Handelsblatt - 08.11.2019

(Barré) #1

I


n den vergangenen Wochen ist Michael Sen
von einem Standort zum nächsten gereist. In
Erlangen, Nürnberg, Görlitz, Hamburg, Ber-
lin und Mülheim stellte sich der Siemens-Vor-
stand auf Townhall-Meetings vor die Beschäftig-
ten. Der künftige Energie-Konzern Siemens Ener-
gy, den er führen wird, sei keine „Bad Bank und
keine Resterampe“, sagte er laut Teilnehmern.
„Darüber kann ich bestenfalls schmunzeln. Ich
sehe uns ganz woanders.“
Sen ist für eines der interessantesten, aber
auch schwierigsten Projekte in der deutschen Un-
ternehmenslandschaft verantwortlich. Der Sie-
mens-Konzern spaltet sich im kommenden Jahr
auf. Die Energiesparte steht immerhin für 40
Prozent der Umsätze. Sen muss nun gleichzeitig
die Mitarbeiter und die Investoren davon über-
zeugen, dass Siemens Energy mehr ist als die seit
Jahren kriselnde Kraftwerkssparte.
Im Energiebereich wartet viel Arbeit auf Sen.
Sorgenkind ist die Kraftwerkssparte Gas and
Power. 2018/19 sanken die Umsätze nochmals um
vier Prozent auf 17,7 Milliarden Euro. Die operati-
ve Umsatzrendite ging leicht auf 3,8 Prozent zu-
rück. Schnelle Besserung ist nicht in Sicht, im
laufenden Jahr rechnet man mit zwei bis fünf
Prozent. Auch das zweite Standbein des neuen
Konzerns, die Mehrheitsbeteiligung an Siemens
Gamesa, hat Probleme. Der Umsatz legte zwar
um zwölf Prozent auf 10,2 Milliarden Euro zu, die
Marge sank aber von 5,3 auf 4,7 Prozent.
Im Unternehmen sind viele zuversichtlich,
dass Siemens Energy eine echte Chance hat. „Das
kann ein Referenzunternehmen für die Energie-
wende werden“, sagte ein Siemens-Aufsichtsrat
dem Handelsblatt. Kein Konkurrent habe die ge-
samte Kette vom Stromtransport über erneuer-
bare Energien bis zur konventionellen Stromer-
zeugung im Portfolio. Sen müsse nun stabile,
nachhaltig orientierte Investoren finden, die in
klassische Infrastruktur investieren, forderte ein
Aufsichtsrat. Das könnten Versicherungen sein,
aber auch langfristig orientierte Fonds.
Das Geschäft kennt Sen als früherer Finanzvor-
stand von Eon auch aus Kundensicht. Zudem hat
er bei Eon mit Uniper die bislang größte Abspal-
tung eines Konzernteils in Europa an die Börse
gebracht. Bei Siemens orchestrierte er den Bör-
sengang der Healthineers. Mit einer gewissen Ei-
telkeit, seiner Vergangenheit als Finanzer und
dem Blick auch für strategische Themen erinnert
er viele im Haus ein wenig an Joe Kaeser.
Bei den Townhall-Meetings hat er laut Teilneh-
mern einen guten Eindruck gemacht. In Berlin
erzählte er Anekdoten aus seiner Zeit in dem
Werk. Damals habe der Werksleiter noch jeden
aufgeschrieben, der nach 7.30 Uhr gekommen
sei. „Ich glaube, ich war ein paar Mal drauf. Aber
hat ja trotzdem geklappt.“ Schon Sens Vater war
Betriebsrat und Entwicklungsingenieur im Nach-
richtenkabelwerk in Neustadt bei Coburg.
Offiziell ist noch nicht entschieden, wo die
neue Siemens Energy ihren Sitz hat. Bei den
Townhall-Meetings sagte Sen, man werde sich
Anfang des Jahres festlegen. In Unternehmens-
kreisen gilt aber München als Favorit, eventuell
mit einem Doppelsitz in Erlangen.
Interessant war Sens Auftritt in Görlitz. Das
Werk sollte ursprünglich geschlossen werden.
Doch nun sieht Sen in der Produktionsstätte eine
Inspiration für eigenverantwortliches Wirtschaf-
ten, Kundenorientierung und Fokus auf eigene,
innovative Themen. Die unternehmerische Frei-
heit habe viele Kräfte freigesetzt. „Machen Sie
weiter. Und wenn Sie erfolgreich sind, dann lässt
Sie jeder in Ruhe“, sagte Sen zu den Mitarbeitern
im Townhall-Meeting. Axel Höpner

