist eine andere Frage.

So kann man es Fall für Fall durchge-
hen und entdeckt selten eine Diskurs-
polizei. Was man findet, ist allenfalls ein
ungeschicktes Diskursmanagement. So
auch bei Lucke. Womöglich wäre der Pro-
test milder ausgefallen, hätte man ihn
nicht einfach kommentarlos wieder ins
Vorlesungsverzeichnis gesetzt, als wäre
nie etwas gewesen. Besser wäre es gewe-
sen, man wäre die Rückkehr von vornher-
ein offensiv angegangen – etwa mit einer
Podiumsveranstaltung an der Universi-
tät, bei der Lucke und seine Kritiker
hätten aufeinandertreffen können. Aber
das überließ die Hochschule dann lieber
den Talkshows, als der bedenkliche Spin
einer gefährdeten Meinungsfreiheit
längst gesetzt war.

von nadia pantel

S


ollte man jemals in die Verlegenheit
kommen, sich mit Emmanuel Ma-
cron streiten zu müssen, steht eine
Sache fest: Frankreichs Präsident ist nicht
nachtragend. Als er 2017 Präsident wer-
den wollte, setzte sein russischer Amtskol-
lege Wladimir Putin vieles, darunter auch
einige Hacker, in Bewegung, um den Sieg
des damals 39-Jährigen zu verhindern.
Eine Feindschaft zu dem Mann begründe-
te das aber nicht. Im Gegenteil. Macron
hat sich zu Putins engagiertestem Fürspre-
cher in Europa entwickelt.
Das liegt an der Politik des „Deals“, die
Europa von Donald Trump schon ge-
wohnt ist und die auch Macron schätzt.
Die französischen Deals kommen elegan-
ter und weniger brüskierend daher als die
amerikanischen, doch beide entspringen
dem Umstand, dass sowohl Macron als
auch Trump sich als smarte Manager ih-
rer Länder verstehen.
Macron führt das Land auf eine Art und
Weise, die er in der freien Wirtschaft,
nicht in der Politik gelernt hat. Flexibel
bleiben und effizient handeln, mit diesen
Grundprinzipien beschreibt Macron sei-
ne Politik, und nach diesen Prinzipien
trifft er seine Entscheidungen. Gerade
was die Außenpolitik betrifft, kommuni-
ziert er seine Pläne bemerkenswert offen.
Er will die Europäische Union zu einer un-
abhängigen Militärmacht ausbauen und
damit die Lücke füllen, die aus der ameri-
kanischen Abwendung entsteht. Dieses
Ziel erscheint ihm leichter zu realisieren,
wenn es von Russland mitgetragen wird.
In Macrons Logik und auch in seiner
Rhetorik verdient dieses Vorgehen das
Prädikat „effizient“.
Bleibt noch die Frage der Flexibilität.
Vor der Europawahl entschied sich Ma-
cron für einen Wahlkampf, der nur noch
Gut und Böse kannte. In die Kategorie Bö-
se fielen alle nationalistisch tönenden Par-

teien und Regierungen von seiner Wider-
sacherin Marine Le Pen bis zu Ungarns Mi-
nisterpräsident Viktor Orbán. Dieser sei
ein „Hauptgegner der EU“, sagte Macron
vor weniger als einem Jahr über Orbán.
Das dürfte dem Ungarn ebenso geschmei-
chelt haben wie die Tatsache, dass Ma-
cron Orbán nun eine „intellektuelle und
politische Schlüsselfigur“ nennt, mit der
gemeinsam er die Polen davon überzeu-
gen will, Vertrauen zu Putin aufzubauen.

Greifbare Ergebnisse der macronschen
Russlandoffensive gibt es bislang noch
nicht. Am Freitag kündigte der Élysée-Pa-
last an, dass im Dezember Putin und sein
ukrainischer Amtskollege Wolodimir Se-
lenskij in Paris erwartet werden, um unter
französischer und deutscher Vermittlung
einen erneuten Versuch zu starten, den
Krieg in der Ostukraine zu beenden. Das
klingt hoffnungsfroh. Nur bleiben gleich-
zeitig die konkreten Hinweise aus, dass
sich irgendetwas an Putins Haltung gegen-
über der Ukraine geändert hätte.
Als Macron im vergangenen Sommer
mit Putin auf der Terrasse seiner Sommer-
residenz am Mittelmeer saß, fragte eine
Journalistin, wie Macron denn die Men-
schen in Russland unterstützen wolle, de-
nen Putin immer stärker die Grundrechte
beschneidet. Macron reagierte auf die
Frage mit einem längeren Exkurs zur
russisch-französischen Freundschaft zu
Zeiten Katharinas der Großen. Nur geht es
in der aktuellen Weltlage nicht darum,
Russlands historische Größe kleinzure-
den. Die Menschen in Russland und in der
Ukraine brauchen keinen französischen
Präsidenten, der ihre Philosophen und Li-
teraten verteidigt. Sondern einen, der sich
für ihre Freiheit einsetzt.

