Handelsblatt - 08.11.2019

(Barré) #1

Karriere


(^58) WOCHENENDE 7./8./9. NOVEMBER 2019, NR. 216
Reden ist Gold
Professionelle Keynote-Speaker bieten Gänsehaut gegen
Honorar. Ein Handwerk, das jeder lernen könne, behaupten
einschlägige Trainer. Aber stimmt das wirklich?
Lazar Backovic Wiesbaden
D
er Herbst liegt still über dem Taunus,
nur im Seminarraum eines Auto-
bahnhotels in der Nähe von Wiesba-
den wummert lautstark Calvin Har-
ris’„Giant“ aus den Boxen. 180 Men-
schen – darunter Trainer, Coaches, Vertriebler, Ex-
Banker und Rechtsanwälte – sind hierher gekom-
men, um in vier Tagen zu lernen, wie sie als „Top-
speaker“ Karriere machen. 4200 Euro kostet ein
Seminarplatz in dem „Goldprogramm“, plus Mehr-
wertsteuer. Am Einlass gibt es Gummi-Armbänd-
chen wie auf einem Festival. Der Haupt-Act ist Her-
mann Scherer, einer der bekanntesten Vortrags-
redner Deutschlands.
Scherer ist mit der Story groß geworden, dass er
fast fünf Millionen D-Mark Schulden geerbt und
sich danach als Trainer, Autor und Redner hoch-
gerackert hat. Dax-Konzerne buchen den 55-jähri-
gen Selfmademan als Motivator, insgesamt hat er
mehr als 3000 Vorträge in etwa genauso vielen Un-
ternehmen auf der ganzen Welt gehalten. Ein typi-
scher Scherer-Satz lautet: „Wissen wird mit 500
Euro fakturiert, Gänsehaut mit 10 000 Euro.“
Nach einer Stunde Einheizen sollen die Teilneh-
mer die Augen schließen und sich die Bühne vor-
stellen. Scherers Stimme wird dabei manchmal so
laut, dass die Boxen anfangen zu knacken. „Vor
Euch sitzen 15 000 Menschen, ach, was sag ich:
50 000 Menschen.“ Knack. „Oder Fernsehen!“ Wie-
der: knack. „Eine Million, nein, 10 Millionen Men-
schen, die diesen einzigen Impuls von Euch brau-
chen, um ihr Leben zu verändern.“ Auf drei will
Scherer das „lauteste, deutlichste, energievollste
und bestimmteste Ja hören, das ihr jemals gerufen
habt“. Pause. „Naja, außer vielleicht bei Eurer
Hochzeit“. Eins, zwei, drei. „Jaaaa“, das Publikum
pariert. „Ist das schön“, wispert Scherer.
Scherers Goldprogramm steht für einen Trend in
Deutschland. Denn obwohl sich die Wirtschaft der-
zeit eintrübt, haben Vortragsredner und ihre Aus-
bilder Hochkonjunktur. Vorstände, Verbände,
Eventmanager und Medienhäuser lechzen seit Jah-
ren nach sogenannten Keynote-Speakern, die ih-
nen im Zeitalter der Digitalisierung ganz analog ih-
re Botschaften von der Bühne servieren. Schwei-
gen, so scheint es, ist seit einigen Jahren nicht
einmal mehr Silber. Reden ist Gold.
„Unsere Rezeptionsgewohnheiten haben sich
stark verändert“, sagt Nicole Bußmann, Chefredak-
teurin der Fachzeitschrift „Managerseminare“.
Langweilige Fachvorträge füllen längst keine Hal-
len, auch im Weiterbildungsbusiness haben Emo-
tionalität und Unterhaltung zugenommen. Die In-
spiration kommt von Formaten wie „TedX“ oder
„Bits & Pretzels“, einem Münchner Tech-Kongress,
der zuletzt Ex-US-Präsident Barack Obama nach
Deutschland geholt hat.
Lukrativer Job für Ex-Politiker
Für die Extraportion Infotainment sind viele Unter-
nehmen bereit, tief in die Tasche zu greifen. Zu
den absoluten Topverdienern im Speaker-Business
zählen internationale Spitzenpolitiker wie Obama
oder Hillary Clinton, die mehrere Hunderttausend
Euro pro Auftritt absahnen. Auch die britische Ex-
Premierministerin Theresa May dürfte bald Zehn-
tausende Euro als Rednerin verdienen. Eine Agen-
tur in Washington vermittelt May seit dieser Woche
exklusiv für Events. Solche Beispiele wecken Be-
gehrlichkeiten – auch wenn Nichtpromis nur einen
Bruchteil solcher Gagen verlangen können.
Die Folge: Immer mehr Coaches, Trainer und
selbst ernannte Experten fluten einen Markt, der
sich weitestgehend um sich selbst dreht. Glaubt
man Branchenkennern, gibt es Stand heute im
deutschen Markt 5000 bis 8000 Keynote-Speaker.
Zieht man echte Promis wie Wladimir Klitschko,
Boris Becker oder Reinhold Messner ab, bleiben je
nach Zählart 1000 bis 1800 Profiredner übrig.
„Speaking ist nach wie vor ein Nachfragemarkt“,
sagt Scherer, soll heißen: Der Bedarf an guten Red-
nern ist größer als das Angebot. Seiner Einschät-
zung nach habe die Branche aktuell gerade einmal
zehn Prozent ihres Potenzials entfaltet. Bleibt die
Frage: Kann eigentlich jeder Keynote-Speaker wer-
den? Auch ohne sich vorher als Politiker oder Pro-
fiboxer einen Namen gemacht zu haben?
DigitalVision/Getty Images
Redner betritt
die Bühne:
Viel Scheinwerfer-
licht, noch mehr
Schatten.

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