umringt, nicht den Eindruck, dass er sich noch be-
währen müsse. Das habe er in seiner Karriere bei
Siemens getan.
Ein Aufsichtsrat betonte gegenüber dem Han-
delsblatt denn auch: „Die Zeichen sind klar gesetzt:
Busch kann es, und er wird es.“ Eine Verlängerung
Kaesers für wenige Jahre sei für ihn nicht vorstell-
bar. „Da verliert man nur Zeit.“ Eine neue Genera-
tion müsse entscheiden, wie es nach Kaesers „Visi-
on 2020+ weitergehe. Am besten sei es, wenn man
den Wechsel zu Busch gleich im nächsten Sommer
vollziehe, wenn die Nachfolge beschlossen wird.
Sollte es so kommen, würde also schon Busch die
nächste Bilanz vorlegen.
Die künftige Siemens AG mit den Digitalen Indus-
trien (DI) ohne das Kraftwerksgeschäft brauche ei-
nen Techniker, wird im Umfeld des Aufsichtsrats
betont. „Künftig ist nicht mehr so stark das Portfo-
liomanagement gefragt.“ Nach der Aufspaltung von
Siemens müsse man nun wieder verstärkt nach Ge-
meinsamkeiten zwischen den verbliebenen Ge-
schäften von Siemens – neben DI sind das noch die
Intelligente Infrastruktur und die Bahntechnik – su-
chen. „Sonst zerlegt es den Laden noch.“ Der Di-
plom-Physiker Busch sei dafür der richtige Mann.
Aktuell zumindest laufen die Geschäfte ange-
sichts des schwierigen Umfelds gut. Die Umsätze
stiegen im Geschäftsjahr 2018/19 wie versprochen
um vergleichbar drei Prozent auf 86,8 Milliarden
Euro. Zwar bekommen vor allem die kurzzykli-
schen Geschäfte in den Digitalen Industrien, die
besonders sensibel auf Konjunkturschwankungen
reagieren, den Gegenwind zu spüren. Doch kann
Kaeser dank eines um sechs Prozent auf 98 Milliar-
den Euro gestiegenen Auftragseingangs auch im
neuen Geschäftsjahr auf ein moderates Umsatz-
wachstum hoffen.
Auch beim Gewinn lag Siemens über den Erwar-
tungen. Die operative Umsatzrendite ging zwar von
12 auf 11,5 Prozent zurück. Kritiker werfen Kaeser
vor, der Konzern stehe trotz aller Umbauten opera-
tiv nicht viel besser da als bei seinem Amtsantritt.
Doch lag der Konzern damit in der Mitte des prog-
nostizierten Korridors. Für das neue Geschäftsjahr
gaben Kaeser und Thomas keine Margenprognose
mehr für den Gesamtkonzern, sondern für die ein-
zelnen Geschäfte: die Digitalen Industrien (17 bis 18
Prozent), die Intelligenten Infrastrukturen (10 bis 11
Prozent), die Bahntechnik (10 bis 11 Prozent) und
die Kraftwerkssparte (2 bis 5 Prozent).
Am Donnerstag legte die Siemens-Aktie zwi-
schenzeitlich um knapp fünf Prozent auf 114 Euro
zu. Große Sprünge hat sie damit seit der Amtsüber-
nahme Kaesers nicht gemacht. Doch der Vor-
standschef kalkuliert, dass die Finanzmärkte eine
Neubewertung vornehmen, wenn die schwächeln-
de Energiesparte im nächsten Jahr erst einmal ab-
gespalten ist.
Denn gerade in den künftigen digitalen Kernge-
schäften läuft es weiter ordentlich bei Siemens. Bei
der Digitalen Fabrik dürfte am Markt die Nachfrage
aus der Automobilindustrie und dem Maschinen-
bau in den kommenden Monaten sinken. Doch im
vierten Quartal konnte die Sparte Digitale Indus-


