Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

Mittwoch, 6. November 2019 WIRTSCHAFT 25


«Man hat den Teufel an die Wand gemalt»


Ist die Euro-Krise au sgesta nden? Klaus Regling, Chef des europäischen Rettung sfonds ESM, zeichnet im Gespräch mit


Christoph Eisenring und Thomas Fuster ein erstaunlich po sitives Bild der Währungsunion – und wehrt sich gege n Kritik aus Deutschland


HerrRegling, ist die EuropäischeWäh-
rungsunion ein Schönwetterkonstrukt?
Nein. Der Euro-Raum ist trotz Krise zu-
sammengeblieben.Kein Land trat aus.
Das ist gut so, sonst hätte sich der Cha-
rakter der Union tiefgreifend verändert.
Die Staaten,die denMarktzugang ver-
loren hatten,haben hart gearbeitet, um
an den Markt zurückzukehren.


Dennoch scheinen die Meinungsdiffe-
renzen zwischen dem Norden und dem
Süden, wie die Finanz- und Geldpoli-
tik aussehen sollte, kaum überbrückbar.
Ich sehe das anders. Schauen Sie nach
Portugal.Das Land verlor in der Krise
den Marktzugang und erhielt von uns
einen Kredit über 26 Mrd. €.Dann nahm
es harte Anpassungsmassnahmen vor
mit Kürzung von Einkommen undPen-
sionen. Heute hatPortugal fast einen
ausgeglichenen Haushalt, ein gutes
Wachstum und eineArbeitslosigkeit,die
niedriger ist als vor der Krise.


Portugal ist die positiveAusnahme.
Es ist nicht das einzige positive Beispiel
aus dem Süden. Schauen Sie nach Grie-
chenland.Dort sehen wir wiederWachs-
tum. Seit dreiJahren sehen wir auch
einen Überschuss im Gesamthaushalt.
DieArbeitslosenquote ist mehr als zehn
Prozentpunkte niedrigerals zum Höhe-
punkt der Krise Ende 2013. Die Be-
völkerung hat sogar eine populistische
Regierung abgewählt und einereform-
orientierteRegierung gewählt.


Und was ist mit Italien?
Italien ist ein Sonderfall. Es war nie
wirklich in der Krise und verlor nie den
Marktzugang. Das Land hat einen Leis-
tungsbilanzüberschuss. Dies bedeutet,
es brauchtkein ausländisches Kapital,
um das Defizit zu finanzieren. Italien
ist auch deshalb ein Sonderfall, weil es
seit zwanzigJahren nicht einmal halbso
schnell wie der Euro-Raum wächst.Ent-
sprechend schwierig ist es, den Schul-
denstand abzubauen. Deswegen kann
man aber nicht sagen, Südeuropa stehe
schlecht da.


Italienzeigt aber, dass sich die Euro-
Staaten bei der Finanzpolitik nicht hin-
einreden lassen.
Das stimmt nicht. Es gibtVereinbarun-
gen, wie m an die Haushaltpolitik im
Euro-Raumkoordiniert. Aber natür-
lich bleibt dieFinanzpolitik ein wichti-
gerTeil nationaler Souveränität. Mit die-


ser Spannungleben wir.Wir sind nicht
die Vereinigten Staaten von Europa.
Zentralisiert ist die Geldpolitik, nicht
aber dieFiskalpolitik.Das kann funk-
tionieren, aber man musskoordinieren.
DieseKoordination klappt nicht immer
hundertprozentig, aber sie klappt eini-
germassen. Im vergangenenJahr hatte
der Euro-Raum ein Haushaltdefizit von
0,5% des BIP,die USAeines von rund
6%. Kommt es zu einer Krise, kann der
Euro-Raum finanzpolitischreagieren.


Die stabilitätspolitischenVorstellungen
liegen im Euro-Raum also nicht soweit
auseinander?
Gewiss, es gibt unterschiedliche Philoso-
phien, und diese haben sich nicht ange-
nähert, wie ich das einst erwartet hatte.
Doch dieKoordination mit dem Stabili-
tätspakt zeigt Erfolge.


