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Am besten, sagt einmal ein Freund von Ma-
rianne, könnte man von ihr und Leonard er-
zählen, wenn man sich eine Liebesge-
schichte vorstelle, „mit 50 Kapiteln, in de-
nen sie nicht zusammen waren“. Man ahnt
als Zuschauer, dass dies am Ende die realis-
tischere Art ist, die Beziehung zwischen
Marianne Ihlen und Leonard Cohen und zu
beschreiben. Nick Broomfield dagegen,
der das Statement für seinen Dokumentar-
film „Marianne & Leonard: Words of Love“
eingefangen hat, scheint die Jahrzehnte
währende Allianz zwischen dem kanadi-
schen Musiker und seiner norwegischen
Muse ein wenig zu idealisieren. Die Wahr-
heit kannten nur die zwei Liebenden
selbst, die 2016 im Abstand von nur drei
Monaten starben. Cohen jedenfalls hat die
Legende von seiner immerwährenden, fer-
nen Geliebten stets aufrechterhalten. Weil
auch er wusste, wie gut diese Geschichte
ist.
Und das ist sie wirklich: Broomfield er-
zählt von Marianne, einer jungen, alleiner-
ziehenden Mutter und Aussteigerin, die in
den frühen Sechzigern auf der griechi-
schen Insel Hydra Leonard Cohen kennen-
lernt – damals noch kein gefeierter Song-
writer, sondern ein erfolgloser Schriftstel-
ler, der über den großen Ozean in die son-
nenbeschienene, von Kreativen aus aller
Welt bevölkerten Prä-Hippie-Enklave ge-
reist war, um Bohème-Lebensstil und viel-
fältige Drogenerlebnisse zu suchen. Fast
ein Jahrzehnt blieben sie mehr oder weni-
ger ein Paar, weil Cohen in die Welt hinaus
und ein Star werden wollte. Er schrieb ihr
einen Abschiedssong, der einer seiner be-
rühmtesten werden sollte: „So Long, Mari-
anne“.
Man ist zunächst etwas überrascht von
der Zärtlichkeit, mit der Nick Broomfield
diese Liebesgeschichte entwirft, die über
die gängigen Musiker-Dokus hinausweist.
Der britische Filmemacher ist bekannt für
seine schlagzeilenwirksamen, fast zyni-
schen Dokumentationen über berühmte
Tote: Kurt Cobain, Whitney Houston, Tu-
pac Shakur. Diesmal erfahren wir zu Be-
ginn, dass auch er als junger Mann eine Af-
färe mit Marianne hatte, die ihn laut eige-
ner Aussage dazu brachte, Filmemacher zu
werden. Was ein guter Zugang sein könnte,
stellt sich dann eher als Selbstbespiege-
lung heraus: ein Erzähler, der sich in seine
Geschichte einschreiben will.
Was man währenddessen sieht, ist aller-
dings sehr berührend: Broomfield hat viele
unveröffentlichte Archivaufnahmen aus-
gegraben. Darunter sinnlich flimmernde
Kameraeinstellungen auf Hydra, gedreht
vom gerade verstorbenen Dokumentarfil-
mer D.A. Pennebaker: Da ist Ihlen im golde-
nen Sonnenlicht, ihr undurchdringliches
Lächeln, mit wehendem Haar auf einem
Boot und badend im Meer. Und da ist der
fast bis zur Unkenntlichkeit braungebrann-
te Cohen, der zwar schon nachdenklich ist,
aber noch nicht der Sänger mit dem beson-
ders traurigen, finsteren Blick, an den man
sich heute erinnert. „Marianne & Leo-
nard“ holt den Zuschauer weit zurück in
diese Zeit und ihre Stimmung, als die Sehn-
sucht nach Freiheit und selbstbestimmter
Liebe groß und die Einstellung zur Mono-
gamie locker war.
Im Licht der langen, griechischen Som-
mer kommen aber ein paar der spannen-
den Geschichten auch zu kurz. Zu flüchtig
ist etwas Broomfields Blick auf die proble-
matischen Seiten des Bohemian-Lebens,
das Cohen und eine ganze Generation prä-
gen sollte. Cohen spricht im Film mit er-
staunlicher Naivität über die Schönheit
des „Zusammenwirkens“, also der poly-
amorösen Sexualität dieser Zeit. In Wech-
selwirkung mit jeder Menge Drogen ergab
der leichtfertige Umgang damit für Cohen
ein reichhaltiges Figurenkabinett für seine
zukünftigen Songtexte. Andere hatten da
weniger Glück, Ihlens Sohn Axel etwa lan-
dete als Erwachsener mehrfach in der
Psychiatrie.