trien bei Siemens den Umsatz vergleichbar noch
um zwei Prozent auf 4,3 Milliarden Euro steigern.
Verantwortlich dafür ist das Softwaregeschäft, das
um 20 Prozent zulegte. Bei den Intelligenten Infra-
strukturen legten die Erlöse zuletzt um drei Pro-
zent zu. In der Bahntechnik gab es zwar weniger
Großaufträge. Doch liegt die operative Umsatzren-
dite mit 12,3 Prozent inzwischen sogar über den in-
ternen Zielvorgaben.
Doch Kaesers Mantra ist es ja, dass man Verän-
derungen aus einer Position der Stärke heraus vor-
nehmen muss. Er will drei große, börsennotierte
Siemens-Konzerne schaffen: die Healthineers, Sie-
mens Energy und die verbleibende Siemens AG. Er
selbst sprach von der „größten Transformation in
der 172 Jahre langen Unternehmensgeschichte“.
Für die Grundsatzentscheidungen der Kaeser-
Ära gibt es im Aufsichtsrat sowohl auf der Kapital-
als auch der Arbeitnehmerseite Rückendeckung. Es
gelte, künftig als fokussierter Spezialist in die Höhe
zu wachsen und nicht in die Breite, heißt es im
Umfeld des Kontrollgremiums. Dem Energiege-
schäft tue die Selbstständigkeit gut. Es hätte sich
schwergetan, Aufmerksamkeit und Investitionska-
pital im Konzern zu bekommen, wenn andere Be-
reiche höhere Margen versprechen.
Allerdings hinterfragen einzelne Aufsichtsräte in-
zwischen, ob es richtig war, die Medizintechnik an
die Börse zu bringen. Schließlich zeichneten sich
die großen Übernahmen, für die man die Aktie als
Akquisitionswährung bräuchte, nicht ab. „Das in-
dustrielle Siemens wäre froh, wenn es das stabili-
sierende und ertragsstarke Medizintechnikgeschäft
voll mit dabei hätte.“
Ein Siemens ohne Kaeser? Das kann sich wohl
nicht nur er schwer vorstellen. Zu dominant war
seine Rolle in den vergangenen Jahren. Im von
Schließung bedrohten Werk in Görlitz habe man
neue Perspektiven gefunden, sagte er zum Beispiel
am Donnerstag. „Auch, wenn man das dort erst
zur Chefsache machen musste.“ Für nur schwer er-
setzlich hält er sich womöglich eben doch.
Und was wird nun aus Kaeser? Der Vorstands-
chef wollte sich auch nicht dazu äußern, ob er den
Aufsichtsratsvorsitz bei der Siemens AG anstrebt.
Es gibt Berichte über eine Absprache zwischen
Kaeser und Aufsichtsratschef Jim Hagemann Sna-
be, dass Kaeser nach der Abkühlphase den Chef-
sessel im Kontrollgremium übernehmen könnte.
Einige Insider sehen das allerdings skeptisch.
Der frühere SAP-Chef Snabe habe Gefallen an dem
Job gefunden und bringe das richtige Anforde-
rungsprofil mit. Kaeser habe nicht die Rückende-
ckung des gesamten Kontrollgremiums für eine
Rückkehr als Aufsichtsratschef.
Doch es gibt ja noch Optionalitäten – ein Begriff,
den Kaeser gern gebraucht. Den Siemens-Chef,
meint ein Kontrolleur, könne man sich auch gut als
Aufsichtsratschef bei der neuen Siemens Energy
vorstellen. Schließlich habe er ja auf vielen Aus-
landsreisen in den Verhandlungen mit Staatsfüh-
rern aus aller Welt viele Aufträge für die Sparte he-
reingeholt. Das allerdings ist eine Nummer kleiner
als der Aufsichtsratsposten bei Siemens.

Wir haben


die größte


Transfor -


mation der


Unterneh -


mensge -


schichte


erfolgreich auf


den Weg


gebracht.


Joe Kaeser
Siemens-Chef

Siemens Energy


Ein neuer


Konzern mit


alten Problemen


Siemens-Bereiche in Zahlen
Umsatz in Mrd. Euro


Sparten und Geschäfte
Strom und Gas
Digitale Industrien
Intelligente Infrastruktur
Healthineers

Verkehrstechnik
Portfolio-Unternehmen
Finanzdienstleistungen

Gamesa


0,47 0,45
2,50 2,46
1,55 1,44
2,08 2,31

0,87 0,90
-0,33 -0,04
-0,04 -0,04

0,21


-5,1 %
-1,5 %
-7,1 %

11,2 %

3,1 %


20,5 % 0,25


17,66
16,09
15,23
14,52

8,92
5,53
0,83


12,1 %

0,8 %

10,23


*Abweichungen zum Konzernumsatz und -ergebnis durch ÜberleitungHANDELSBLATT • Quelle: Unternehmen


83,04 86,85


2018 2019


Ergebnis (Ebit) in Mrd. Euro


Veränderung
-2,5 %

3,2 %

5,4 %

8,1 %

1,1 %


12,1 %


Veränderung


6,18*
2018

7 ,09*
2019

Unternehmen & Märkte
1


WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216^21

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