Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 INTERNATIONAL 3


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Asad setzt Kurden das Messer an den Hals

Der Machthaber in Damaskus fordert die Miliz der Demokratischen Kräfte Syriens auf, gemeinsam gegen die Türkei zu kämpfen


CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT


Mit dem zwischen Moskau und Ankara
ausgehandeltenWaffenstillstand schien
im NordostenSyriensvorwenigenTa -
gen alles entschieden zu sein: DieTürkei
beschränkt ihre Geländegewinne auf die
bereits eroberten Gebiete zwischenTell
Abiad undRas al-Ain.Syrische und russi-
scheTr uppen sichern dierestliche Grenze
und sorgen für den Abzug der kurdischen
Kämpfer. DieKurden atmeten auf, und
ihr Oberbefehlshaber Mazlum Abdi be-
dankte sich beim russischenPräsidenten
Wladimir Putindafür, dass er seinVolk
vor weiteren Massakern bewahrt habe.


Ein dreckigesSpiel?


Doch wie so vieleWaffenstillstände im
syrischen Bürgerkrieg scheint auch die-
ser dasPapier nicht wert zu sein, auf
dem er geschrieben steht. Die von der
Türkei unterstützten syrisch-arabischen
Rebellengruppen setztenamMittwoch
ihre Offensive in Richtung der Stadt
Tell Tamer und östlich vonRas al-Ain
fort. Gleichzeitig meldeten kurdische
Quellen, dass sich die Soldaten der syri-
schen Armee zurückzögen:«Ein dre-
ckiges Spiel steckt hinter demRückzug
von einigen Stellungen», schriebBahti-
yar Umut von der kurdisch dominier-
tenMiliz der Demokratischen Kräfte
Syriens (SDF) aufTwitter.Offenbar
hätten die syrischenTr uppen nicht ge-
nügend Munition und logistische Unter-
stützung erhalten.
Eigentlich waren für Dienstag die
ersten gemeinsamen russisch-türki-
schenPatrouillen entlang der Grenze
geplant, inzwischenaber sei dieser Start
aufFreitag verschoben worden, meldet
die NachrichtenagenturReuters.Mit
demAufschub derPatrouillen und dem
Rückzug der syrischenTr uppen woll-
tenDamaskus und MoskaudieKurden
zu Konzessionen zwingen, erklärten
anonyme Quellen innerhalb der SDF-
Führung derSyrischen Beobachtungs-
stelle für Menschenrechte (SOHR).
Worum es dabei geht, scheint klar:
Am Mittwochrief die syrische Militär-
führung die Einheiten der SDF dazu
auf, sich in Asads Armee zu integrieren,
um den gemeinsamen türkischenFeind
vereint zu bekämpfen. Zugleich forderte
das Innenministerium inDamaskusdie
kurdischePolizei dazuauf, sich den syri-
schen Ordnungskräften zu unterstellen.
Das Kommando der SDF wies den un-
verblümtenAufruf zurFahnenflucht
an seine Einheiten in einer geharnisch-
ten Erklärung umgehend zurück:«Die
Integration in die syrische Armee kann
nur nach einer politischen Einigung er-
folgen, die dieAutonomie der SDF be-


wahrt.»Damaskus solle dazu doch bitte
einenkonstruktiven Dialog mit derFüh-
rung der SDF suchen.
Das Signal ausDamaskus an dieKur-
den lautet: Entscheidet euch jetzt zwi-
schen uns und den USA. Nachdem der
amerikanische Präsident DonaldTr ump
seineTr uppen zunächst ganz ausSyrien
hatte abziehen wollen und damit Anfang
Oktober erst die türkische Invasion er-
möglicht hatte, kamer vergangeneWoche
auf seinen Entscheidzurück. Um grosse
Teile der syrischen Erdölfelder östlich
des Euphrats zu sichern und ein Erstar-
ken derTerrormiliz IS zu verhindern, hat
Washington seineTr uppen wieder aufge-
stockt.Dazu werden erstmals auchPan-
zereinheiten nachSyrien verlegt.

Amerikaner auf Patrouille


Gemäss der SOHR war am Donners-
tag ein riesiger amerikanischer Mili-
tärkonvoi mit rund150 Fahrzeugen zur
Luftwaffenbasis in Sarrin südlich von
Kobaneunterwegs. Am gleichenTa g
patrouillierten amerikanische Soldaten
erstmals seit dreiWochen wieder ent-
lang der syrisch-türkischen Grenze. Ge-
meinsam mit Kämpfern der SDF waren
sie östlich der kurdischen «Hauptstadt»
Kamishli unterwegs.Womöglich will

Washington verhindern, dass russische
und syrischeTr uppen diesen Grenz-
abschnitt ganz im OstenSyriens eben-
falls unter ihreKontrolle bringen.Für
die amerikanische Präsenz ist dieses

