„Wir sind larmoyant, träge und
fett unterwegs.“
Günther Oettinger, EU-Haushaltskommissar, zur
Arbeit der Großen Koalition in Deutschland
Worte des Tages
Handelsstreit
Hypothetische
Hoffnung
D
ie Nachricht, China und die
USA hätten sich darauf geei-
nigt, im Fall einer Vereinba-
rung einige Strafzölle zurückzuneh-
men, macht Hoffnung. Der Han-
delskrieg zwischen den zwei größ-
ten Volkswirtschaften der Welt
wirkt sich schließlich nicht nur ne-
gativ auf die beiden Länder, son-
dern auf die gesamte Welt aus.
Doch man sollte sich nicht zu
früh freuen. Der Champagner kann
jetzt kalt gestellt, aber noch nicht
geöffnet werden. Noch hängt vieles
in der Schwebe, bevor ein soge-
nannter Phase-1-Deal erzielt wird.
Denn bisher steht noch nicht ein-
mal fest, ob die Vereinbarung tat-
sächlich unterzeichnet wird. Schon
einmal standen beide Parteien kurz
vor dem Abschluss. Dann wurden
die Gespräche abgebrochen; es folg-
ten noch mehr Strafzölle.
Noch haben sich beide Seiten
nicht einmal auf einen Ort und Zeit-
punkt für die Unterzeichnung geei-
nigt. Mal war vom amerikanischen
Soja-Bundesstaat Iowa die Rede,
mal sollten sich US-Präsident Do-
nald Trump und der chinesische
Staatschef Xi Jinping im tiefen Win-
ter von Alaska treffen. Inzwischen
berichten Beobachter, dass man ei-
ne Einigung erst bis Mitte Dezem-
ber erreichen werde.
Vielleicht gibt es tatsächlich kurz
vor Weihnachten noch ein Handels-
abkommen. Trump muss in Zeiten
eines Amtsenthebungsverfahrens
dringend einen Erfolg vorweisen.
Und Xi würde auch davon profitie-
ren, wenn er dem Abwärtstrend
beim chinesischen Wirtschafts-
wachstum einen positiven Impuls
entgegensetzen könnte. Denn um
sein Versprechen zu erfüllen, das
Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen
von 2010 bis 2020 zu verdoppeln,
braucht er nächstes Jahr mindes-
tens sechs Prozent Wachstum. Ana-
lysten gehen aber davon aus, dass
China dieses Ziel nicht mehr er-
reicht, sollte der Handelskrieg an-
halten.
Tatsächlich aber ist es mit dem
Phase-1-Deal wie mit allen Verträ-
gen: Er steht erst, wenn er unter-
zeichnet ist. Und wie viel er tatsäch-
lich wert ist, wird sich erst mit der
Zeit zeigen.
Die mögliche Einigung im
Handelsstreit zwischen USA
und China ist noch kein Grund
zum Jubel, meint Sha Hua.
Die Autorin ist Korrespondentin in
Peking.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]
I
n der „Nacht der Wunder“ des 9. November
1989 änderte sich nach Meinung des briti-
schen Historikers und damaligen Augenzeu-
gen Timothy Garton Ash „alles für immer: in
Berlin, Deutschland, Europa und in der
Welt“. So groß war die Euphorie nach dem Mauer-
fall, dass der Politologe Francis Fukuyama kurze Zeit
später das „Ende der Geschichte“ ausrief. Gemeint
war damit, dass die Zeit der politischen Systemkon-
kurrenz vorbei und der globale Siegeszug einer wirt-
schaftsliberalen Weltordnung vorgezeichnet sei.
30 Jahre später haben wir das vermeintliche End-
ziel der Geschichte nicht nur aus den Augen verlo-
ren, sondern die Welt bewegt sich rückwärts. Mit
der Machtpolitik ist auch die Geschichte zurückge-
kehrt. Und mit ihr der Systemwettbewerb – diesmal
zwischen dem sich müde gesiegten Westen und dem
Sozialismus chinesischer Prägung. Auch andere tot-
geglaubte Geister sind wieder zu neuem Leben er-
wacht: der Nationalismus zum Beispiel und mit ihm
der Glaube, dass die Weltwirtschaft eine Arena sei,
in der Nationen gegeneinander um den Wohlstand
kämpfen, statt ihn miteinander zu mehren.
Eine nationalistische Wirtschaftspolitik braucht ei-
nen starken Staat, der sie vor der Konkurrenz
schützt, ihr den Weg in die digitale Zukunft weist
und sie zuweilen auch machtpolitischen Zielen un-
terordnet. Dass Wladimir Putin als Nachlassverwal-
ter des Sowjetimperiums heute schadenfroh be-
haupten kann, der Liberalismus habe sich überlebt,
zeigt, wie weit wir uns vom Geist von 1989 entfernt
haben. Die entscheidende Frage aber ist, ob es sich
dabei um eine gesunde Korrektur eines überschäu-
menden Libertarismus handelt oder um einen Rück-
fall in eine gefährliche Staatsgläubigkeit.
