Die Welt Kompakt - 31.10.2019

(Brent) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,31.OKTOBER2019 FORUM 15


D

as hat es noch nie gegeben:
Die drei Gründungsparteien
der Bundesrepublik plus der
altrepublikanischen Neugrün-
dung der Grünen erreichen zusammen
nur mit Mühe und Not die absolute
Mehrheit der Mandate. In Tåhüringen ist
das nun geschehen. Wieder einmal spielt
der Osten Deutschlands eigenartig
AAAvantgarde.vantgarde.
Man mag das Thüringer Wahlergebnis
als einmalige Besonderheit dieses Bun-
deslandes abtun. Denn hier ist die Links-
partei gegen den Trend in allen anderen
östlichen Bundesländern nicht auf dem
RRRückzug. Sie hat vielmehr sogar einenückzug. Sie hat vielmehr sogar einen
beträchtlichen Teil jenes heiligen gesell-
schaftlichen Terrains erobert, den man
die Mitte nennt. Der beste Beweis:
Selbst eine klare Mehrheit der CDU-
WWWähler hält Bodo Ramelow für einenähler hält Bodo Ramelow für einen
ggguten Ministerpräsidenten. Und doch istuten Ministerpräsidenten. Und doch ist
das schlechte Abschneiden der CDU
mehr als eine landespolitische Eigenart.
AAAuch die Union ist von einem säkularenuch die Union ist von einem säkularen
Trend erfasst worden. Sie steigt gerade
vom Podest der Volkspartei herab. Und
wer einmal unten ist, schafft es ver-
mutlich nie wieder hinauf.
Es gibt zwei Versuche, die Schrump-
fffung der CDU zu erklären. Beiden istung der CDU zu erklären. Beiden ist
gemeinsam, dass sie den Grund dafür in
fffalschen politischen Entscheidungenalschen politischen Entscheidungen
suchen. Wären diese unterblieben, so die
These, stünde die Partei auch heute noch
in alter Volksblüte da. Und für beide
Fehler wird eine Verantwortliche be-
nannt: Angela Merkel. Der erste Vorwurf
lautet, die Bundeskanzlerin habe von
ihrem Amtsantritt im Jahre 2005 an
willentlich und konsequent die Koor-
dinaten der Partei nach links verschoben.
Sie habe damit den „Markenkern“ der
CDU zersetzt und die Partei der Belie-
bigkeit ausgeliefert. Daher sei sie die
eigentlich Schuldige am Aufstieg der AfD.
Der zweite Vorwurf ist eine Variante
des ersten. Mit der Entscheidung für die
Grenzöffnung im September 2015 habe
Angela Merkel Recht gebrochen, die
Souveränität des Staates schwer be-
schädigt und auch damit ein Feld rechts
von der CDU geschaffen, welches die
AAAfD seitdem kraftvoll bespielt.fD seitdem kraftvoll bespielt.
An beiden Vorwürfen ist etwas dran.
Die heutige CDU hat mit der Helmut
Kohls nicht mehr viel zu tun. Und es war
sicher ein Fehler, dass die Bundeskanz-
lerin nicht darauf gedrängt hat, der Aus-
nahme des Septembers 2015 zügig einen
ffflüchtlingspolitischen Wurf folgen zulüchtlingspolitischen Wurf folgen zu
lassen. Doch beide Vorwürfe kranken
daran, dass sie nicht nur Beschreibungen,
sondern eben Vorwürfe sind, dass sie
moralisierend und skandalisierend daher-
kommen. Denn in Wahrheit hat die CDU
unter Angela Merkel nicht ihre Seele
verkauft. Sie hat vielmehr auf gesell-
schaftliche Trends reagiert, die sehr
mächtig waren und die es mit und ohne
CDU gibt und geben wird.
Die Lebensstile werden vielfältiger.
Die Männerdominanz ist unwiderruflich
auf dem Rückzug. Einige Minderheiten
haben sich fast schon so etwas wie Ver-
fffassungsrang erkämpft. Um anerkannt zuassungsrang erkämpft. Um anerkannt zu
werden, muss sich Autorität heute recht-
fffertigen, und selbst dann wird sie mit-ertigen, und selbst dann wird sie mit-