Gebiet deshalb so wichtig, weil hier die
wichtigsteVersorgungslinie der Ameri-
kaner in den Irak führt.
Wegen der türkischen Invasion muss-
ten dieKurden erneut viel Leid erdul-
den und widerwillig das Asad-Regime
um Hilfe rufen.Tr otz dem amerikani-
schenVerrat scheinen sie offenbar wei-
terhin bereit, mit den USA zukoope-
rieren. Die Allianz mitWashington, und
sei sie noch so labil, ist vermutlich ihre
einzigeTr umpfkarte,um die hart er-

kämpfteAutonomie nicht ganz zu ver-
lieren. Zwar mussten sie syrischen und
russischenTr uppen Einlass in ihr Herr-
schaftsgebiet gewähren, aber die täg-
licheVerwaltungsarbeit liegt weiter in
ihren Händen; auch den Grenzüber-
gang zu den irakischenKurdengebie-
tenkontrollieren sie noch. Mit den SDF
verfügen sie zudem noch immer über
eigene Streitkräfte.
Ausamerikanischer Sicht haben sich
dieKurden im Kampf gegen den IS als
sehr zuverlässigePartner erwiesen.Auch
bei derTötung des IS-Führers AbuBakr
al-Baghdadi vergangeneWoche spielten
kurdische Spione eine entscheidende
Rolle. Die Amerikaner ihrerseits wer-
den dieKurden weiterhin brauchen, um
die Erdölfelder zu halten, die Gefäng-
nisse mit Zehntausenden von IS-Kämp-
fern und ihren Angehörigen zu bewa-
chen und um jihadistische Schläferzellen
auszuheben.Viele Erdölfelder und die
aktivsten IS-Gebiete befinden sich in den
arabisch dominiertenWüstengebieten
südlich von Deir al-Zur. Die arabischen
Stämme sind im Kampf gegen die Jihadis-
ten jedoch weniger verlässlichePartner.
Die derzeitige Situation beiRas al-
Ain undTell Tamer zeigt jedoch, wie
schwierig der kurdische Spagat zwischen
Damaskus undWashington geworden

ist. Es gibt deshalb auch Stimmen inner-
halb der kurdischenFührung, welche die
Kooperation mit den Amerikanern an
Bedingungen knüpfen.«Wenn die Prä-
senz der Amerikaner nicht hilft, für Sta-
bilität und Sicherheit zu sorgen sowie
den Genozid und ethnische Säuberun-
gen zu stoppen, dann sind sie nicht will-
kommen», sagte Ilham Ahmed, die Prä-
sidentin desSyrian Democratic Council
(SDC), gegenüber «ForeignPolicy».

Kurden sind Rückgratder SDF


Der SDC ist der politische Arm der SDF.
Ilham Ahmed verlangt vonWashington
zudem, dass es den SDC als legitime
syrischePartei anerkenne und für seine
Vertretungimneu geformten syrischen
Verfassungskomiteeunter der Ägide
der Uno sorge. Nicht nurDamaskus,
sondernvor allem auch dieTürkei hat
dies bisher abgelehnt. Denn dasRück-
grat der multiethnischen SDF sind letzt-
lich die kurdischenVolksverteidigungs-
einheiten (YPG), die eng mit der kurdi-
schen Arbeiterpartei (PKK) in derTür-
kei verbandelt sind.Wenn es die USA
nun aber wirklich ernst meinen mitden
Kurden, dannkönnten sie mehr tun, als
Ankara neueWirtschaftssanktionenan-
zudrohen oder den türkischenVölker-
mord an den Armeniern anzuerken-
nen. So twitterte etwa Ilham Ahmed am
Donnerstag: «Die amerikanische Luft-
waffe und DonaldTr ump schauen zu,
wie dieTürkei den NordwestenSyriens
vonChristen und anderen Volksgruppen
ethnischsäubert.Warum?»

Washington verlegt wiederPanzereinheiten nachSyrien. CAROL GUZY / IMAGO

Ungarn, Polen und Tschechien drohen Strafen


EU-Gutachterin kritisiert Visegrad-Staatenwegen «mangelnder Solidarität» in der Flüchtlingskrise


DANIELSTEINVORTH, BRÜSSEL


Es gibt Leute, die in der Flüchtlingskrise
von 20 15 einen «europäischen 11. Sep-
tember» sehen, einen Moment also, von
dem analles anders wurde aufdemKon-
tinent.DerVergleich wirkt übertrieben,
doch dass die Massenmigration infolge
des syrischen Bürgerkrieges tiefe ge-
sellschaftliche Gräben in Europa aufge-
rissenhat, ist unbestritten. So sorgt vor
allem ein Beschluss vom 22. September
2015 bis heute für böses Blut zwischen
Ost- undWesteuropäern: Mit qualifi-
zierter Mehrheit und gegen denWillen
der Slowakei, Ungarns, Rumäniens und
Tschechiens hatte der EuropäischeRat
damals die Umverteilung von 120 000
Asylbewerbern beschlossen.
In einem Zeitraum von zweiJahren
sollten die Migranten nach festen Quo-
ten von Italien und Griechenland in an-
dere EU-Mitgliedstaaten gebracht wer-
den.Dagegen allerdings sperrten sich
mehrere ost- und mitteleuropäische


