Handelsblatt - 08.11.2019

(Barré) #1

Larissa Holzki Lissabon


E


in Internet mit fairen Re-
geln muss her. Dafür setzt
sich die EU-Wettbewerbs-
kommissarin Margrethe
Vestager seit Jahren ein.
Zum einen sollen viele Firmen da-
durch die Möglichkeit bekommen, im
Netz Geld zu verdienen. Zum anderen
sollen dadurch die Daten der Nutzer
geschützt werden.
Nun ist sie nach Lissabon gereist,
um über solche Regeln mit Vertretern
der Branche zu diskutieren. Dass die
Reguliererin bei der internationalen
Technologiemesse Web Summit das
letzte Wort bekommt, ist eine Bot-
schaft an sich. Bei der Messe tauschen
sich Technologieunternehmen mit
traditionellen Konzernen und der Po-
litik aus – ohne den Druck von Wahl-
kampf und Massenpublikum.
Vestager sagte vor ihrem Auftritt,
dies sei eine Gelegenheit, in eine offe-
ne Diskussion über Ideen und Gedan-
ken zu treten, „die nicht in Regularien
gehämmert“ werden müssten, die
aber eine neue Gemeinschaft ermögli-
chen könnten.
Es geht weniger um Produktjubel
als um technologische bis philosophi-
sche Fragen wie folgende: Ist das Netz
ein gefährlicher Ort? Ist Datenschutz
wichtiger als Strafverfolgung? Wie
können Menschen und Gesellschaften
vor Manipulation geschützt werden?
Vor allem aber stellt sich die Frage:
Löst die Tech-Szene ihre Probleme
selbst, oder übernimmt nun die Poli-
tik die Oberhand über das Netz?
Auch für Energieunternehmen wie
Shell sind das wegweisende Fragen.
Auf der Technologiemesse spricht der

Chefstratege Ed Daniels über verschie-
dene Zukunftsszenarien. Die aktuellen
Entwicklungen könnten demnach zu
einer Welt digitaler Inseln führen, in
der die Globalisierung zurückgedreht
ist zu einer autoritären Welt, in der
Regierungen und Tech-Unternehmen
gemeinsam das Netz kontrollieren,
oder zu einer stark vernetzten Welt of-
fener Plattformen, auf denen interna-
tionale Werte gelebt werden.
„Wir müssen auf jede dieser alterna-
tiven Zukunftsszenarien vorbereitet
sein“, sagt Daniels dem Handelsblatt.
„Wir nutzen diese Szenarien deshalb,
wo und wie wir investieren.“
Es ist jedoch umstritten, ob Regie-
rungen oder Unternehmen persönli-
che Daten besser schützen und im In-
teresse der Nutzer handeln können.
Ebenso offen ist die Antwort auf die
Frage, ob mehr Regulierung zu einer
zu starken Überwachung führt. Ed-
ward Snowden misstraut beiden Sei-
ten. Um Menschen vor datensam-
melnden Unternehmen und Behör-
den zu warnen, hat er seine
persönliche Freiheit aufgegeben. „Das
Geschäftsmodell von Google, Amazon
und Facebook an sich ist Missbrauch“,
sagte der Whistleblower zum Auftakt
der Messe und mahnte: Wo auch im-
mer Daten gespeichert werden, wer-
den sie irgendwann auch geleakt.
Ein am Mittwoch bekannt geworde-
ner Fall bestätigte ihn: Die saudische
Regierung soll US-Staatsanwälten zu-
folge zwei Twitter-Mitarbeiter für
Spionage angeheuert haben. Das Kö-
nigreich habe Informationen über Re-
gierungskritiker einholen wollen,
heißt es in einer Beschwerde, die bei

einem Bezirksgericht in San Francisco
eingereicht wurde. Das Ziel: Tausende
Twitter-Konten auszuspähen.
Snowden beobachtet, dass sich
mittlerweile ein Problembewusstsein
für solche Fälle entwickelt. Das liegt
auch an Politikern und Vertretern
mächtiger Institutionen weltweit, die
in Parlamenten und noch lauter auf
Twitter fordern, die Tech-Riesen zu
zerschlagen oder mit weiteren Geset-
zen einzuschränken. Plötzlich ist Da-
tenschutz nicht mehr langweilig, Da-
tenschutz wird existenziell für die In-
ternetunternehmen.
Facebook-Manager Jay Sullivan be-
richtete beim Web Summit, wie das
Unternehmen mit FBI und Kinder-
schutzorganisationen über die Ver-
schlüsselung seiner Nachrichtendiens-
te berät, und betonte zugleich, dass
Facebook Behörden „kein Hintertür-
chen“ offenlassen wolle, wenn die
Verschlüsselung all seiner Dienste ein-
geführt wird.
Kritikern reichen solche Ansätze
nicht. Wenn die Tech-Riesen jetzt Da-
tenschutz geloben, scheint das vielen
scheinheilig. Amazon, Facebook und
Google hatten Jahre Zeit herauszufin-
den, wie ihre Nutzer ticken und wer,
wie, wo und wann ihre Dienste nutzt.
Europäische Unternehmen wie die
Deutsche Telekom versuchen inzwi-
schen, Datenschutz zum entscheiden-
den Kundenargument im internatio-
nalen Wettbewerb zu machen, zum
Beispiel bei Smarthome-Geräten.
Brittany Kaiser kennt die Macht der
Daten. Bevor sie zur Whistleblowerin
wurde, war sie Mitarbeiterin bei Cam-
bridge Analytica, jener Analysefirma,