unter nicht mehr hingenommen. Klassi-
sche Organisationsformen wie Vereine,
Kirchen oder Parteien verlieren ihre
Anziehungskraft. Die Grenze zwischen
national und international ist immer
schwerer zu ziehen.
Das alles hat die CDU nicht erfunden,
ganz im Gegenteil. Will sie aber nicht ein
altbundesrepublikanischer Folkloreklub
werden, hat sie gar keine andere Wahl,
als sich mit diesen Trends auseinander-
zusetzen. Deren Impulse aufzunehmen.
Und ja, sich ihnen manchmal auch an-
zupassen – siehe etwa Horst Seehofer.
Damit aber ist die alte Kantigkeit, ist die
alte Knorrigkeit, die die CDU früher
zumindest rhetorisch pflegte, dahin.
Parteien sind schon lange keine Leucht-
türme mehr. Inzwischen haben sie – auch
die Grünen wird das Schicksal noch
ereilen – die Kraft verloren, wenigstens
wie Leuchttürme auszusehen.
Es gehört zu den Paradoxien der ge-
genwärtigen deutschen Parteienland-
schaft, dass es nur noch eine Partei gibt,
der ihre Wählerschaft das Leuchtturm-
gehabe noch halbwegs abnimmt: die AfD.
Doch da sie in Fundamentalopposition
zur gesellschaftlichen Wirklichkeit steht,
kann sie nur einen toten Winkel der
Republik bewirtschaften.
Sieht man von der AfD ab, dann gilt
heute, was noch vor drei Jahrzehnten
undenkbar gewesen wäre: Alle Parteien
können im Prinzip mit allen anderen
Parteien Regierungsbündnisse eingehen.
Und sie tun es inzwischen regelmäßig
auch dann, wenn sie dabei nicht ihr poli-
tischer Kompass, sondern die schiere
wahlarithmetische Not treibt. Das letzte
Teil-Tabu wäre gefallen, wenn Links-
partei und CDU miteinander koalierten.
AAAuch hier mag die moralisierende Ver-uch hier mag die moralisierende Ver-
urteilung, die parteipolitisches Tafel-
silber beschwört und Unvereinbarkeits-
fffähnchen schwenkt, ein Gefühl der Be-ähnchen schwenkt, ein Gefühl der Be-
fffriedigung verschaffen. Die Retro-Kraft-riedigung verschaffen. Die Retro-Kraft-
meierei von Friedrich Merz, der das heile
Bild einer alten CDU an die Wand pro-
jiziert, gehört hierher. Doch damit geht
der Blick auf das verloren, was hier wirk-
lich geschieht. Ob man das gutheißt oder
nicht, es gilt: Wenn alle mit allen können,

Merkel ist nicht schuld


Von allen Seiten


hagelt es Vorwürfe


gegen die Kanzlerin.


Einer lautet, sie habe


den Markenkern der


CDU zersetzt. Doch es


sind die Zeitläufte


gewesen, die die Partei


wie alle anderen auch


radikal veränderte


THOMAS SCHMID

LEITARTIKEL


ist das nicht die endgültige Degeneration
unseres politischen Systems, sondern
eher so etwas wie dessen Vollendung.
Wie in kaum einem anderen politi-
schen System der Welt herrscht im deut-
schen geradezu das Gebot des Aus-
gleichs, der Kooperation. Nicht als Mah-
nung, sondern als institutionell gesicher-
ter Zwang. Aus vielfältigen Motiven
haben die Gründer der Bundesrepublik
das angelsächsische Mehrheitswahlrecht
verworfen, das – bisher zumindest –
klare Verhältnisse zwischen Regierung
und Opposition schafft. Unser Verhält-
niswahlrecht schließt absolute Mehr-
heiten in der Regel aus, es zwingt fast
immer zu Koalitionen. Und je mehr Par-
teien der Prozess der gesellschaftlichen
AAAusdifferenzierung hervorbringt, destousdifferenzierung hervorbringt, desto
vielfältiger und bunter werden unver-
meidlich die Koalitionen. Und dass alle
mit allen können, war ohnehin von An-
fffang an der Fall: Durch den Bundesratang an der Fall: Durch den Bundesrat
sind die Länder und ihre jeweiligen Re-
gierungsparteien fest in den politischen
Prozess eingebunden. Wenn man will:
AAAlle regieren, immer schon. Alle handelnlle regieren, immer schon. Alle handeln
immer schon alles mit aus. Alles ist im-
mer Konsens. So kommt es, dass keine
Regierung je grundsätzliche Entschei-
dungen ihrer Vorgängerin gänzlich rück-
gängig gemacht hat. Die Westbindung
nicht, die Ostpolitik nicht, die Agenda
2 010 nicht. Und am Ende auch den Ato-
mausstieg nicht.
Dieses System hat vielleicht weniger
mit einer angeblichen Konsensseligkeit
der Deutschen zu tun. Es ist vielmehr
eine Antwort auf den Geist der Unver-
söhnlichkeit, der die Weimarer Republik
einst ruinierte. Und, in längerer his-
torischer Perspektive, auf die jahrhun-
dertelange Erfahrung konfessioneller
Spaltung, die zu ungeheuren Verwüstun-
gen geführt und Deutschland weit zu-
rückgeworfen hat. Wenn aber im bundes-
deutschen Konsensstaat fast alle für fast
alles verantwortlich sind, ist niemand für
das Ganze, ist letztlich niemand verant-
wortlich. Der Proporz schützt jede Partei
vor der vollen Konsequenz einer Wahl-
niederlage – sie regiert ja anderswo wei-
ter mit. Wie die 14 Merkel-Jahre zeigen,
wird es schwer, Verantwortliche für poli-
tische Fehlentscheidungen zu finden.
Und die Kehrseite: Fundamentale Ent-
scheidungen können – wie die Ener-
giewende bewiesen hat und die Klima-
politik vielleicht noch zeigen wird – ohne
jede kontroverse Debatte im politischen
Raum getroffen werden.
Da auf absehbare Zeit eine scharfe
WWWahlrechtsänderung und eine gründlicheahlrechtsänderung und eine gründliche
Reform des politischen Systems nicht
möglich sind, bleibt es vorerst beim
allseitigen Gebot der Zusammenarbeit.
VVVermutlich hat die Thüringer CDU garermutlich hat die Thüringer CDU gar
keine andere Wahl, als sich – in welcher
informellen oder institutionalisierten
Form auch immer – mit Bodo Ramelow,
aaaber auch mit seiner Partei ins Beneh-ber auch mit seiner Partei ins Beneh-
men zu setzen. Sie würde damit dem Zug
der Zeit folgen. Und so dem Geist der
Republik, der Konfrontation ablehnt,
einen Dienst erweisen. Und zugleich
ihren Charakter einer Volkspartei weiter
verlieren.
[email protected]