Staaten. Der Streit mündete in einer
Klage Ungarns und der Slowakei vor
dem EuropäischenGerichtshof (EuGH)
in Luxemburg. Nachdem das Gericht im
September 20 17 befand, der Beschluss
desRatessei «erforderlich und ver-
hältnismässig» gewesen, weigerten sich
Tschechien, Ungarn undPolen dennoch,
ihn umzusetzen. Und so erhob die EU-
Kommission im Dezember 20 17 ihrer-
seits Klage gegen die drei Staaten, die
seit 20 15 keinen einzigen – oder imFalle
Tschechiens lediglich zwölf – Migranten
aus dem Umverteilungsprogramm auf-
genommen haben.
Am DonnerstaggabnundieGeneral-
anwältin des EuGH, Eleanor Sharpston,
ineinem Gutachten ihre Einschätzung
ab. Dabei setzte sich die britischeJuris-
tin vor allem mit der innenpolitischen
Argumentation der beklagten Staaten
auseinander. Die dreiLänder hatten
ihre Sorge um die öffentliche Ordnung
und die innere Sicherheit vorgebracht
und argumentiert, es sei die ausschliess-

licheAufgabe der Mitgliedstaaten, sich
in ihremTerritorium um dieseFra-
gen zu kümmern. Die Generalanwäl-
tin wies diese Begründung aber zurück:
Es sei denLändern ohne weiteres mög-
lich gewesen, Sicherheit undWohlerge-
hen ihrer Bürger zu schützen. DieAuf-
nahme eines Asylbewerbers hätte mit
berechtigten Gründen jederzeit abge-
lehnt werdenkönnen.
Laut Sharpston seien alle EU-Staa-
ten in der Notsituation von 20 15 in
der Pflicht gewesen, denRatsbeschluss
angemessen umzusetzen, denn nur so
habe man den «unerträglichen Druck»
auf dieLänder an den EU-Aussengren-
zen mildernkönnen. Dies, so die Gene-
ralanwältin, sei das«Wesen von Soli-
darität».Auch hätte das Programm für
denFall, dass es Schwierigkeiten bei
der Umsetzung gegeben hätte, zeit-
weise (allerdings nicht einseitig) aus-
gesetzt werdenkönnen. Mit ihrerWei-
gerung, sich an den Umsiedlungen zu
beteiligen, hätten Tschechien, Ungarn

undPolen also klar gegen geltendes
EU-Recht verstossen.
Nurwenigbeeindruckt zeigte sich am
Donnerstagabend die polnischeRegie-
rung von dem Schreiben aus Luxem-
burg. «Unsere Handlungen wurden be-
stimmt von den Interessen der polni-
schen Bürger und dem Schutz vor un-
kontrollierter Migration»,sagte ein
Regierungssprecher und bekräftigte da-
mit diePositionWarschaus, wonach sich
die Mitgliedstaaten in Migrationsfragen
nicht von der EU hineinredenlassen
wollen. Man «studiere und analysiere»
das Gutachten, hiess es dagegen vor-
sichtig aus Prag. Obwohl die Einschät-
zung der Generalanwältin nicht bin-
dend ist, gilt es als wahrscheinlich, dass
ihr die Richter folgen werden.Ein Urteil
des EuGH dürfte in denkommenden
Monaten fallen.Dannkönnte der Ge-
richtshof empfindliche Zwangsgelder
gegen die drei EU-Staaten verhängen
–und den Ost-West-Graben in Europa
noch weiter vertiefen.

IS benennt


neue n Anführer


(dpa)·Die Terrormiliz Islamischer Staat
(IS) hat denTod ihres Anführers Abu
Bakr al-Baghdadi bestätigt und einen
Nachfolger benannt. Abu Ibrahim al-
Hashimi al-Kuraishi sei der neue An-
führer des IS, erklärte dieTerrororgani-
sation in einer am Donnerstag veröffent-
lichten Botschaft über seinen Propa-
gandasenderFurkan. Der IS bestätigte
darin auch denTod des weiterenrang-
hohen Mitglieds Abual-Hassanal-Mu-
hajir. Dieser habe aus Saudiarabien ge-
stammt.Muhajir war Sprecher des IS und
wichtiger BeraterBaghdadis. Der IS ruft
seine Anhänger in der 17 Minuten lan-
gen Botschaft dazuauf,dem neuen An-
führerTr eue zu leisten. «Freut euch nicht
über dieTötung von ScheichBaghdadi»,
heisst esanAmerika gerichtet. Der IS sei
nichtauf den Nahen Osten beschränkt
und werde seine Mission fortsetzen.

Korrespondenten berichten
Die NZZ-Korrespondentin IngaRogg gibt
Einblickein ihrLeben im Nahen Osten
und ihre Arbeit in Krisengebieten. Das
Gespräch in Zürich moderiertAusland-
redaktorin MeretBaumann.
19.November,19.30 Uhr,Kosmos.
Tickets unter nzz.ch/live

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