Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

REISEN Freitag, 8. November 2019


Mir wachsen


die seltsamsten


Orte ans Herz


Es gibt Traumdestinationen, und es gibt


Seelenverwandtschaften, dieman sich


nicht aussucht. Ich hegeeine Leidenschaft


für verlasseneOrte. VON ROMAN BUCHELI


Paris lieben alle.Ich kenne niemanden,
der Paris hässlich findet. OderVenedig.
Wenn da nicht gerade ein Kreuzfahrt-
schiff herumklotzt.Auch Bellagio am
Comersee ist einfach hinreissend,kei-
ner entzieht sich dem Zauber von Ita-
lianità, See und Bergen. Das muss man
nicht lieben lernen,es wird aber auch nie
ein Coup de foudre sein. Hierkommt
man imWissen an: Schöner geht’skaum
mehr. Man befindetsich bereits imVor-
hof zumParadies.
Dieser touristische Common Sense
gleicht demReisen für Anfänger. Man
macht da nichts falsch und weiss, alsTro-
phäe wird man auf dem Smartphone
Bilder nach Hause bringen, die nach-
träglich noch entzückender sind als im
Augenblick selber.Denn zu Hause erst
ist man allein mit dem Blick über den
See in die Berge oder auf dieLagune,
erst in den eigenen vierWänden hat
Mona Lisa nurAugen für einen selbst.
Ist das Liebe? Mag sein, vielleicht
ist es auch einfach die Ergriffenheit, die
man vorallem Schönen empfindet.Aber
wahre Liebe liegt in denAugen des Be-
trachters. Dann ist es nicht der Ort, der
den Betrachter bezaubert, umgekehrt
vielmehr: Der Betrachter verzaubert,
was er sieht. Er schaut in Aschenputtels
Augen und entdeckt, was allen anderen
entgeht. Und er ist verliebt, was wie-
derumkeiner versteht.
Natürlich, auch ich liebeParis, ich
liebedas Engadin,ich li ebe auch Nepal,
obwohl ich nie dort war.Aber wie er-
kläre ich meineVorliebe für dieAschen-
puttel-Orte, was zieht mich dahin,wohin
es sonst kaum jemanden zieht, warum
suche ich Orte auf, die alle anderen mei-
den und gar fliehen?Ja wie erkläre ich
es mir selber, dass immer wieder die un-
scheinbarsten, entlegensten, manchmal
gar trostlosesten Orte mein Herz ent-
flammen?Vielleicht verführt mich der
Zauber der Melancholie.
Wenn ich es mir recht überlege,
scheine ich eineVorliebe für Strassen-
dörfer zu haben, die nur zufällig noch
nichtgestorben sind.Täglich fahren Hun-
derte, wenn nichtTausende über die zu
beiden Seiten von geduckten Häusern
gesäumte Dorfstrasse. Kaum einer hält,
die meisten empfinden das Dorf als lästi-
ges Hindernis auf demWeg irgendwohin.
Mich aber zieht der herbe Charme der
Verlassenheit unwiderstehlich an.

Das umgekehrte Bern


Nein, gewiss nicht nur halb verlassene
St rassendörferwachsen mir ans Herz.
Denn da ist auch Burgdorf. Ich sage
nur:Vergesst Bern! Bern ist zu gross, um
nochein Dorf zu sein, und zu klein, um
sich schon eine richtige Stadt zu nennen.
Irgendetwas dazwischen halt. Und Bern
ist zu laut, um noch ländlich zu sein, aber
zu träge,um urbaneGefühle zu wecken.
Ein Zwitter eben, wederFisch nochVo-
gel. Unentschlossen.
Aber Burgdorf hält noch immer, was
sein Name verspricht. Obwohl es städ-
tisch wirkt,ist es dörflich geblieben.Und
auch wenn die Stadtväter und -mütter
ihre Mitbürger auf grünenTafeln bitten:
«Häb Sorg zu dire Stadt», und diskret ein
Ausrufezeichen hinzusetzen,so zeigt sich
darin, dass sie, wie im Dorf,en famille
miteinanderreden und umgehen.
Burgdorfhat alles, was Bern auchhat,
nur kleiner und schöner.Aber seit die
SBB ihreRennstrecke zwischen Zürich
und Bern betreiben, ist die Gegend
um Burgdorf ins Abseits geraten. Der
di rekte Weg geht schnurgerade daran
vorbei. Umso besser, werden sich die
Burgdorfer gesagt haben. Nun kommen
nur noch die wahren Connaisseurs.
Denn auch Burgdorf hat seine
Laubengänge, von denen sich die Berner
ein schönes Stück abschneidenkönnen,
Weltkulturerbehin oder her.Und dann
erst das Ensemble der Altstadthäuser.
In Bern geht doch alles zur Aare hinun-
ter, immer hat man das Gefühl, auf die
schiefeBahn geratenzusein,alle Wege
führen abwärts, geradewegs höllenwärts,
unaufhaltsam nidsi, wie derBärner un-
nachahmlich sagen würde. In Burgdorf
strebt alles bergwärts, kühn schwingt
sich die Strasse über eine Brücke hinan,
wie eine Himmelsleiter windet sich der
Weg hinauf zur höchsten Stelle und öff-
net den Blick hier ins Offene.
Und dann dieKunst erst. Klar, die
Berner habenPaul Klee. Doch der ist
weit draussen vor der Stadt,wo erdie
Traumseite des Daseins zeigt. Aber
Burgdorf hat Bernhard Luginbühl, des-