Ein wenig übel muss man es Broomfield
dann auch nehmen, dass sich sein Film zu
weit von seiner weiblichen Hauptfigur ent-
fernt, die mit Cohens wachsendem Ruhm
immer mehr in dessen Schatten verschwin-
det. So wurde sie zur ewig Verabschiede-
ten, zu der Frau, der Cohen bei jedem Kon-
zert sein „So long“ hinterherraunte. Dar-
über, wie sie selbst über ihren Platz in die-
ser Geschichte gedacht hat, erzählt Broom-
fields Film wenig. Undankbar ist er alle-
mal. annett scheffel
Marianne & Leonard: Words of Love , USA 2019 – Re-
gie und Buch: Nick Broomfield. Kamera: Barney
Broomfield. Schnitt: Marc Hoeferlin. Mit: Marianne
Ihlen, Leonard Cohen. Piece of Magic, 102 Minuten.
Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste
hat einen Leitfaden veröffentlicht, mit
dem Museen und Archive NS-Raubkunst
erkennen und zuordnen können. Er bein-
haltet praktische Hinweise, Fallbeispiele
sowie Adressen, Quellen und Internetzu-
gänge, wie das Zentrum am Dienstag in
Magdeburg mitteilte. Zudem liefert der
Leitfaden Grundlagen für die Provenienz-
forschung. Der Fokus liegt auf Kulturgut
wie Kunst, Bücher, Münzen oder Porzel-
lan, die im Rahmen der NS-Verfolgung vor
allem von Juden entzogen wurden. Das
Zentrum dient seit seiner Gründung 2015
als zentraler Ansprechpartner zu Fragen
unrechtmäßiger Entziehung von Kultur-
gut in Deutschland. kna
von thomas steinfeld
W
enn in Büchern für den Ge-
schichtsunterricht der Absolutis-
mus vorgestellt wird, greifen die
Autoren gern zu einer Karikatur, die der
britische Schriftsteller William M. Thacke-
ray im Jahr 1840 zu Ludwig XIV. anfertigte.
Sie zerlegt ein berühmtes Bild des Sonnen-
königs in seine Bestandteile: auf der einen
Seite die Staatsrobe und die mächtige Perü-
cke, auf der anderen Seite ein altes, kahl-
köpfiges Männchen mit einem aufgebläh-
ten Bauch. Die Zeichnung dient zur Illustra-
tion der Vorstellung, dass die Repräsentati-
on und die ihr zugrunde liegende Realität
im Barock weit auseinandertreten. Diese
Idee ist indessen irreführend: Sie gehört in
ein aufgeklärtes Zeitalter, nicht ins frühe
- Jahrhundert. Sicherlich wusste man
auch im Barock, dass sich unter langen,
gepuderten Locken zuweilen gewöhnliche
Köpfe verbergen. Man fand diese Erkennt-
nis aber nicht interessant genug, um sich
damit öffentlich zu beschäftigen.
Auf dem Capodimonte, dem Königs-
schloss der Bourbonen auf einem Hügel
über Neapel, ist gegenwärtig eine Ausstel-
lung zu sehen, die dem höfischen Leben
jener Zeit gewidmet ist. Zugleich erzählt
sie die Geschichte des neapolitanischen Kö-
nigtums vom frühen 18. bis zur Mitte des - Jahrhunderts. Die Schau ist groß: Sie be-
ansprucht die ehemaligen Privaträume
des Königs, und das heißt: eine der beiden
großen Saalfluchten des Palastes, über ei-
ne Länge von mehreren Hundert Metern.
Sie besitzt diesen Umfang, weil sie selbst
vom Geist des Barocks ergriffen ist. Sie ist
also gar nicht für das Innehalten geschaf-
fen oder für das Studium einzelner Werke,
sondern für das langsame Durchschreiten.
Und damit der Besucher gar keine Gelegen-
heit bekommt, sich über den Charakter der
Ausstellung zu täuschen, bekommt er vor
dem ersten Saal einen Kopfhörer überge-
stülpt. Es gibt diese Schau also nicht ohne
die Opern von Giovanni Battista Pergolesi,
nicht ohne die Sonaten von Domenico Scar-
latti und nicht ohne ein paar alte neapoli-
tanische Volkslieder. Überhaupt bewegt
man sich durch die Ausstellung, als ginge
man durch ein Singspiel.