W


enn die Regierung eines erdöl-
gesättigten Landes den Benzin-
preis drastisch verteuert und
den Sprit rationiert, hat sie den Verstand
verloren oder das Wasser steht ihr bis zum
Hals. In Iran scheint Letzteres der Fall zu
sein: Bekamen die Bürger der Islamischen
Republik den Treibstoff über Jahrzehnte
für kleines Geld, muss angesichts der
durch die US-Sanktionen verschärften
Wirtschaftskrise Geld in die Kasse.
Die Proteste im ganzen Land mögen bis-
her noch unter Randale verbucht werden.
In der mehr oder minder totalitär geführ-
ten Islamischen Republik können sie sich
aber im Handumdrehen in echten politi-
schen Unmut verwandeln. Die über Jahre


aufgestaute Wut ist riesig, die Wirtschafts-
lage wird täglich schlechter, die Perspekti-
ven der jungen Generation gehen gegen
null. Wenn die Regierung nun behauptet,
mit der Benzinpreiserhöhung wolle sie
doch nur den sozial Schwachen helfen,
glaubt ihr das keiner: Teheran gibt seit Jah-
ren Geld für Undercover-Kriege in Syrien,
Jemen und Libanon aus und will dies wei-
ter tun. Die Armen im Land interessierten
die Machthaber bisher wenig.
Teheran läuft Gefahr, dass aus dem Un-
mut über den Spritpreis politischer Wider-
stand gegen das System wird. Dass man
solchen Widerstand früher einige Male nie-
derschlagen konnte, heißt nicht, dass dies
immer gelingt. tomas avenarius

A


bgebrochene Gespräche, minuten-
lange Ladezeiten für eine Webseite,
Bildermatsch statt Videotelefonie:
Was sich bei einer der wichtigsten Alltags-
technologien in Deutschland abspielt, ist
ein Trauerspiel für ein Land, das den An-
spruch hat, bei der Digitalisierung Techno-
logieführer zu sein. In Mecklenburg-Vor-
pommern, Brandenburg, Hessen, Bayern
und auch mitten in Berlin jedoch warten
Millionen Menschen vergeblich auf
schnelle Handynetze. An einem Drittel
des Landes sendet der Fortschritt vorbei.
Dabei war das Ziel der Bundesregie-
rung eigentlich klar formuliert. Das Land
müsse bei digitalen Netzen ganz vorn da-
bei sein, erklärte die Kanzlerin zum Start


der großen Koalition. Das sei zentral für
den Wohlstand des Landes. Doch bewegt
hat sich bislang nichts. Das Angebot für
hiesige Verbraucher ist trotz hoher Preise
beschämend schlecht. In Skandinavien et-
wa lässt sich auch auf dem Land mit Leich-
tigkeit surfen, und auch in Albanien ist die
Netzabdeckung höher.
Nun will es der Staat richten: Gut eine
Milliarde Euro stellt die Regierung zur Ver-
fügung, um Masten in Eigenregie aufzu-
stellen. Doch auf schnelle Hilfe sollten die
Abgehängten nicht hoffen. Erst in den
kommenden Monaten will der Bund eine
Infrastrukturgesellschaft gründen. Das
Land bleibt beim Mobilfunk auf der Suche
nach Anschluss. markus balser

G


ründe für Demonstrationen gibt es
viele, weshalb die in aller Welt auf-
flammenden Proteste nicht über ei-
nen Kamm zu scheren sind. Ob Bolivien,
Chile, Libanon, Iran, Hongkong oder Pa-
ris: Die Auslöser sind unterschiedlich, ha-
ben ihre eigene Geschichte, ihr eigenes
Ziel. In der Regel vermischen sich soziale
und ökonomische Gründe mit der berech-
tigten Klage über eine schlechte oder gar
korrupte Regierungsführung. Autokratie
und der Mangel an demokratischer Teilha-
be liefern den Unterdrückten noch immer
den besten Grund für einen Aufstand.
Allen Massenprotesten ist neuerdings
aber auch gemein, dass sie blitzartig eska-
lieren und oft in exzessive Gewalt um-


schlagen. Es sind erschreckende Bilder
aus Hongkong, aber auch Paris, wo die
Gelbwesten offenbar der Meinung sind,
dass brennende Autos ihrem Anliegen ei-
nen besonderen Wert verleihen.
Warum die Gewaltschwelle gesunken
ist? Sicher ist, dass natürliche Hemmun-
gen gefallen sind, dass Demonstranten
wie Polizisten die in Netz und Unterhal-
tungsindustrie vorgelebte Verrohung
zum Maß ihres Normallebens nehmen,
und dass sie möglicherweise glauben,
dass sie nur so Aufmerksamkeit erhalten.
Sie liegen falsch. Wer Autos anzündet, Ben-
zinbomben wirft, Pfeile abschießt und
mit Motorrädern in Menschen fährt, hat
niemals recht. stefan kornelius