sen Plastiken wie fröhlich monströse
Insekten an Strassenecken denPassan-
ten auflauern. Und Burgdorf hatFranz
Gertsch, sogar ein ganzes Museum mit
seinen Bildern. Kann man sich etwas
Einfacheres als Schilfgras vorstellen?
Franz Gertsch hat es gemalt, überdimen-
sional,als sä hen wir esunter dem Mikro-
skop .Wer ganz nah an die Bilder heran-
geht,schaut gleichsam ins Gras hinein.
Und sieht dabei der Schöpfung zu, der
himmlischen wie der künstlerischen.
Ja, das ist Burgdorf. Manist hierein-
fach dem Himmel näher.Verg esst Bern!

Wodie Schafe wohnen


Kümmert es mich, dass Goethe einmal
hier war undJames Bond imAston Mar-
tin vorüberbrauste?Kümmerte es die
beiden,dass ich dereinst einmal hier sein
würde? Eben! Aber es kümmern mich
die Schafe, die ich heute sah.Tausend
Schafe seien es, sagte der Schäfer, des-
sen Bart imRegen fast bis zum Boden
reichte.Verdutzt schauten mich er und
seine beiden hellwachen Hunde an und
wunderten sich, dass ihre vielen Schafe
mich in solches Erstaunen versetzten.
Realp liegt da, wo es ungemütlich
wird. Bis dahin sindvonAndermatt her
keine grossen Steigungen zu überwin-
den. Das ändert sich schlagartig ganz
hinten im Urserental.Gut,westwärts hat
man ein teures Loch durch den Berg ge-
bohrt.Das wäre der schnellsteWeg ins
Wallis, wo es sich fast schon mediterran
anfühlt. Mühseliger ist der Anstieg über
den Furkapass, wo die besagten Goethe
und Bond herunterkamen. Südwärts
aber, entlang derWitenwasserenreuss
und hinüber insTessin, beginnt man bald
einmal Steine zu fressen.
Vermutlich waren es dieRomanen
aus der Surselva, die hier Siedlungen
gründeten. Oder vielleicht Lombarden,
wie weiter vorne in Andermatt.Dann
kamen dieWalser im 12.Jahrhundert.
Sie germanisierten dasTal und bauten
ih re Holzhäuser. Lawinen undFeuers-
brünste aber schufen erst das Dorf, wie
es mir lieb geworden ist: mit ein paar
mächtigen, etwas unförmig geratenen
Steinhäusern an der Strasse,dahin-
ter zwei Zeilen mit alten, gemauerten
Ställen.Wo die Dorfstrasse eineKurve
macht,ragt eine etwas schüttere neu-
gotische Kirche vom Ende des19.Jahr-
hunderts in den Himmel. Da liest jetzt
ein Motorrad-Freak aus demWallis die
Messe,daneben erzähltdas HotelPost
von einer längst vergangenen Epoche.

Ich liebedas Dorfder Stille wegen,
was vielleicht etwas paradox klingtfür
ein Strassendorf.Aber nachts höre ich
hier nur noch dieBäche rauschen, das
Bimmeln von Geissen undKühen. Im
Winter, wenn diePassstrasse geschlos-
sen ist und meterhoher Schnee alle
Geräusche dämpft, bin ich manchmal
fast froh, wenn am Morgen der kleine
Schleppliftam Hang neben derFurka-
strasse den Betrieb aufnimmt und Kin-
der denTag mit ihrenRufen zum Le-
ben erwecken.
Tagsüber aber sitze ich amFens-
ter und schaue in die Berge hinauf zur
Passstrasse oder zum StotzigenFirsten.
So poetisch sprechen die Flurnamen in
dieser Gegend zu einem. Die Menschen
hier müssen Dichter sein.Wildenmanns-
älpetli heisst eine unwirtliche Gegend
und Sunnsplanggenflüe eine Matte, wo
NZZ Visuals/brt. der gewöhnlicheWanderer nicht hin-

AAAAmbri-Piotta Casaccia

Burgdorf

RRRRRRealp

Der touristische


Common Sense gleicht


dem Reisen fürAnfänger.


Man mac ht da


nichts falsch.


Ist das Liebe?


Für den Film «Goldfinger»(1964) macht SeanConnery aliasJamesBond kurzhalt an der Furkapassstrasse.Wenig später brausterdurchRealp. KEYSTONE

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