Auf die Beschaffung kostbarer Expona-
te haben die Kuratoren, so scheint es, nicht
allzu viel Mühe verwenden müssen: Die
weit über 100 Kostüme, die das eigentliche
Personal der Inszenierung bilden, stam-
men aus dem Fundus des Teatro di San Car-
lo, der ältesten noch in Betrieb befindli-
chen Oper der Welt. Die Musikinstrumen-
te kommen aus dem Museum des örtli-
chen Konservatoriums. Die Bilder und die
Skulpturen wurden aus den eigenen
Sammlungen entliehen. Um so verschwen-
derischer allerdings ist das Arrangement.
Jeder der 18 Säle bildet ein Diorama, eine
Schaubühne ohne Parkett, in der das Publi-
kum durch die Kulissen wandelt, als gehö-
re es selbst zur Aufführung: Im ersten
Raum, im Saal der sakralen Musik, konzen-
trieren sich die Kostüme (gehalten werden
sie durch schwarze Puppen, denen zwei
weiße Papierfetzen als Augen angeheftet
sind) auf einen Altar aus weißem Porzel-
lan, während sich auf den darüber hängen-
den Gemälden fürstliche Dynastien verei-
nen. Im „Saal der Grand Tour“ versam-
meln sich Skulpturen, Bronzen und archäo-
logische Funde, im „Saal des Glückspiels“
mischt sich der Hof mit dem Volk, während
ein Verlierer unter dem Tisch liegt, und in
der „Sala Miseria e nobiltà“ geht es um das
soziale Unglück und das Dienstpersonal.
Die Ausstellung trägt den Titel „Napoli
Napoli. Di lava, porcellana e musica“ („Nea-
pel. Von der Lava, dem Porzellan und der
Musik“). Sie holt sich ihre Schaustücke aus
der Welt der Oper und ist letztlich, eben
weil sie vom höfischen Leben im Absolutis-
mus handelt, selbst wie eine Oper insze-
niert. Das gilt nicht nur für das Formelle,
daran, dass sich in dieser Schau histori-
sche Gestalten, die Könige der beiden
Sizilien und ihr Hofstaat vor allem, und das
Personal des Musiktheaters begegnen,
ohne dass sie sich unterschiedlich kleide-
ten oder bewegten. Das gilt auch für den
eigentlichen Gegenstand der Ausstellung,
die höfische Kultur: Denn insofern die
frühe Oper ihre Stoffe aus der barocken Le-
benswelt bezieht und dieser Bezug erkenn-
bar bleibt, besteht der Reiz dieser musikali-
schen Werke darin, dass sie Lebensweltli-
ches nehmen und in etwas Märchenhaftes
verwandeln. Oder umgekehrt: dass sie sich
des Märchens bedienen, um Lebensweltli-
ches zu verhandeln. In der Mitte der Insze-
nierung steht daher, als Gelenk und Medi-
um zugleich, die (sich selbst befruchtende)
Figur des Pulcinella, eine Allegorie des per-
manenten Wandels, vom Männlichen zum
Weiblichen, vom Alten zum Jungen, vom
König zum Bettler und wieder zurück.
Neapel gilt heute als eine Stadt des
Elends und des Verbrechens. Die Haupt-
stadt des Mezzogiorno scheint gegenüber
den industriellen und sozialen Errungen-
schaften des Nordens hoffnungslos zurück-
geblieben zu sein. Neapel gilt als vulgär,
von einer ebenso faulen wie korrupten
Elite regiert, von verbrecherischen Ma-
chenschaften beherrscht und dem ewigen
degrado, dem Verfall, anheimgegeben. Das
war nicht immer so, ganz im Gegenteil:
Noch im 18. Jahrhundert war Neapel eine
der größten und modernsten Städte auf
dem Kontinent, vergleichbar nur mit Lon-
don oder Paris, womöglich aber für den
reisenden europäischen Adel noch attrakti-
ver: Ein Saal der Ausstellung erinnert an
die Entdeckung und anfängliche Erschlie-
ßung Pompejis, die den Stoff für das größ-
te europäische Kulturereignis in der zwei-
ten Hälfte des 18. Jahrhunderts lieferten
und Neapel auf das Itinerarium der „Grand
Tour“, der Reisen der jungen Adligen
durch Europa, setzte. Der „Ägyptomanie“,
einer großen, von Neapel ausgehenden
Mode jener Zeit, ist ebenso ein Saal gewid-
met wie der Naturforschung, wobei der
Geologie und Mineralogie, der dauernden
Gefährdung durch den Vesuv wegen, eine
besondere Rolle zukommt. Zu den Expona-
ten gehört ferner eine Sammlung ausge-
stopfter Vögel, die im späten 19. Jahrhun-
dert zur Bestandsaufnahme der regiona-
len Fauna angelegt wurde. Die Tiere finden
sich als Skulpturen in den Produktionen
der Königlichen Porzellanmanufaktur in
Neapel wieder, die sich zu jener Zeit offen-
bar mit den entsprechenden Einrichtun-
gen in Meißen, Paris oder Wien messen
konnte. So greift das eine ins andere, in
einer langen und bunten Folge von Szenen,
die alle die Überschrift „Napoli Napoli“
tragen.