Z


wei Politiker übernehmen den
Vorsitz einer Partei, kennen sich
selbst kaum und haben gemein-
sam doch das große Ziel, dieser
Partei einen neuen Habitus zu
verpassen. Einen, der nicht aggressiv,
laut, abgrenzend, also selbstgerecht wir-
ken darf, sondern im Gegenteil den gro-
ßen Brückenschlag zu anderen möglich
machen soll. Zwei Jahre später haben sich
die Umfragewerte verdoppelt, die eigene
Truppe gibt sich einigermaßen beseelt,
und die beiden werden mit einem Wahler-
gebnis ausgestattet, von dem ihre Vorgän-
ger nur träumen konnten. Dass Annalena
Baerbock und Robert Habeck auf dem Par-
teitag der Grünen mit 90 Prozent und
mehr wiedergewählt wurden, ist eine tri-
umphale Bestätigung ihres Kurses. Selten
ist es einer Parteiführung gelungen, so
schnell so viel Geschlossenheit zu erzeu-
gen.


Bemerkenswert ist dies vor allem, weil
Baerbock und Habeck das erhebliche Risi-
ko eingegangen sind, die einstmals zer-
strittenen Grünen ausgerechnet auf ei-
nem Weg des wachsenden Realismus zu-
sammenzuführen. Noch vor wenigen Jah-
ren hätten sie das wahrscheinlich selbst
für unmöglich gehalten. Dass Baerbock
dabei noch einmal deutlich besser ab-
schnitt als Habeck, ist keineswegs eine
Vorentscheidung in der Frage, wen die
Partei als Kanzlerkandidat oder -kandida-
tin ins Rennen schicken wird. Aber es ist
eine Botschaft an Habeck, nicht davon-
zuschweben. Nach dem Motto: Heb bloß
nicht ab, Junge; wir werden auch bei die-
ser Frage ein Wörtchen mitreden.
So salopp diese Botschaft wirkt – was
jetzt kommt, dürfte deutlich schwerer wer-
den. Und es wird nicht nur das Duo an der
Spitze fordern. In den letzten zwei Jahren
nämlich haben die Grünen in einer für sie
beinahe idealen Welt gelebt. Nicht weil
das Klima schon gerettet und die Umwelt
gesund wären, sondern weil sie seit dem
Scheitern der Jamaika-Verhandlungen
aus dem Feld der politischen Parteien her-
ausstechen. In vierzig Jahren grüner Ge-
schichte hat es noch keinen Moment gege-
ben, in dem die Konkurrenz, allen voran
SPD und Union, so schwach war und so
viel Bindekraft verloren hat.
Die Stärke der Grünen hat also viel mit
der Schwäche der anderen zu tun. Das
zeigt sich beim Blick auf die Parteifüh-
rung, die eine Geschlossenheit und einen
Optimismus ausstrahlt, von dem in SPD
und Union viele nur träumen können.


