Die Welt Kompakt - 12.11.2019

(Joyce) #1

bis 2025 der Rechtsanspruch
greift. Und wir fangen ja auch
nicht bei null an. 50 Prozent der
Kinder sind schon heute in ei-
nem Ganztagsangebot. Wir
rechnen mit einem Bedarf von
rund 75 Prozent, denn es wer-
den auch nicht alle Eltern das
Angebot in Anspruch nehmen
wollen. Das bedeutet, dass zwi-
schen 650.000 und einer Million
neue Plätze geschaffen werden


müssen. Das ist eine Herausfor-
derung. Wir müssen einen Weg
fffinden, wie wir das Schritt fürinden, wie wir das Schritt für
Schritt realisieren können. Zu-
nächst einmal haben wir uns mit
den Ländern geeinigt, was
Ganztagsbetreuung in Deutsch-
land künftig heißen soll: näm-
lich für die erste bis vierte Klas-
se, fünf Tage die Woche, jeweils
acht Stunden – und maximal
vier Wochen Schließzeit im Jahr
in den Ferien.


Das Deutsche Jugendinstitut
rechnet mit Investitionskosten
von 5,3 Milliarden Euro. Allein
fffür die Betriebskosten fallenür die Betriebskosten fallen
danach pro Jahr 3,2 Milliarden
an. Muss der Bund seinen Zu-
schuss nicht aufstocken?


KARLICZEK: Die zwei Milliarden
Euro gelten für die nächsten
zwei Jahre, bis zum Ende der
WWWahlperiode. Das ist jetzt einahlperiode. Das ist jetzt ein
erster Schritt. Wir haben be-
wwwusst eine lange Vorlaufzeit ge-usst eine lange Vorlaufzeit ge-
wählt, damit sich alle darauf ein-
stellen können. In Ländern und
Kommunen gibt es verschiedene
AAAusgangsvoraussetzungen. Imusgangsvoraussetzungen. Im
Osten findet Ganztagsbetreu-
ung bereits vielerorts stark in
der Schule oder im Hort statt,
im Westen gibt es viele ehren-
amtliche Strukturen, die wir
einbinden müssen, Sportvereine
und Musikschulen etwa.


Ist das Geschrei der Länder
nach mehr Geld also ein rituel-
ler Akt?
GIFFEY:
Natürlich kostet dieses
VVVorhaben mehr als zwei Milliar-orhaben mehr als zwei Milliar-
den Euro. Aber die Eltern erwar-
ten doch, dass bei der Ganztags-
betreuung etwas passiert. Da
müssten die Länder ohnehin ak-
tiv werden, auch wenn der Bund


gar nichts unternehmen würde.
Das ist eine gemeinsame Aufgabe,
die Bund, Länder und Gemeinden
zusammen angehen müssen.

Seit Jahren fordert die Wirt-
schaft den Ganztagsschulaus-
bau. Mehr Frauen im Arbeits-
markt bedeuten ein höheres
Bruttosozialprodukt – und
mehr Steuereinnahmen. Gut
fffür Sie?ür Sie?
GIFFEY: Das ist nicht unser Leit-
motiv. Viele Eltern sagen doch,
dass sie beides wollen: Kinder
und Beruf. Und damit das zu
schaffen ist, braucht es eine gute
und verlässliche Betreuung auch
in der Grundschule. Es geht hier
übrigens nicht um eine Pflicht,
sondern um einen Anspruch. Je-
de Familie soll das so organisie-
ren können, wie sie es möchte.
KARLICZEK: Es ist auch ein Sig-
nal an die junge Generation. Wir
wollen ihnen Mut machen, sich
fffür Kinder zu entscheiden –ür Kinder zu entscheiden –
auch für mehr als eins. Es muss
selbstverständlich sein, Familie
und Beruf miteinander zu ver-
binden. Und da ist eine gute Be-
treuung entscheidend. Davon
kann ich als dreifache Mutter
übrigens ein Lied singen.
GIFFEY: Wir sehen, dass es hier
große Unterschiede zwischen
Ost und West gibt. Während tra-
ditionell im Osten über 90 Pro-
zent der Kinder die Möglichkeit
fffür einen Ganztagsschulplatzür einen Ganztagsschulplatz
haben, sind es im Westen teil-
weise gerade mal 30 Prozent.
Hier gibt es Nachholbedarf.
KARLICZEK: Richtig. Mich hat
das Thema Kinderbetreuung vor
über 20 Jahren in die Kommu-
nalpolitik gebracht. Gemeinsam
mit anderen habe ich dafür ge-
sorgt, dass bei uns auf dem Dorf
im Münsterland die erste Kin-
derbetreuung über Mittag einge-
richtet wurde. Sonst hätte ich
nicht arbeiten gehen können. In-
zwischen ist das überall in NRW
selbstverständlich geworden.
AAAber nicht alle Eltern wollen ei-ber nicht alle Eltern wollen ei-
ne Betreuung in der Schule bis 16
Uhr. Viele greifen lieber auf die
Familie zurück. Dann gehen die
Kinder zweimal die Woche nach-
mittags zu Oma und Opa.