Man könnte diese Ausstellung, die in Ne-
apel selbst auf ein großes Interesse der Be-
völkerung stößt, für eine nostalgische Ver-
anstaltung halten, die mit der Gegenwart
zu versöhnen sucht, indem sie an die Ver-
gangenheit erinnert. Aber sie ist mehr als
das. Am Ende, im größten und prächtigs-
ten Saal, werden auf vier Projektionsflä-
chen Szenen aus älteren wie aus jüngeren
Inszenierungen des Teatro di San Carlo ge-
zeigt: Der Effekt ist überwältigend, weil
die letzte Trennung zwischen Oper und
Wirklichkeit aufgehoben zu sein scheint,
während das Volk in der Mitte des Saals
sitzt und nicht weiß, auf welche Leinwand
es zuerst schauen soll. Tatsächlich zeich-
net sich ja die frühe, neapolitanische Oper
dadurch aus, dass sie ein im emphatischen
Sinn urbanes Phänomen ist. Es gibt sie in
dieser Form nur, weil sie in der großen
Stadt und in deren hauptsächlich plebeji-
scher Bevölkerung einen Resonanzraum
findet, in dem sie weiter schwingt und der
auf sie antwortet. Der Ausstellung gelingt
es, diese Verbindung lebendig werden zu
lassen, nicht in der Erinnerung, sondern
gleichsam als Wiederaufnahme eines gut
eingespielten Repertoires.
Napoli Napoli. Di lava, porcellana e musica. Museo
di Capodimonte, Neapel. Bis 21. Juni. Der Katalog
ist nur auf Italienisch erhältlich und kostet 6 Euro.
Auf Hydra, im flimmernden Sonnenlicht
In „Marianne & Leonard: Words of Love“ zeichnet Nick Broomfield die Liebe von Marianne Ihlen und Leonard Cohen nach
Leitfaden zu
NS-Raubkunst
Marianne Ihlen und Leonard Cohen, in
ihrem griechischen Glück. FOTO: BABIS MORES
Man hat es so oft gesehen. Und trotz-
dem schaut man mit diesem kribbeli-
gen Gefühl von Zeitzeugenschaft auf
neue, wegweisende Musikerinnen und
Musiker. Wie im Fall von Rosalía ,die
seit 2018 fast im Alleingang den spa-
nischsprachigen Pop Gegenwart zwi-
schen Flamenco, R’n’B und Elektro neu
definiert hat. Und ständig gibt es eine
neue Single, die noch hybridhafter und
cleverer ist als die davor. Das Video zu
„A Palé“ (Columbia) ist das zeitgenös-
sischste Stück Popkultur der Woche: In
einer dystopisch beleuchteten Lagerhal-
le tanzt Rosalía mit einer akkurat ge-
striegelten, auf Frida Kahlo anspielen-
den Monobraue zwischen Förderbän-
dern und Containern. Spektakulär ist
die Inszenierung vor allem wegen ihrer
Gleichzeitigkeit:
Rosalía erzählt uns
von der Extrava-
ganz der Popmusik
und von der Rolle
der Logistik für den
globalisierten Kapi-
talismus.