DieserPakt wirkt aber zahnlos. Es gab
noch nie Sanktionenwegen Verstössen.
Ob Sanktionen verhängt wurden, kann
nicht der Massstabdafür sein, dass etwas
funktioniert. Es gibt ja auch Sanktio-


nen imStrassenverkehr, wenn man zu
schnell fährt. Nur weil jemand noch nie
eine Busseerhalten hat, kann man nicht
sagen,die Sanktionen beeinflussten sein
Verhalten im Strassenverkehr nicht.

Doch der Pakt strotzt vonAusnahme-
regeln. Stets findet sich eineRegel für
den Verzicht auf Sanktionen.
Das ist in derTat ein Problem. Mit der
Zeit kamen immer mehrAusnahmen
dazu. Aber man muss bedenken, dass
dieseAusnahmen von den Mitgliedstaa-
ten beschlossen wurden, nicht von der
EuropäischenKommission.Das führt
zu Unübersichtlichkeit. Oft ist schwer
nachvollziehbar, wie eine Entscheidung
zustandekommt.Es braucht wieder ein-
fachere Regeln.

In der deutschen Öffentlichkeit wird
über die Geldpolitik der EZB sehr emo-
tional debattiert.
Das ist richtig. Der Europäischen Zen-
tralbank wurde schon unterJean-Claude
Trichet, demVorgänger von Mario Dra-
ghi, vorgeworfen, die Geldpolitik führe
zu Hyperinflation und gigantischenVer-
lusten aufgrund desAufkaufs griechi-
scher Anleihen. Mir persönlich wurde
unterstellt, dieArbeit derRettungs-
schirme EFSF und ESM habe riesige
Bel astungen für dieSteuerzahler zur
Folge. Das waren Schwarzmalereien.

Die Kritik zielt aber auch darauf, dass
das Regelwerk stark strapaziert oder gar
verletzt wurde. Etwa bei der Nichtbei-
standsklausel.
Die Klausel wurde nie verletzt.Das be-
legen fünf Urteile des Deutschen Bun-
desverfassungsgerichts und drei Ur-
teile des EuropäischenGerichtshofes.
Wie gesagt, in Deutschland wurde wäh-
rend der Krise exzessive Kritik geäus-
sert. Man hat denTeufel an dieWand
gemalt:Hyperinflation,Rechtsbrechung,
riesigeVerluste – was alles nicht eintraf.
Dadurch haben dieseFundamentalkriti-
ker an Glaubwürdigkeit verloren.

Brüssel strebt für den Euro eine stärkere
internationaleRolle an. Sehen Sie eine
Wirkung?
Der Euro ist die zweitwichtigsteWäh-
rung im internationalen Währungs-
system. Seine Bedeutung steigt.Das ist
aber ein gradueller und langsamer Pro-
zess, der früher eingesetzt hätte, wenn
wir die Euro-Krise nicht gehabt hätten.
Doch das Interesse am Euro nimmt zu.
Ich stelle das fest,wenn ichAnleihendes
ESM international platziere.

Was ist der Grund?
Ein Grund ist die US-Regierung und
de ren Opposition zum Multilateralis-
mus. Das beeinflusst die Zentralbanken
und Handeltreibenden imRest derWelt,
etwa in Asien. Oder denken Sie an die
Iran-Sanktionen, bei denen die USA
versuchen, extraterritorial ihrRechts-
denken durchzusetzen.Darunter leiden
auch europäische Exporteure. Es gibt
gute Gründe,die internationaleRolle
des Euro zu stärken.

Aber dieDominanz desDollars kann
der Euro nicht brechen.
Das war auch nie das Ziel. Selbst die
internationaleRolle des Eurowar lange
Zeit kaum einThema für die EZB oder
für dieRegierungen.Das hat sich unter
dem Eindruck der neuen amerikani-
schen Haltung geändert. Es ist positiv,
wenn wir uns stärker zu einem multi-
polarenWährungssystem bewegen.Das
passiert aber nichtvon einemJahr aufs
andere.

