Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1
von julia bergmann

D


reißig Jahre. So lange war Mirjam
Gerda Daum glücklich ohne Mann.
Dann kam Mirdamad Bosorgsade.
„Ein Feuerwerk an Lachen und Esprit“, so
beschreibt Daum den Moment, als er auf ei-
nem Fest plötzlich neben ihr saß. Die Jahr-
zehnte zuvor? Ein „Dornröschenschlaf“.
„Die Frau in mir war plötzlich wieder da –
aber als 17-Jährige.“ Mirjam Gerda Daum,
77 Jahre alt, sitzt im leichten, weißen Lei-
nenkleid auf ihrem Sofa. Die kleine, zierli-
che Frau gestikuliert schwungvoll und
lacht, wenn sie von dem Tag vor vier Jah-
ren erzählt. Noch heute sieht man ihr die
klassische Tänzerin an, die sie einmal war.
Mirdamad Bosorgsade, 70 Jahre alt, sitzt


ihr gegenüber auf einem Stuhl. Er trägt ein
ordentliches Hemd, Tweedsakko und sau-
bere Lederschuhe. Lächelt ihr zu. Schaut
sie an, als wären beide allein auf der Welt.
Daum sagt: „Es hat einfach gefunkt, wir
hatten eine richtige Hochzeit.“ Das „Hoch“
betont sie, zieht es in die Länge. Es war kei-
ne Heirat, es war ein Höhenflug.
„Ich war 30 Jahre lang zufrieden, weil
ich alles hatte. Die Liebe zum Leben und
zu mir selbst“, sagt Mirjam Gerda Daum.
Dann, vor vier Jahren: die Feier in der
Wohnanlage für Senioren, in der beide le-
ben. Als Daum sich in der Runde vorstellt,
von ihrer Liebe zur Musik und zur Philoso-
phie spricht, denkt Bosorgsade: „Ich muss
diese Lady kennenlernen.“ Er hat selten
Frauen getroffen, die sich wie er für Philo-


sophie begeistern. „Und sie ist hübsch. Bei-
des zusammen“, sagt er, „ist der Ham-
mer.“ Daum schlägt die Augen nieder, ki-
chert, erzählt dann weiter: „Plötzlich saß
er neben mir, zack.“ Sie klatscht in die Hän-
de. Ein Knall, ein Rausch, so war das da-
mals. Und Daum, die ja eigentlich gar
nicht wollte, konnte sich dagegen nicht
wehren.
Das Klischee der einsamen älteren
Frau, die sich nach einem neuen Mann
sehnt – Daum erfüllt es nicht. So wie viele
andere Senioren, sagt die Münchner Paar-
und Familientherapeutin Friederike K.
Berger. Es gebe zwar eine große Zahl von
älteren Frauen und Männern, die einsam
sind und sich eine neue Partnerschaft wün-
schen. Aber auch einige, die bewusst allei-
ne bleiben wollen. Etwa, weil sie sich dem
früheren Partner noch verbunden fühlen,
oder weil die zurückliegende Beziehung
so belastend war, dass sie froh sind, wenn
sie vorbei ist. Daum wollte nach einer kur-
zen, unglücklichen Ehe keine Beziehung
mehr. Wollte unabhängig und frei sein.
„Mit 30 bin ich raus aus dem Opernbe-
trieb“, erzählt sie. Als Primaballerina hat
sie an den großen europäischen Opernhäu-
sern getanzt, war erfolgreich, wurde be-
wundert. Mit 34 hat sie geheiratet. Für die
Frau, die früher auf den großen Bühnen
im Applaus badete, wird die Welt von da
an eng. Daum kümmert sich überwiegend
um den Haushalt. „Durch die Ehe kam so
ein Zwang in die Beziehung“, sagt sie. Ir-
gendwann zerbrach die Partnerschaft dar-
an. Daum wollte keinen Mann mehr in ih-
rem Leben.
„Bei all dem Schönen, das mit einer neu-
en Partnerschaft verbunden ist, ist es auch
anstrengend, oder kann es zumindest sein,
sich mit einem neuen Menschen vertraut
zu machen“, sagt Berger.
Das Schöne, das „Feuerwerk“, das
Daum mit Bosorgsade dann doch erlebt
hat, ist ein Aspekt ihres Kennenlernens. Ab-
gesehen davon? Daum sagt es so: „Das Ver-
liebtsein ist heimtückisch. Es ist ein
Zwang.“ Die Anfangszeit: ein Rausch. Mo-
natelang war nur noch wichtig, was der an-
dere sagt, denkt, fühlt. Jede Sekunde woll-
te Daum mit ihm verbringen. Ein wahnsin-
niges Glücksgefühl – ein unglaublicher
Zwang. Weil die Kehrseite der Verliebtheit
die Eifersucht war. Und die Angst davor,
den anderen zu verlieren. „Am Anfang war
es schrecklich schön“, sagt Daum. Die Beto-
nung liegt auf dem schrecklich. Bosorgsa-
de schaut sie an, mit mildem Blick und
wirft ihr im gespielten Entsetzen ein „Du
Bösewicht“ zu. Beide lachen, schauen sich
an. „Heute“, sagt Daum mit sanfter Stim-
me, „ist es wunderschön.“
Was die Liebe im Alter von der in jungen
Jahren unterscheidet? „Das Leben ist ein
Lernprozess, man gewinnt mehr Erkennt-
nis, man hat viel mehr Dankbarkeit“, sagt
Bosorgsade. Daum stimmt zu. Man mache
Fortschritte, habe mehr Respekt vor dem
anderen und könne den Partner so lassen,
wie er ist. In ihrer Ehe sei das anders gewe-
sen. „Früher hatte ich immer den Wunsch,
dass wir uns bei allem einig sind“, sagt sie.
Heute ist ihr klar, dass das überhaupt
nicht möglich ist. Sie schaut zu Bosorgsa-
de. „Er ist eine eigene Welt“, sagt sie. „Das
kann man als junger Mensch nicht über-
spannen.“
Heute findet Daum: „Wenn ich den an-
deren liebe, soll er auch alle Freiheiten ha-
ben.“ In der Anfangsphase ihrer Bezie-
hung zu „Miri“ sei sie zwar auch eifersüch-
tig gewesen. Aber anders als in jungen Jah-
ren. Vielleicht mit nicht ganz so unerbittli-
cher Wucht. Mittlerweile habe sie es kom-
plett abgelegt. Man lerne dazu über die
Jahre. Und durch den anderen. Die Unsi-
cherheit und die Angst vor dem Verlust