Auf der anderen Seite der Popwelt steht
Will Oldham: Die Songs des Songwri-
ters, besser bekannt als Bonnie
„Prince“ Billy , haben nie geklungen,
als habe er es darauf abgesehen, mög-
lichst viele – und schon gar nicht beson-
ders junge – Leute zu erreichen. Seit 25
Jahren ist er der ewige Eigenbrötler des
amerikanische Indie-Country der letzte
wirkliche Weirdo unter den Protagonis-
ten des New Weird America. Nach acht
Jahren und mehreren Cover-Alben (auf
denen er sich dem GitarrenduoEverly
Brothers, Country-Legende Merle Hag-
gard oder der britischen Post-Punk-
Band Mekons annäherte) erscheint mit
„I Made A Place“ (Domino) nun endlich
einmal wieder eine Platte mit neuen
eigenen Songs. Oldham besingt, mal
begleitet von Banjos und heiteren Fi-
deln, mal von Weltschmerz-schweren
Steelgitarren, seine Entfremdung vom
modernen Alltag. In gewissem Sinne ist
also alles wie immer: Die Bariton-Stim-
me säuselt traurige Melodien und er-
zählt von Altwerden und Alleinsein. Das
ist alles sehr beschaulich. So ganz funk-
tioniert der alte Prince-Billy-Trick aber
nicht mehr, mit
dem er einst den
Country als roman-
tisches Refugium
wiederentdeckte in
einer unbehagli-
chen, existenziell
aufgewühlten Welt.
Um dieser Welt etwas entgegenzuset-
zen, eignet sich das neue Doppel-Album
von DJ Shadow vielleicht besser: Der
amerikanische Hip-Hop-Produzent
Joshua Paul Davis, der in den Neunzi-
gern mit seinem Debütalbum instru-
mentelle Beat- und Sample-Musik zur
Kunstform erhob, wühlt sich auf „Our
Pathetic Age“ (Mass Appeal) durch die
Trostlosigkeit im Angesicht von Klima-
wandel und sozialer Ungerechtigkeit,
und zwar zunächst einmal mit seiner
Spezialität: ausgefuchsten Instrumen-
tals. Auf der zweiten Albumhälfte gibt’s
dann allerlei Gastsänger und Rapper,
von Nas und Ghostface Killah, über
Pusha T bis zu Paul Banks (Interpol).
Näher heran an die blank liegenden
Nerven unseres digitalen Zeitalters
kommen dabei die Instrumentals: mit
ihren meisterlich aufgetürmten, stot-
ternden Breakbeats und zerstückelten
Vocal-Samples, mit gespenstischen
John-Carpenter-Synthies, zischenden
Sequenzern und
Future-Jazz-Ausflü-
gen. Alles ist unauf-
hörlich in Bewe-
gung und doch fest
verwurzelt in DJ
Shadows elektroni-
schen Echoräumen.
Empfehlenswert ist auch das Box-Set
„WXAXRXP Sessions“, das Warp Re-
cords zu seinem 30. Geburtstag heraus-
gibt. Auf zehn Platten kann dem Londo-
ner Avantgarde-Pop-Label in die Ecken
und Winkel seines Archivs folgen. Von
Aphex Twin gibt es den Mitschnitt
einer John-Peel-Radiosession mit Origi-
nalmaterialien von 1995. Bibio bearbei-
tet seine Electronica-Platte „Ambivalen-
ce Avenue“ akustisch, was den Minima-
lismus der Songs in noch zarterem, fast
durchscheinendem
Licht zeigt. Und
Flying Lotus spiel-
te „Cosmogramma“
in einer Live-Sessi-
on mit Band – und
Thundercat am
Bass.
Die lustigste Meldung der Woche kam
vom kalifornischen Festival Camp Flog
Gnaw. Dort wurde Rap-Superstar
Drake – Schock, lass nach! – auf üble
Weise von der Bühne gebuht. Viele Besu-
cher hatten sich Frank Ocean als Überra-
schungs-Headliner gewünscht. Eigent-
lich eine Nichtigkeit. Auf News-Blogs
und Twitter-Kanälen wurde der Vorfall
aber so aufgeblasen, dass man das Ge-
fühl hatte, es hätte eine Art Pop-Kern-
schmelze stattgefunden: Wie war das
möglich, ein Publikum, dass Hip-Hop
liebt, aber nicht Drake? Von Königsbelei-
digung war die Rede und anderen seltsa-
men Annahmen über den Massenge-
schmack. Dabei ist ja womöglich gar
nicht so schwer zu verstehen, was das
alles bedeutet: Nicht alle Musikfans
mögen dieselbe Musik. Und manche
mögen Frank Ocean eben lieber als
Drake. annett scheffel
Nach Centocelle kommt kaum je ein Tou-
rist, außer er verirrt sich. Centocelle, so
heißt ein Viertel im fünften Stadtbezirk
Roms, draußen an der Ecke Via Prenestina
und Viale Palmiro Togliatti. Quadratische
Wohnblöcke, fast alle gleich. Eineborgata,
wie die Italiener ihre Vorstädte nennen.