KOMMENTAR

Linksextreme


AfD-Helfer


W


enn Hoteliers oder Gast-
wirte der AfD keine Räu-
me für Parteitage ver-
mieten wollen, ist dagegen nichts zu
sagen. Privatleute können es hierbei
halten, wie sie wollen. Wenn sie aber
zur Vermietung bereit sind, dann
jedoch von außen bedroht werden
und aus Angst vor Gewalt oder Um-
satzeinbußen der AfD wieder ab-
sagen, werden Meinungs- und Ver-
sammlungsfreiheit sowie die Par-
teiendemokratie eingeschränkt. Und
wenn staatliche Stellen bei der er-
satzweisen Vermietung öffentlicher
Räume nicht eben kooperativ sind,
werden die Einschränkungen noch
größer.
In Berlin sind sie derzeit beson-
ders groß. Der dortige AfD-Landes-
verband hat trotz vieler Anfragen –
nach Parteiangaben rund 100 – bis-
her keinen Raum für einen Mitglie-
derparteitag zur rechtlich vorge-
schriebenen Neuwahl des Landes-
vorstands am 9. und 10. November
gefunden. Eine Absage des Partei-
tags und die juristisch äußerst heikle
Beibehaltung des jetzigen Vorstands
wären denkbar. Doch der AfD dro-
hen die Wahrnehmung elementarer
Rechte und die Erfüllung elementa-
rer Pflichten unmöglich gemacht zu
werden. Vermutlich linksextreme
Gruppen unterhöhlen so jene demo-
kratische Rechtsstaatlichkeit, die es
gegen vorhandene rechtsextreme
AfD-Strömungen zu verteidigen gilt.
Wo Extremismus grassiert, ist
Dummheit nicht fern. So auch hier:
Jene AfD-Bedroher kapieren nicht,
dass solche Aktionen die Partei
keine Wählerstimme kosten und ihr
umgekehrt Auftrieb verschaffen.
Nicht nur, weil sie den Opfermythos
der AfD stärken. Sondern auch, weil
jene Bedrohungen der Partei und
ihren Anhängern Sprungfedern
bieten, die sie noch weiter ins Fan-
tasiereich aggressiver Vorstellungen
befördern, wonach mal Schluss mit
dem „System“ sein müsse. In Berlin
liegt dieses Fantasiereich nahe – in
Brandenburg, wohin die Haupt-
stadt-AfD eventuell ausweichen
muss. Der Brandenburger AfD-Chef
Andreas Kalbitz, dessen Lebensweg
mit Rechtsextremem gepflastert ist,
würde sich über eine Gastgeberrolle
sicher freuen. Kalbitz, dem die Ber-
liner AfD unter deren Chef Georg
Pazderski zu moderat ist, hat seine
Partei als „letzte evolutionäre
Chance“ für Deutschland bezeich-
net, nach der nur noch „Helm auf“
komme. Diese Logik von irrsinni-
gen, gefährlichen Bürgerkriegsfant-
asien wird von Linksextremisten
reproduziert. Stattdessen hat man
sich dieser Logik, unter scharfer
Kritik an den vielen unhaltbaren
Positionen der AfD, zu entziehen
und sie zurückzuweisen. Um der
Demokratie und um der Rechts-
staatlichkeit willen.

MATTHIAS KAMANN
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