werde kleiner. Der Umgang miteinander
entspannter.
Susanne Krempl, Stabsstellenleiterin
Strategie im Bereich Pflege und Betreuung
bei der Münchenstift hat in den einzelnen
Häusern häufig neu verliebte Senioren er-
lebt. „Ich glaube, man erwirkt eine gewisse
Gelassenheit. Das Leben tut eh wie es will“,
sagt sie.
Und Gelassenheit, findet Daum, mache
die Liebe im Alter so besonders. „In der Ju-
gend ist es schön, es ist ein Rausch“, sagt
sie. „Es ist eigentlich ein biologischer Auf-
trag, es ist etwas, was wir tun müssen“,
sagt Bosorgsade. „In der Jugend sind wir
unserem Trieb ausgeliefert.“ Alles laufe
darauf hinaus, Nachkommen zu zeugen.
„Es pressiert uns so“, sagt Daum. Und des-
wegen gehe man in jungen Jahren schon
mal eine Bindung ein, die vielleicht nicht
zu hundert Prozent passt, meint sie. Eine
Beziehung, die zerbricht, wenn die Jahre
der Verliebtheit vorbei sind. Weil es für die
Liebe nicht reicht. „Später ist das weg, man
hat mehr Zeit, kann sich in Ruhe kennenler-
nen.“
„Je älter man wird, desto mehr weiß
man auch um seine Grenzen“, sagt Krempl.
„Im Alter lässt man sich im Allgemeinen
nicht mehr aus Liebe auf eine Partner-
schaft um jeden Preis ein“, sagt Berger.

Man achte mehr darauf, ob es einem mit
dem neuen Partner gut geht. Mirjam Ger-
da Daum und Mirdamad Bosorgsade geht
es gut miteinander. Man hört es, wenn sie
seinen Namen sagt, man sieht es, wenn er
ihre Hand nimmt und sie auf seinen Schoß
zieht. Wenn sie sich tief in die Augen sehen
und miteinander lachen. Dann wirkt Bo-
sorgsade kein bisschen wie der distinguier-
te ältere Herr, der er ist, und Daum keinen
Augenblick lang wie die elegante 77-Jähri-
ge. Dann sehen beide aus wie zwei liebes-
trunkene Jugendliche.

„Es ist ein Glück, dass wir das in unse-
rem Alter noch erleben dürfen“, sagt
Daum. „Aber einen Vertrag brauchen wir
nicht“. Noch einmal zu heiraten, kommt
für beide nicht in Frage. Wie Daum ist
auch Bosorgsade geschieden. Die Tren-
nung von seiner Frau liegt sechs Jahre zu-
rück. Bosorgsade war Flugzeugtechniker
bei der Luftwaffe in Iran. Er hat jung gehei-
ratet und gemeinsam mit seiner Frau und
den vier Kindern schwierige Zeiten durch-
lebt. Die Flucht nach Deutschland 1989,