Pier Paolo Pasolini drehte eine Szene für
den Film „Accattone“ in Centocelle. Es gibt
auch ein berühmtes Foto, das den Intellek-
tuellen in den Siebzigerjahren im Anzug
beim Fußballspiel mit der Jugend zeigt.
Pasolini interessierte sich immer für
beides: für das Leben in denborgateund
für junge Männer. Aber sonst war Cento-
celle ein Ort der städtischen Ausfransung
wie andere, vergessen und links, solange
die Linke sich noch um die Ränder der
Gesellschaft kümmerte.
Nun reden plötzlich alle von Centocelle.
Die kleine Buchhandlung mit Café Pecora
Elettrica, übersetzt: elektrisches Schaf, an
der Via delle Palme hat in kurzer Zeit zum
zweiten Mal gebrannt. Angezündet von
Unbekannten. Das erste Mal passierte es
am 25. April, dem Gedenk- und Feiertag
zur Befreiung von den deutschen Besat-
zern und dem faschistischen Regime 1945.
Wer in diesen Zeiten der fortschreitenden
Salvinisierung des Landes nicht reflex-
artig an einen politischen Hintergrund
denkt, gilt als naiv. Die Pecora ist nämlich
offen antifaschistisch. In ihrem Sortiment
führte sie Bücher für die ideologisch
zugeneigte Kundschaft und organisierte
Lesungen mit Engagement.
Aber vielleicht ist die Fährte falsch. In
den vergangenen Tagen haben auch die
Pizzeria Cento 55, zwei Häuser weiter, und
das Baraka Bistrot gebrannt. Alles in ei-
nem Radius von 200 Metern, ein Zufall
kann das nicht sein. Es gibt nun Politiker in
der Stadt, die nach der Armee rufen. Virgi-
nia Raggi, die Bürgermeisterin Roms von
den Cinque Stelle, appelliert an die Betrei-
ber von Bars und Buchhandlungen, ihren
Mut nicht zu verlieren, der Staat lasse sie
nicht allein. Es braucht viel Überzeugungs-
kraft gerade, die Anwohner vereinigen
sich schon mal in Protestkomitees.
Centocelle hat sich in den vergangenen
Jahren zu einem Ausgehviertel gewandelt,
mit vielen Bars, Pubs, Ateliers, Pizzerien.
Neben der Tram fährt auch die neue Me-
tro C dorthin, es kommen junge Römer aus
anderen Bezirken. Überhaupt ist das ein
Trend: Je touristischer das historische Zen-
trum wird, desto stärker zieht es die Römer
an die Peripherie. Diese neue Popularität
macht Centocelle auch zu einem umkämpf-
ten Ort für die Mafia. Zehn Clans teilen sich
die Stadt auf, schrieben die Zeitungen
neulich. Die Blätter lieferten Stadtkarten
mit Schraffierungen mit, Zone um Zone, so
konnte man sich besser orientieren.
In Centocelle bekämpfen sich die
alteingesessene Familie Senese, die aus
der Nähe von Neapel stammt, und die
relativ neu dazugekommene kalabrische
’Ndrangheta. Es geht um die Kontrolle des
Territoriums und das reibungslose Dealen
mit Drogen. Und für diese trüben Geschäf-
te in der Nacht ist ihnen jedes Licht zu viel.
Jede Straßenlaterne, jede Lampe in den
Lokalen, die auch nach Mitternacht noch
offen sind. Aber ob das der Grund für die
Brände ist? Das elektrische Schaf schloss
immer spät. Es war ein Leuchtturm in der
Finsternis. oliver meiler
Jeder Saal in der Schau bildet ein Diorama, in dem man durch die Kulisse wandelt, als gehöre man selbst zur Aufführung. FOTO: LUCIANO ROMANO
Das Singspiel des Pulcinella
In Neapel erzählt eine raumgreifende Ausstellung die Geschichte des neapolitanischen
Königtums vom frühen 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und damit von der großen Zeit dieser Stadt
Der Film zeigt ihre Geschichte mit
überraschender Zärtlichkeit
Neapel war eine der modernsten
Städte auf dem Kontinent,
wie etwa London oder Paris
DEFGH Nr. 262, Mittwoch, 13. November 2019 (^) FEUILLETON 13
POPKOLUMNE SCHAUPLATZ ROM
Der Leuchtturm
brennt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München