Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

D


er Publizist AndrejGrat-
schowwar1989 Sprecher
des letztenPräsidenten
derSowjetunion,Michail
Gorbatschow. Hier erläuterterd as
schwierigeVerhältnis zur DDR-Füh-
rungunddieRolleseine sChefs.


WowarenSieam9. November1989?
ZunächstwäredieAnnahme,wir
hätten auf diesen Taggewartet,
falsch. Keiner hat damit gerechnet,
wenngleichesimRückblickeinhis-
torischesEreignis und einWende-
punkt der europäischenGeschichte
wurde .DocheslaginderLuft,esgab
Anzeichen.


WelcheAnzeichen?
DieTeilnahme Michail Gorba-
tschowsandenFeierlichkeitenzum



  1. Gründungstag der Deutschen
    Demokratischen Republik. Er zö-
    gerte ,bevor er dieEinladungHon-
    eckers annahm.DasVerhältnis zwi-
    schen den beiden war schwierig.
    Honecker machte keinenHehl dar-
    aus,dass er denReformen Gorba-
    tschowsundseinerPerestroikanicht
    nur skeptisch, sondernablehnend
    gegenüberstand.Er sagte,erv er-
    stehenichtdiesenReformenthusias-
    musunddassdiePerestroikakeines-
    fallszurDDRpasse.WieChinasFüh-
    rungim Juni1989dieStudentenpro-
    testeniederschlug,riefbei Honecker
    nach unserenInformationen eine
    positiveReaktionhervor.


Warere hergeneigt,vonChinaals von
GorbatschowsSowjetunionzulernen?
Eine wichtigeParallele war ,dass
beideStaatenihren40.Jahrestagfast
zeitgleichbegingen,dieVolksrepublik
China am 1.Oktober 1989 und die
DDRam7.Oktober.AusmeinerSicht


teile gebracht, politisch und wirt-
schaftlich. In Russland arbeiten
heute fünftausend deutscheUnter-
nehmen.Wenn das Verhältnis jetzt
schlechter ist, als wir es uns wün-
schen, hat das andereGründe.Ich
binsicher,dienaturgemäßgutenBe-
ziehungenzwischenunskehrenzu-
rück.

Manches, wasSieerreicht haben, ist
verloren gegangen. 1987 unterzeich-
neten Sieden INF-Vertrag über das
Verbot nuklearerMittelstreckenrake-
ten. 2019 sind beideSeiten ausgestie-

gen.Werträgtdie Verantwortung?
Erinnernwir uns ,wer als Erster
seinen Austritt erklärthat. Daswar
derPräsidentderUSA.

Weshalb?
Ichglaube,daw ill jemand alle
Verpflichtungen loswerden.Dasist
zurneuen„Generallinie“derameri-
kanischenPolitikgeworden.

M


ichail Gorbatschow
stehtweiterhintersei-
ner Politik von1989.
Wieerd er Berliner
ZeitungineinemschriftlichenInter-
view erklärt, war es für ihn undenk-
bar,die Freiheitsrechte,die er den
Sowjetbürgerngewährte ,den Men-
schen in anderenWarschauer-Pakt-
Staatenvorzuenthalten.

Herr Gorbatschow, manche Deut-
schensagen,wennesdenFriedensno-
belpreisnichtgäbe,hättemanihnfür
Sieerfinden müssen. In Russland
aberwirftmanIhnenoftvor, Siehät-
tendieDDRanWestdeutschlandund
OsteuropaandieNatoverschenkt.
Um michinsolchenFällennicht
in langenErklärungen zuverlieren,
stelle ich eine einfacheGegenfrage:
Anwenverschenkt?PolenandiePo-
len, Ungarnand ie Ungarnund die
Tschecho slowakei anTschechen
undSlowaken...

UnddieDDRandieDeutschen?
DieFormel„dieDDRverschenkt“
klingt noch seltsamer.Inder DDR
gingen 1989Hunderttausende auf
die Straße,für die Einheit ihrerNa-
tion. Im März1990 stimmte die
Mehrheit der DDR-Bürger in freien
Wahlen für dieWiedervereinigung.
DerWille einesVolkes erfüllte sich,
dasnachdemUntergangdesHitler-
Regimes bewiesen hatte,wie ent-
schlossenesdenWegzurDemokra-
tie verfolgt. Vonwelchen Geschen-
kenkanndadieRedesein?

ManwirftIhnenauchvor, Siehätten
dabeiRusslandvergessen.
Unsere gute nBeziehungen mit
demvereinigtenDeutsc hlandhaben
unserem Land unbestreitbareVor-

SehenSienocheineLösung?
WladimirPutin hat einMorato-
rium für die Stationierung vorg e-
schlagen.DaskönntederersteSchritt
zuVerhandlungenzusein.