der Verlust der Heimat und das Heimisch-
werden im neuen Land, mit Sicherheit
eine der größten Herausforderungen.
Obwohl beide nicht glücklich gewesen sei-
en, blieben sie zunächst zusammen. Viel-
leicht aus Verbundenheit, weil man das
eben so macht. Gelebt hätten beide viele
Jahre lang „so, dass die Kinder nicht ge-
spürt haben, dass es uns schlecht geht“.
Die Trennung kommt dann doch. „Jetzt
bin ich mit ihr glücklich“, sagt Bosorgsade,
den Blick auf Daum gerichtet.
Anders als Daum und Bosorgsade, gibt
es immer wieder Paare, die auch spät noch
heiraten. Genaue Zahlen führe man bei der
Münchenstift laut Krempl nicht. Aber in ei-
nem der Häuser hätten vor einigen Jahren
sogar zwei über 90-Jährige geheiratet.
„Ich finde es schön, wenn zwei Menschen
sich in dem Alter noch trauen“, sagt sie.
Manchmal seien es ja auch Ängste und Un-
sicherheiten, die Ältere davon abhalten.
Auch davon, überhaupt eine Partnerschaft
einzugehen.
„Man wird im Alter vorsichtiger, auf
wen man sich einlässt, und mit wem man
eine Beziehung eingeht“, sagt Friederike K.
Berger. Die größte Befürchtung: Kann
man sich nach langer Zeit alleine über-
haupt noch auf einen anderen einlassen?
„Liebe beansprucht ja ganz viel Energie“,

sagt auch Krempl. „Man muss kompro-
missbereit sein.“ Und vor allem Frauen be-
schäftigt noch eine ganz andere Frage: Bin
ich noch attraktiv genug für einen Partner?
„Man hat das Idealbild einer schönen jun-
gen Frau vor Augen“, sagt Mirjam Gerda
Daum. „Das war für mich eine riesige Hür-
de.“ Es dauert lange, bis sie glaubt, dass ein
Mann eine Frau in ihrem Alter attraktiv fin-
den kann. Es fällt ihr schwer. Auch wenn
Bosorgsade immer wieder von ihren graziö-
sen Bewegungen schwärmt oder davon,
wie schön ihre Beine sind. Die filigranen
Beine einer Tänzerin. Oder ihr Gesicht. Al-
les an ihr. „Wenn ich sie betrachte, ist sie
wie ein Kunstwerk“, sagt er.
„An einem Abend schlief ich glücklich
ein, bis ich morgens aufgewacht bin und in
den Spiegel geschaut habe“, sagt sie. „Al-
lein die Falten.“
Während sie spricht, steht Bosorgsade
auf und nimmt ein gerahmtes Bild von der
Wand. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie,
mehr als 50 Jahre alt. Darauf eine Ballerina
in Tutu, dem klassischen Ballettrock aus
mehreren Schichten Tüll. Anmutig. Sanft
und stark zugleich. Daum in jungen Jahren
auf einer Bühne in Paris. „Wenn eine Frau
geliebt wird, will sie die Schönste sein“,
sagt sie. Bosorgsade zeigt auf das Bild. Er
sagt: „Für mich ist sie immer so geblieben.“

MÜNCHEN
UND DIE LIEBE

Mirjam Gerda Daum
in ihrerJugend als Tänzerin
(oben), und heute mit
ihrem Partner Mirdamad
Bosorgsade (unten).
Die beiden haben sich vor
vier Jahren bei einer Feier
in der Seniorenanlage
kennengelernt, in der
sie leben. Es hat
schnell gefunkt und
heute können sie
sich nicht mehr vorstellen,
ohne einander zu leben.
Was sie an der Liebe im Alter
besonders schätzen,
ist die eigene Gelassenheit,
die vieles leichter
mache als in jungen Jahren.
FOTOS: ROBERT HAAS, PRIVAT

„Es hat einfach


gefunkt“


Kann man zu alt sein, um sich zu verlieben?


Sicher nicht – Mirjam Gerda Daum, 77, und


Mirdamad Bosorgsade, 70, wissen das genau


Donnerstag:VermeintlichesGlück –
Heiratsschwindlern auf der Spur
Freitag:Kampf ums Glück – eine Paar-
therapeutin
Samstag:Verblasstes Glück – Glückli-
che und Glücklose in der Geschichte
der Stadt

Die größte Befürchtung bei
Älteren ist, ob man sich überhaupt
noch einlassen kann aufeinander

ANZEIGE


ILLUSTRATION: SEAD MUJIĆ

Heute: Spätes Glück


R6 – (^) MÜNCHEN Mittwoch,6. November 2019, Nr. 256 DEFGH
Lehrermedientag
München
Fortbildungsveranstaltung für
Lehrkräfte aller Schularten in Bayern –
Vorträge, Workshops, Diskussionen
und Erfahrungsaustausch.



  1. November 2019, 9:00 bis 13:00 Uhr
    München, Wilhelmsgymnasium


Programm:
Keynote Prof. Dr. Tanjev Schultz, Johannes-Gutenberg-Universität
Mainz: Vertrauen in den Journalismus und Glaubwürdigkeit der
Medien. Im Anschluss finden diverse Workshops zur Vertiefung
des Themas und zum gegenseitigen Austausch statt.

Der Lehrermedientag ist eine gemeinsame Initiative der bayerischen Zeitungen unter der Schirmherrschaft
von Staatsminister Prof. Dr. Michael Piazolo

HEIMATZEITUNGEN MEHR ZEITUNG

Informationen und Anmeldung:
http://www.lehrermedientag.de

Anmeldeschluss
15.11.2019

SZ-Spezial zum

Literaturfest München.

Morgen

in Ihrer

Süddeutschen
Zeitung
Free download pdf