Noch gravierender aber ist der program-
matische Unterschied. Während die ande-
ren Parteien um Kurs und Botschaft rin-
gen, haben die meisten Menschen bei den
Grünen das Gefühl zu wissen, wofür diese
Partei eintritt. Klimaschutz, Flüchtlings-
politik, Kampf gegen Intoleranz und Ras-
sismus – was andere Parteien spaltet, ist
bei den Grünen geregelt. Ausgerechnet
bei den Themen, die viele in der Gesell-
schaft derzeit für die wichtigsten halten,
zeigen die Grünen ein klares Profil. Das ist
in Zeiten großer Unsicherheit ein politi-
sches Pfund, um das sich die anderen Par-
teien gerade vergeblich bemühen.
So günstig all dies für die Grünen bis-
lang gewirkt hat – die Partei hat auch da-
von gelebt, dass vieles vor allem Über-
schrift blieb, Grundbotschaft, gefühlte
Klarheit. Der Schein wirkte schön. Jetzt
aber muss vieles konkreter werden. Das
wird Fragen und Widerspruch auslösen.
Beispiel: der Beschluss des Parteitages
zum Flüchtlingsabkommen mit der Tür-
kei. Darin heißt es, das Abkommen müsse
gekündigt werden, weil der türkische Prä-
sident mit dem Einmarsch in Nordsyrien
alle Regeln verletze. Zu den Folgen für die
Millionen Flüchtlinge in den türkischen
Lagern, die bislang mit Milliarden aus
dem Abkommen unterstützt werden,
heißt es, man werde den Menschen ander-
weitig helfen. Es gibt gute Gründe, Recep
Tayyip Erdoğan und seine Politik für eine
Katastrophe zu halten. Und es gibt auch
gute Gründe, das Abkommen anzuzwei-
feln. Aber wer zu den Folgen für die Flücht-
linge in den Lagern lapidar schweigt, der
muss sich die Frage gefallen lassen: Wie
ernst ist es dieser Führung wirklich mit
der Behauptung, dass sie sich auch den un-
bequemen Fragen stellen werde?
Die Grünen haben in Bielefeld demons-
triert, wie raumgreifend sie agieren möch-
ten. Es geht ihnen längst nicht mehr nur
um Klima und Flüchtlinge; es geht ums
Wohnen und einen höheren Mindestlohn,
es geht um eine neue sozial-ökologische
Wirtschaftspolitik, um Verteidigung und
Europa. Die Grünen-Spitze fühlt sich
stark genug, wie eine neue Volkspartei auf
alles Antworten zu geben. Doch wer ver-
spricht, Digitalkonzerne zu kontrollieren,
Finanzmärkte zu regulieren und die sozia-
len Folgen des Kohleausstiegs aufzufan-
gen, darf keine Zweifel an seiner Gewissen-
haftigkeit mehr aufkommen lassen.
Robert Habeck hat in Bielefeld vorher-
gesagt, dass die Zeiten für die Grünen här-
ter würden. Und er hat seine Partei aufge-
rufen, sie möge darüber nicht selbst ver-
härten. So klug das als Mahnung sein mag


  • eines hätte er noch ergänzen können:
    Dass die Partei auch aufpassen muss, sich
    nicht zu übernehmen. Das könnte zu ih-
    rem größten Problem werden.


Schwitzen ist eine lebensnot-
wendige Funktion, sie verhin-
dert eine Überhitzung des
Körpers. Die Körpertempera-
tur gesunder Erwachsener
beträgt 36 bis 37 Grad. Um einen Anstieg
bei heißem Wetter, körperlicher Anstren-
gung oder dem Verzehr von scharfem
Essen zu verhindern, wirft das Gehirn die
Klimaanlage an: Es aktiviert über das Ner-
vensystem die Schweißdrüsen der Haut,
die besonders dicht an Achseln, Handflä-
chen und Fußsohlen angesiedelt sind.
Aus den Poren wird Wasser abgegeben,
das die Haut kühlt. Auch Adrenalin kann
Schweißproduktion auslösen, etwa in
Stress- oder Angstsituationen. Affen und
Pferde zählen zu den wenigen Tieren, die
ebenfalls schwitzen. Infolge einer Infekti-
on, Vergiftung, neurologischen Störung
oder Erkrankung kommt es bei manchen
Menschen zu einer erhöhten Schweißpro-
duktion. Man spricht dann von Hyperhid-
rose. Seltener tritt die sogenannte Anhi-
drose auf: dass Menschen zu wenig oder
gar nicht schwitzen, an kleineren Hautare-
alen oder am ganzen Körper. Ursache
können Nervenerkrankungen, Erbkrank-
heiten, eine Unterfunktion der Schilddrü-
se oder Medikamente sein. Prinz Andrew,
der Duke of York, sagt nun, er habe eine
Zeit lang nicht schwitzen können. Betrof-
fenen wird geraten, Hitze und körper-
liche Anstrengung zu meiden, um nicht
zu überhitzen. stad

(^4) MEINUNG Montag, 18. November 2019, Nr. 266 DEFGH
FOTO: JAMES LAWLER DUGGAN/REUTERS
UNIVERSITÄTEN
Die Gedanken sind frei
MACRON
Ein französischer Deal
IRAN
Wut aufs System
MOBILFUNK
Kein Anschluss
GEWALT
Explosion, jetzt
Kanzlerkandivers oliver schopf
GRÜNE
Schöner Schein
von stefan braun
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Schwitzen
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Jim
Jordan
Trumps Mann
fürs Grobe in den
Anhörungen
Das Gerede von Sprechverboten
an Universitäten ist übertrieben,
mehr Gelassenheit tut not
Der Präsident verfolgt eine
widersprüchliche Politik
gegenüber Russland
Bei den Grünen ist vieles nur
Überschrift. Jetzt kommt die
harte Phase der Prüfung

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