Was braucht es, um dieWährungsunion
krisensicherer zu machen?
Zunächst ist festzustellen,dass der Euro-
Raum stabiler geworden ist. Es gibt
heutekeine massiven makroökonomi-
schen Ungleichgewichte in irgendeinem
Land derWährungsunion.Vor zehnJah-
ren hatten wir ein halbesDutzend Staa-
ten mit Haushalts- und Leistungsbilanz-
defiziten von über 10% des BIP.

Eine hoheVerschuldung sehen Sie nicht
als ein Problem?
Mit einer hohenVerschuldung kann
man eine gewisse Zeit leben. Dies führt
nicht sofort zu einer Krise.Aber ein
Haushaltsdefizit von15% am BIP, wie
es Griechenland hatte, ist äusserst ge-
fährlich.

Worauf ist die Stabilisierung zurückzu-
führen aus Ihrer Sicht?
Wir haben eineBankenunion geschaf-
fen, mit einer europäischenAufsicht
für die fast 120 systemisch wichtigsten
Finanzinstitute. Das Kapital derBanken
ist h eute doppelt so hoch wie vor zehn
Jahren, das sind fast 500Mrd.€ mehr.
Und wir haben den Euro-Rettungs-
schirm ESM kreiert.

Aber die italienischenBanken bleiben
ein Sorgenkind.
Auch die italienischenBanken erfüllen
alle Kapitalanforderungen. Sie müssen
aber weiter ihre notleidenden Kredite
abbauen. Zwei Drittel sind erledigt, ein
Drittel fehlt noch.

Braucht es eine europäische Einlagen-
sicherung?
Sie gehört zurVertiefung derWäh-
rungsunion dazu, wird aber nurkom-
men, wennman die notleidenden Kre-
dite weiterreduziert.

Welche weiteren Schritte sind nötig?
Zentral ist ein einheitlicherFinanz- und
Kapitalmarkt.Dazu braucht es viele
Dinge, die schwierig umzusetzen sind,
zum Beispiel die Angleichung der In-
solvenzverfahren.Viele solche Schritte
sind nötig, um die anhaltendeFragmen-
tierung des europäischen Kapitalmark-
tes zu beseitigen.

Weshalb ist das so wichtig?
In einem europäischen Kapitalmarkt
verbessert sich die Risikoteilung über
die Märkte.Dies macht den Euro attrak-
tiver für internationale Investoren.

Sie plädieren neben dem ESM für einen
Fonds, der Budgethilfen an Krisenstaa-
ten vergeben könnte.Weshalb?

Zur Stabilisierung haben wir im Krisen-
fall derzeit nur die nationalen fiskali-
schen Puffer. Sie sollten ergänzt werden
durch einen europäischenFiskal-Puffer.
Die Hilfen müssten über denKonjunk-
turzyklus zurückbezahlt werden.

Wie gross müsste dieserFonds sein?
Ich denke an 100 bis 200Mrd.€.

Wäre ein staatlicher Insolvenzmechanis-
mus verbunden mit der Drohung, dass
ein Land aus derWährungsunion aus-
scheidet,wenn es zahlungsunfähig ist,
keine Alternative zum ESM?
Beides wären massive Eingriffe in die
Eigentumsrechte und in die Märkte. Zu
meinen, das machte in einer Krise die
Dinge einfacher als das, was wir jetzt
aufgebaut haben, ist sehr verwegen.

Aber würde das nicht zu einer Diszipli-
nierung der Staaten führen?
Bei Griechenland wurde derAustritt vor
gut vierJahren diskutiert.Es gab damals
Schätzungen, dass dieWirtschaftskraft
Griechenlands, die schon um einVier-
tel geschrumpft war, nochmals um ein
Viertel eingebrochen wäre. Das kann
kein erstrebenswertes Ziel sein.Es hätte
auch den Charak ter derWährungsunion
verändert.Immer dann, wenn einLand
Probleme gehabt hätte, hätten die Spe-
kulationen massiv zugenommen.

Dann ist die Einführung des Euro in
einem Land unumkehrbar?

Für ein gutesFunktionieren derWäh-
rungsunion ist diese Unumkehrbarkeit
notwendig.