Frau Karliczek, Sie sind ver-
mutlich das unbekannteste Ka-
binettsmitglied. Wie kommt
das?
KARLICZEK: Ich habe mich viel-
leicht nicht gleich in den Vorder-
grund gedrängt. Ich musste mich
einarbeiten und die Themen mei-
nes Hauses kennenlernen. Das
fffinde ich nach wie vor richtig.inde ich nach wie vor richtig.
AAAber in den Medien gerät manber in den Medien gerät man
dann schnell ins Hintertreffen.

Frau Giffey, bei Ihnen ist es
umgekehrt. Nachdem die FU
Berlin Ihnen Ihren Doktortitel
belassen hat, werden Sie wie-
der für alles Mögliche
gehandelt.
GIFFEY: Für mich ist nicht wich-
tig, was mir die Leute zuschrei-
ben. Für mich ist wichtig, wo ich
selber stehe und was ich jetzt er-
reichen kann. Und deshalb kon-
zentriere ich mich gern auf meine
AAAufgaben als Familienministerinufgaben als Familienministerin.

Giffey (l.) und Karliczek auf der
Treppe im Foyer des Bildungs-
ministeriums. Links: eine virtu-
elle Skulptur aus Licht, Luft
und zerstäubtem Wasser


DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,12.NOVEMBER2019 POLITIK 7


E


tliche Medien fehlen, als
der Triumphator der spa-
nischen Wiederholungs-
wahlen zu seinen Fans spricht.
Über alle Bildschirme flimmert
er trotzdem. Santiago Abascal,
Chef der rechtspopulistischen
Vox-Partei, eröffnet mit einem
„Viva España“. Die Menge
schwingt Fahnen, unter anderem
der spanischen Fremdenlegion,
und singt: „Auf sie mit Gebrüll.“
Auf wen alles? Rechtspopulisten
fühlen sich ja immer von Fein-
den umstellt. Die Medien bei-
spielsweise fehlen nicht freiwil-
lig. Vox lässt nur die rein, die der
Partei passen. Auch wenn das
nach den Gesetzen eigentlich
nicht geht.

VON FLORIAN HAUPT
AUS BARCELONA

Abascal passiert einmal im
Schnelldurchlauf das Handbuch
des Rechtspopulismus. Millio-
nen vergessener Spanier habe
man „eine Stimme verschafft“
gegen die vermeintliche „dicta-
dura progre“, die progressive
Meinungsherrschaft. Statt des
„Streits, in den uns die Parteien
getrieben haben“, beschwört er
eine homogene Gemeinschaft:
Diese „patriotische und soziale
Alternative“ werde eines Tages
sogar die mit einschließen, die
links gewählt hätten.
„Presidente!“, rufen die verzü-
cken Anhänger. „Noch nicht“,
antwortet Abascal, auf eine Re-
gierungsbeteiligung hat er keine
Chance. Aber vielen Spaniern
reicht schon der Schock der 15
Prozent, mit denen Vox zur
drittstärksten Kraft nach Sozia-
listen (PSOE, 28 Prozent) und
Konservativen (PP, 21 Prozent)
aufstieg. Ihre Mandatszahl ha-
ben die Radikalen von 24 auf 52
Sitze mehr als verdoppelt.
Erst ein Jahr ist es her, dass
Spanien mit Nachbar Portugal
noch als Europas Refugium vor
dem Rechtspopulismus galt. Die
jahrzehntelange Erfahrung mit
autoritären Diktaturen hätte die
Iberer immun gemacht, so das
gängige Interpretationsmuster.
Dann kamen Ende 2018 die Wah-
len in Andalusien, der größten
Region des Landes. Vox erreichte
elf Prozent und avancierte zum
Steigbügelhalter einer neuen
Rechtskoalition aus PP und den
nationalliberalen Ciudadanos.
Seitdem geht es Schlag auf
Schlag in der „Reconquista“, wie
die Partei ihr Projekt in Anleh-
nung an die sukzessive Erobe-
rung der Halbinsel durch die
Christen des Mittelalters gern
bezeichnet. Im April gelang erst-
mals der Einzug in spanische
Parlament, und nach den Kom-