Politische und wirtschaftliche Ordnungen existie-
ren nicht unabhängig voneinander. Freiheit, Demo-
kratie und Marktwirtschaft gehörten schon für den
Ordoliberalen Walter Eucken zusammen. 1989 dach-
ten deshalb viele, mit dem politischen Erfolg des
Westens über die Diktatur des Sowjet-Sozialismus
habe auch die liberale Marktwirtschaft über die diri-
gistische Staatswirtschaft gesiegt. Was politisch die
Pax Americana war, wurde wirtschaftlich durch den
neoliberalen „Washington-Konsens“ über Deregulie-
rung, Liberalisierung und den Rückbau des Staates
durchgedrückt. Die Ereignisse von 1989 waren der
Startschuss für die wirtschaftliche Globalisierung.
Der Traum von einer Welt ohne Mauern und natio-
nale Grenzen, die zu einer globalen Marktwirtschaft
konvergiert, schien zum Greifen nah.
Euckens Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit
der Ordnungen gilt jedoch auch dann, wenn die Ge-
schichte den Rückwärtsgang einlegt. Autoritäre Re-
gime wie in China, Russland und der Türkei gehen
einher mit einem starken Staat. Protektionismus, Di-
rigismus, Nationalismus und Kleptokratie sind die
schwarzen Reiter der Autokraten. Und anders als zu
Zeiten des Kalten Krieges hat es der ermattete und
seit der Finanzkrise von Selbstzweifeln geplagte
Westen diesmal mit einem Konkurrenten (China) zu
tun, der zu technologischen Leistungen fähig ist, die
denen der westlichen Demokratien überlegen sind.
Das ist ein Grund dafür, dass nun auch im Westen
unter dem Signum einer neuen Industriepolitik eine
deutlich aktivere Rolle des Staates gefordert wird,
um im globalen Wettbewerb und insbesondere im
Wettrennen um Zukunftstechnologien von autoritä-
ren Staatswirtschaften wie China nicht abgehängt zu
werden. Die Rückkehr des Staats als wirtschaftlicher
Akteur begleiten nationalistische Töne und Ambitio-
nen. So klingt etwa der Begriff „digitale Souveräni-
tät“ gut, ist aber auch brandgefährlich.
Der Systemwettbewerb mit China zwingt den Wes-
ten jetzt dazu, die Rolle des Staats in der Marktwirt-
schaft grundsätzlich neu zu bestimmen. Das muss
kein Fehler sein. Bereits nach der Finanzkrise hat
diese Neuorientierung begonnen, als das Marktver-
sagen eines kaum regulierten Kapitalismus scho-
nungslos offengelegt wurde. Allzu oft wird der Staat
als Störenfried der Wirtschaft verteufelt, obwohl
staatliche Investitionen und Forschung den Boden
für die digitale Wirtschaft von heute bereitet haben.
Auch die Gefahr einer Monopolisierung durch globa-
le Plattformen wie Facebook oder Google lässt sich
ohne eine strenge Wettbewerbskontrolle durch den
Staat nicht bannen. In den USA fordern inzwischen
nicht nur Millennials wie die 1989 geborene Demo-
kratin Alexandria Ocasio-Cortez und die linke Präsi-
dentschaftsbewerberin Elizabeth Warren einen stär-
keren Staat, um die sozialen Ungleichgewichte in
den westlichen Gesellschaften zu mildern, sondern
auch gestandene Wall-Street-Größen wie Ray Dalio.
Die Herausforderung besteht darin, eine neue Ba-
lance zwischen Markt und Staat zu finden, die aus
den historischen Erfahrungen des Marktversagens
ebenso die richtigen Lehren zieht wie aus den wirt-
schaftlichen Schäden, die auf das Konto des Staats
gehen. Gerade dafür bleiben die Ereignisse von 1989
eine Mahnung: Unfreiheit, Befehlswirtschaft und
Kollektivismus sind historisch immer gescheitert.
Mehr zum Mauerfall: Seiten 60, 62 und 72
Leitartikel
Auferstanden aus
Ruinen der Mauer
Mit der Geschichte
ist seit 1989 auch
der starke Staat als
Akteur in der
Weltwirtschaft
zurückgekehrt,
meint
Torsten Riecke.
Dass Putin
behaupten
kann,
der Liberalis-
mus habe
sich überlebt,
zeigt, wie weit wir
uns vom Geist
von 1989 entfernt
haben.
Der Autor ist International Correspondent.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]
Meinung
& Analyse
(^18) WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216