die in den Facebook-Datenskandal
verwickelt war. Damals entwickelte
sie selbst Kampagnen mit unter-
schiedlichen Werbebotschaften für
spezifische Wählergruppen.
Auf dem Web Summit lobte sie
Twitter-Chef Jack Dorseys „heldenhaf-
te“ Entscheidung, künftig keine politi-
sche Werbung mehr in seinem Nach-
richtendienst zuzulassen. Es sei trau-
rig, dass politische Werbung verboten
werden müsse, damit Menschen nicht
manipuliert werden – aber so sei es.
Kaiser setzt sich für Selbstbestim-
mung beim Datengeschäft ein: „Men-
schen sollten wählen können, an wen
ihre Daten verkauft, zu welchem
Zweck sie genutzt werden“, sagte sie.
Und sie sollten mehr dafür bekom-
men als die Möglichkeit, eine Platt-
form zu nutzen. „Ich glaube, wir stim-
men alle darin überein, dass das kein
fairer Handel mehr ist“, sagte Kaiser.
Jimmy Wales reicht das noch nicht.
Für den Wikipedia-Mitbegründer ha-
ben Plattformen gefährliche Anreize,
wenn sie ihr Geschäftsmodell auf Wer-
beeinnahmen aufbauen: Der Fokus
könne sich schnell von qualitativ
hochwertigen Informationen auf Bei-
träge verschieben, die zum Weiterkli-
cken animieren.
Auf dem Web Summit warb Kathe-
rine Maher von der Wikimedia-Stif-
tung für Wikipedias Spendenmodell,
das solchen Anreizen entgegenwirken
soll. Wales hatte gegenüber dem Han-
delsblatt jüngst auf der Konferenz Di-
gital X in Köln die Vorteile erläutert.
„Leute zahlen nur für uns, wenn sie
den Eindruck haben, dass wir ihr Le-
ben bedeutend verbessern. Also jagen
wir nicht nach Klicks, wir müssen be-
deutsam sein.“ Wales arbeitet derzeit
an einem neuen sozialen Netzwerk
nach dem Vorbild von Wikipedia, bei
dem Wahrheitsgehalt und Qualität
von Inhalten im Vordergrund stehen.

Selbstermächtigung
statt Regulierung
Für einen der Urväter des Netzes
steht heute sein Erbe auf dem Spiel:
Sir Tim Berners-Lee. Der Erfinder von
HTML und Begründer des World Wi-
de Web war ebenfalls Redner in Köln.
Die Technologiebranche bewegen
überall die gleichen Fragen. „Ich glau-
be es ist wichtig, dass wir die Werte
nicht ignorieren, auf denen das Web
aufgebaut wurde“, sagte Berners-Lee
dem Handelsblatt, „aber es ist auch
wichtig, dass wir ein paar Probleme
lösen, die es hat.“
Dafür bevorzugt der HTML-Erfinder
Innovationen. Er hält die riesigen
Tech-Plattformen nicht für Monopole,
die sich auf ewig selbst erhalten. „Die
Leute werden Amazon und Facebook
nicht notwendigerweise in Massen
verlassen“, sagte er. Aber „Stück für
Stück werden sie sehen, dass es viele
andere Wege gibt, Menschen zu tref-
fen, Informationen auszutauschen
und ihr Leben zu managen als in den
großen gegenwärtigen Silos.“
Die Idee von Berners-Lee: mit
Selbstermächtigung statt Regulierung
den Tech-Riesen etwas entgegenset-
zen. An einer technologischen Lösung
arbeitet Berners-Lee bereits. Mittels
der Plattform Solid sollen persönliche
Daten in Containern gespeichert wer-
den, die ihre Besitzer selbst verwalten
können. „Wenn Menschen begreifen,
dass sie ihre Daten selbst kontrollieren
können, werden sie von selbst wech-
seln“, sagte Berners-Lee.
Vor einem Jahr hatte Berners-Lee
den Web Summit eröffnet und nach
Verbündeten gesucht, die sich für ein
besseres Netz verpflichten. Auch Goo-
gle und Facebook machten mit. Die
Ergebnisse der Arbeitsgruppen sollen
demnächst vorgestellt werden.

Regulierung


Wer bekommt die


Oberhand über das Netz?


Die Technologie-Branche diskutiert mit der Politik über


Regulierung und Innovation. Auf dem Web Summit geht das


bedachter als im Wahlkampf oder auf Twitter.


EU-Wettbewerbskommis-
sarin Margrethe Vestager:
Löst die Tech-Szene ihre
Probleme selbst?
AP

Das


Geschäfts -


modell von


Google,


Amazon und


Facebook


an sich ist


Missbrauch.
Edward Snowden
Whistleblower

Web Summit 2019


(^26) WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216

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