Braucht Russland eine neuePere-
stroika?
Sicher geht es nicht um einRe-
make derPerestroika. Wirhaben da-
mals dasWichtigste getan, denPro-
zessso weitvorangetrieben,dassnie-
mand dieUhrzurückstellen kann.
Auch werdie Perestroika heute kriti-
siert,genießtdieRechteundFreihei-
ten, die sie ihm gegeben hat.Verän-
derungensindnatürlichweiternötig.

Wiebewerten SiePräsidentPutin?
Als Wladimir Putin dieMacht
übernahm, herrschte Chaos im
Land, ob inPolitik, Wirtschaft, Ar-
meeoderderSozialsphäre.Ichkann
mir nichtvorstellen, wie er unter
diesen Umständen ausschließlich
nach einem Lehrbuch derDemo-
kratie hätte handeln können.Und
er musste handeln, ohneVerzöge-
rung.EinigeEntscheidungenriefen
Kritik hervor, aber es gelang, die
Lagezustabilisieren.DieMensc hen
bekamen dasGefühl, dann dieGe-
wissheit, dass sich ihr Leben zum
Besseren verändert.

IstweitereVeränderung unterPutin
möglich?
WennesdasZielder Staatsmacht
ist, Bedingungen für dasEntstehen
einerstarkenmodernenDemokratie
zuschaffen,binichbereit,denPräsi-
denten zu unterstützen, auchwenn
ich mit einzelnen seinerMaßnah-
mennichteinverstandenbin.

DieFragenstellteStefanScholl.

Krenz reiste nachMoskau und
bekam „grünes Licht“ für eineRe-
formpolitik. Diebeiden sprachen
auchdiekritischeFrageder Grenze,
auch derBerliner Grenze, an. Eine
Atmosphäredes Wandels lag in der
Luft.EswarnureineFrageder Zeit,
bis ein starkerWind bläst und die
Mauerumkippt.

WürdenSiesagen,dassohnediePere-
stroika Gorbatschows derMauerfall
undenkbargewesenwäre?
Dasistganzklar.Eineandereso-
wjetische Führung hätte dieVerän-
derungen, wie sie unter Gorba-
tschowmöglich waren, nicht zuge-
lassen,dennsieberührtendiestrate-
gische Stabilität. Denken Sieand ie
EreignisseinBudapest1956unddie
historischenParallelen. WieGorba-
tschowfing Chruschtschowals Re-
formeran.Sobalderbemerkte,dass
dieses Tauwetter inPolen undUn-
garndie strategischen Stellungen
der UdSSR gefährdete,legte er den
Rückwärtsgang ein und setzteGe-
walt inBudapest ein.BeiGorba-
tschowwar das umgekehrt. Als die
UngarnimM ai 1989 dieGrenzezu
Österreich öffneten und damit den
Eisernen Vorhangdurchstießen,hat-
ten sie dasEinverständnisGorba-
tschows ,sichnichteinzumischen.

Warder Mauerfall derAnfang vom
Endedes KaltenKrieges?
DerMauerfall war ein symboli-
scherAktdafür,dieSystemkonfron-
tationunddamitderKalteKriegwa-
renschonfrüherzuEnde,dankeiner
anderenPolitikder Sowjetunionun-
terGorbatschow.

DasGesprächführte
SwetlanaAlexejeva.

standdieDDRindieserZeitvoreiner
Wegscheide:DieEreignisse hätten
auch den chinesischenWeggehen
können. Damit das nicht passiert,
entschiedsichGorbatschow,zum40-
jährigen TagderRepubliknachBerlin
zureisen.Alserdannzusammenmit
HoneckeraufderTribünestand,und
dieKolonnederFDJ,derJugendorga-
nisation,vorbeizog,diedenEnthusi-
asmus anlässlich der 40JahreDDR
demonstrieren sollte,begannen die
jungen Menschen zurufen „Gorbi,
Gorbi“. Daraufhin trat der polnische
Ministerpräsident Rakowski, auch

einReformer ,anG orbatschowheran
undsagte:„MichailSergejewitsch,se-
hen Sieauch, dass es dasEnde ist?“
Nachdem Gorbatschowabgereist
war,kam es rasch zu einemWechsel
inBerlin:EgonKrenzwurdeNachfol-
gerHoneckers.

Wieentwickelten sich dieBeziehun-
genseitdem?

Zeitenwende


22 * Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


OL


„Honecker


machtekeinen


Hehlda raus,dass


erder Perestroika


ablehnend


gegenüber-


stand.“


„ImMärz1990


stimmte die


Mehrheit der


DDR-Bürger in


freien Wahlen


für die Wieder-


vereinig ung.“


L PAR2N/GAL 
ORNR AFP/ODD ANDR2N

„Esgab


Anzeichen“


„DerWilleeines


Volkeserfülltesich“


DerfrühereGorbatschow-SprecherAndrejGratschowüber


dieUnvermeidlichkeitdesMauerfalls


MichailGorbatschowwehrtsichgegendieVorwürfe,


1989dieDDRverschenktzuhaben

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