Aber Sie sehen schon das Problem,
wenn sich immer einTresor öffnet,so-
bald ein Land in Schwierigkeitengerät?
Deshalb gibt es auch nur Geld gegen
Auflagen für die Finanz-undWirt-
schaftspolitik. DieseKonditionalität ist
ein massiver Eingriff in die Souveräni-
tät der Staaten.

Der Internationale Währungsfonds
(IMF) hatte sich am dritten Programm
für Griechenland nicht mehr beteiligt.
Legt das nicht nahe, dass der ESM bei
den Auflagen zuweich ist?
Im Gegenteil, dieKonditionalität des
IMF wäre schwächer gewesen, weil der
Fonds mehr Schuldenerleichterungen
geben wollte.

Aber Griechenland ist doch immer noch
weit von tragfähigen Schulden entfernt?
Wir versorgen Griechenland fünfzig
Jahre lang mitsehr günstigen Krediten.
Letztlich wirken diese Erleichterun-
gen für Griechenland wie ein Schulden-
schnitt. Aber diesesVorgehen ist inner-
halb derWährungsunion eben zulässig
und führt zukeinen Kosten in den ande-
ren Mitgliedstaaten.

Allerdings gibt es denVorwurf, dass man
das Problem mit so langenTilgungsfris-
ten einfach schönrechnet.
Es istkein Schönrechnen. Griechen-
lands Schuldensind tragfähig, weil dem
Land eine massive Entlastung gewährt
wird. Im letztenJahr betrug diese Haus-

haltsentlastung 13 Mrd. €.Das sind 7%
des Bruttoinlandprodukts. Und diese
Entlastung, kombiniert mit einer ver-
nünftigenWirtschaftspolitik, bringt das
Wachstum zurück, womit die Schulden-
tragfähigkeit erreichbar ist.Aber es dau-
ert einigeJahrzehnte.

Griechenland bezahlt derzeit fürzehn-
jährige Staatsschulden einen Zins von
nur 1,17%. Sind die Anleger schon wie-
der leichtsinnig?
Nein, es ist vielmehr ein Zeichen, dass
Griechenland eine glaubwürdigePoli-
tik macht.Deshalb schwimmt Griechen-
land wieder mit an denFinanzmärkten.

Wenn ein solches Land de facto keine
Risikoprämien auf seinen Staatsanlei-
hen mehr bezahlen muss, zeigt das doch,
dass die Märkte massiv verzerrt sind.
Es zahlt sehr wohl eine Prämie, die Zin-
sen sind156 Basispunkte höher als in
Deutschland.

Und das bildet denRisikounterschied
adäquat ab?
Diese niedrige Prämie zeigt, dass Grie-
chenland an den Märkten wieder als
wettbewerbsfähig wahrgenommen wird.

«Finanzpolitik
ist einTeil nationaler
Souveränität.Wir sind
nicht dieVereinigten
Staaten von Europa.»

ESM-ChefRegling plädiert für zusätzliche Budgethilfen für Krisenstaaten. JOËL HUNN / NZZ

Der Euro-Optimist


cei./tf.·Klaus Regling ist seit 2010 der
führendeKopf hinter dem Euro-Ret-
tungsfonds in Luxemburg, zunächst als
Leiter der provisorischen Europäischen
Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF),an-
schl iessend als Chef des European Sta-
bilityMechanism (ESM). 2017 wurde er
von den Euro-Finanzministern für fünf
Jahre wiedergewählt,obwohl er schon
67 Jahre alt war.Weitere berufliche Sta-
tionen des parteilosen Norddeutschen
waren unter anderem der Internationale

Währungsfonds, das deutscheFinanz-
ministerium,die Moore Capital Strategy
Group und die EU-Kommission.
Der ESM beschäftigt knapp 200 Mit-
arbeiter. Der 700Mrd.€schwere Fonds
kann Staaten, die den Zugang zum
Finanzmarkt verloren haben, Kredite
unterAuflagen gewähren. In den letzten
Jahren haben EFSF und ESM zusammen
Kredite von rund 300Mrd.€gesprochen,
und zwar an Irland, Griechenland, Spa-
nien,Zypern undPortugal.

«Griechenlands
Schulden sind tragfähig,
weil dem Land
eine massive Entlastung
gewährt wird.»
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