Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
Armbanduhr, sagt Marcus, habe wohl
mehr Speicherplatz, als den frühen KI-Pio-
nieren in ihren Labors zur Verfügung
stand. Mit der heutigen Hardware, so
glaubt er, tun sich ganz andere Möglich-
keiten auf.
Wie ein Neustart für die KI gelingen
könnte, skizziert der Forscher in einem
Buch, das soeben erschienen ist*. Darin
plädiert er für eine Mischform, die das Bes-
te aus beiden Welten verbindet: Der intel-
ligente Computer der Zukunft nutzt wei-
terhin das schnelle, intuitive, etwas schlam-
pige Maschinenlernen, wenn es etwa um
das Erkennen von Bildern geht – er lässt
sich dabei aber leiten von einem eingebau-
ten Regelwerk nach Art der klassischen
KI, das ihn zur Anwendung von Logik und
Weltwissen befähigt.
Das viel bewunderte Deep Learning ist
da nur noch ein Mittel unter vielen. Dem
Neurowissenschaftler Matthias Bethge an
der Uni Tübingen geht diese Deklassie-
rung zu weit. Das maschinelle Lernen
habe das alte Handwerkszeug der KI quasi
motorisiert, sagt er. Es treibe nach wie vor
die Entwicklung des Fachs voran und müs-
se darum auch weiter gefördert werden.
Die Informatikerin Dagmar Monett
Diaz, die an der Berliner Hochschule für
Wirtschaft und Recht lehrt, sieht die Lage
hingegen wie Gary Marcus, dessen Buch
sie allen Fachleuten empfiehlt. »Auch ich
glaube, dass wir nur weiterkommen, wenn
wir verschiedene Techniken kombinieren«,
sagt sie. »Einige Forscher arbeiten auch
schon an solchen hybriden Systemen.«
Für Marcus beginnt alles mit der Frage,
die schon vor Jahrzehnten die Kollegen


  • Gary Marcus, Ernest Davis: »Rebooting AI – Building
    Artificial Intelligence We Can Trust«; Pantheon,
    288 Seiten.


umtrieb: Wie lässt sich Wissen über die
Welt in einen Computer einbauen? Wie
erklärt man ihm, wofür ein Tisch gut ist?
Wie soll er lernen, dass Äpfel auf Bäumen
wachsen und, wenn sie sich vom Zweig
lösen, nicht nach oben fallen? »Das sind
harte Probleme«, sagt der Forscher, »nie-
mand mag sich damit herumschlagen.
Aber wir müssen da mit frischer Kraft
noch mal ran.«
Damit kommt ein altgedienter Pionier
ins Spiel, der beinahe vergessen schien: In
Austin, Texas, baut der Forscher Douglas

Lenat schon seit 1984 an einem Computer,
der die Welt versteht.
Ein Team von Experten ist noch immer
damit beschäftigt, der wundersamen Ma-
schine Fakten einzulöffeln: Dass die meis-
ten Menschen nachts schlafen – liegend,
mit geschlossenen Augen, meist mehrere
Stunden am Stück. Dass lauter Lärm die
Schläfer wecken kann, was ihnen in der
Regel zuwider ist. Und dass man, um Kaf-
fee zu trinken, die Tasse mit der Öffnung
nach oben hält.
Über die Jahrzehnte wuchs der Wissens-
speicher dieses Computers, genannt
»Cyc«, zu kolossalen Ausmaßen heran.
Heute enthält er mehr als 25 Millionen
Aussagen darüber, wie es zugeht in der
Welt – alles von Hand eingegeben.
Damit haben Lenats Leute, in fast hei-
ligmäßiger Langmut, ein einzigartiges
Werk geschaffen.

»Cyc« verfügt auch über Kenntnisse
aus diversen Fachgebieten, vom Wetter
über die Gesundheit bis hin zur Politik.
Das meiste aber ist Alltagswissen, wie
es dem Menschen ohne großes Nachden-
ken vertraut ist – nur eben nicht dem
Com puter. Ihm muss man eigens beibrin-
gen, dass ein Ding nicht an zwei Orten zu-
gleich sein kann. Und dass in der Regel
erst die Ursachen kommen, dann die Wir-
kungen.
Alle Aussagen sind in einer streng for-
malen Logiksprache niedergelegt, die der
Computer handhaben kann. Das erlaubt
es ihm, vielerlei Schlussfolgerungen quasi
auszurechnen: Aus dem Wissen, dass Bäu-
me Pflanzen sind und Pflanzen nicht ewig
leben, schließt »Cyc«, dass auch Bäume
eines Tages absterben. Die Behauptung,
ein Mann sei schwanger, würde er als
unlogisch ablehnen.
Freilich ist das famose Unikum für im-
mer auf menschliche Wartung angewiesen;
von selbst lernt »Cyc« gar nichts. Bei der
schier unendlichen Vielzahl an Fakten, die
sich auch noch beständig ändern, kommt
man da an kein Ende. Zudem ist die viel-
fach verschachtelte Logik sperrig in der
Handhabung. Kein Wunder also, dass
»Cyc«, gemessen am enormen Aufwand,
noch nicht viel Nutzen gebracht hat. Die
meisten Fachleute halten das Projekt sogar
für gescheitert.
»Trotzdem sollte sich jeder in unserem
Fach ›Cyc‹ genau ansehen«, sagt Gary
Marcus. Es gelte herauszufinden, was man
heute besser machen könnte – zum Prin-
zip des allumfassenden Bescheidwissens
gebe es aber letztlich keine Alternative:
»Wenn jemals ein Computer einen Text
wirklich verstehen soll, dann muss er wis-
sen, was ›Cyc‹ weiß.«
Eine verständige Lesemaschine, so
glaubt der Forscher, wäre ein Segen. Zu
den großen Menschheitsfragen – vom
Kampf gegen den Krebs bis zur Hirnfor-
schung – ist inzwischen so viel veröffent-
licht worden, dass niemand mehr die Stoff-
massen vollständig durchforsten kann. Die
Maschine könnte es. Und am Ende stünde
sie bereit, sachkundige Auskünfte zum
Stand der Dinge zu geben.
Wenn es nach Marcus geht, wäre es aber
auch allmählich Zeit für einen Roboter, der
mit den Wechselfällen eines normalen
Haushalts klarkommt – nach dem Vorbild
von »Rosie the Robot«, jener flotten Haus-
wirtschafterin mit Schürze, die einbeinig
auf einem Rollschuh durch die Wohnung
der Zeichentrickfamilie Jetson sauste.
»So was wie Rosie habe ich mir immer
gewünscht«, sagt Marcus mit einem Seuf-
zer, »und noch immer sind wir weit davon
entfernt. Ich meine, diese Jetsons, das ist
jetzt ein halbes Jahrhundert her.«
Manfred Dworschak

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 117

MATT EDGE / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
Roboter mit Zauberwürfel: Das geschickte Hantieren selbst antrainiert

Dem Computer muss
man beibringen, dass ein
Ding nicht an zwei Orten
zugleich sein kann.
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