munalwahlen im Mai wurde die
neue Rechtsallianz auch in Rat-
haus und Regionalparlament von
Madrid aufgelegt.
Für die aktuelle Kampagne
nun gaben die entflammten
Mülltonnen Barcelonas während
der Unruhen nach dem Gerichts-
urteil gegen katalanische Separa-
tisten den idealen Brandbe-
schleuniger. Angesichts hysteri-
scher Schreie nach harter Hand
in anderen Teilen Spaniens
musste Vox gar nicht mehr viel
machen. Bei der TV-Debatte der
Spitzenkandidaten konnte Abas-
cal vorigen Montag genüsslich
verfolgen, wie seine Konkurren-
ten sich mit Law-and-Order-Ide-
en gegen Katalonien überboten.
Er wusste, dass das sowieso nur
ihm nützen würde; mit seiner
Spanien-über-alles-Rhetorik ist
er das Original, für Katalonien
fordert er die Ausrufung des Aus-
nahmezustands, und schon beim

Gerichtsprozess war seine Partei
als Nebenkläger aktiv gewesen.
Im Auftreten gibt sich der 43-
jährige Baske dabei nie geifernd,
sondern stets betont kontrol-
liert. Verglichen mit seinen fast
hyperventilierenden Kontrahen-
ten im rechten Parteienspek-
trum, Pablo Casado (PP) und Al-
bert Rivera (Ciudadanos), strahl-
te er im Fernsehduell regelrecht
Sachlichkeit aus – auch wenn sei-
ne Argumente alles andere als
sachlich waren. Die Behauptung,
70 Prozent aller Vergewaltiger
seien Zuwanderer, erwies sich
später als ebenso falsch wie jene,
dass bei 86 Prozent aller Anzei-
gen nach dem – von Vox als män-
nerfeindlich bekämpften – Ge-
setz gegen Geschlechtergewalt
das Verfahren eingestellt würde.
Vox wurde 2013 von enttäusch-
ten PP-Mitgliedern gegründet,
denen die Konservativen unter
dem damaligen Parteichef Maria-
no Rajoy zu sanft daherkamen.
Als „Erfindung von Aznar“, dem
Vorgänger Rajoys, bezeichnete
die Partei im Wahlkampf der ak-
tuelle Premier Pedro Sánchez.

Abascal blickt selbst auf eine 20-
jährige Funktionärskarriere in
der PP zurück, weshalb der Anti-
Establishment-Diskurs bei Vox
vor allem anfangs geringer ausge-
prägt war als bei europäischen
Geistesbrüdern.
Wie gegen Migration und
Emanzipation agitiert Vox be-
sonders gegen die – von der Ver-
fassung zugesicherten – Autono-
mierechte der Regionen. Die sol-
len abgeschafft und durch einen
straffen Zentralstaat ersetzt
werden. Auch diese Forderung
erhielt durch die Katalonien-Kri-
se nun besondere Konjunktur,
bedient aber gleichermaßen ma-
terielle Ängste. Im Wahlkampf
betonte Abascal immer wieder
die vermeintlich horrenden Kos-
ten des dezentralen Staates,
während die Losung „Spanier
sind überall gleich“ eine Annähe-
rung der Lebensverhältnisse in
allen Landesteilen versprach.
Damit punktet er besonders im
armen Süden. In der Region
Murcia wurde Vox am Sonntag
stärkste Partei. In Andalusien
landete sie auf gleicher Höhe mit
der PP hinter der PSOE.
Wie in Andalusien stützt Vox
just auch in Murcia die Landes-
regierung. Die schnelle Einbin-
dung der jungen Partei in die
Verantwortung hat ihr also nicht
geschadet, sondern weiter ge-
nutzt und eher noch Selbstver-
trauen für radikale Positionen
verliehen. Teilweise treibt sie ih-
re Bündnispartner schon vor
sich her.
Formell ist sie zwar kein Teil
der Regierungen, lässt sich ihre
Stimmen aber immer wieder mit
Zugeständnissen absichern und
hat auch die Programme mitge-
staltet. Erst vorige Woche verab-
schiedeten PP und Ciudadanos
im Madrider Regionalparlament
eine (nicht bindende) Vox-Reso-
lution, alle separatistischen Par-
teien im Königreich zu verbie-
ten. Insbesondere die einst als li-
berale Protestpartei angetrete-
nen Ciudadanos sind nun die
großen Verlierer des Erstarkens
von Vox. Ihre parlamentarischen
Allianzen bei gleichzeitigem
Wettrennen um die härtesten
Slogans zu Katalonien haben den
Zentrumsflügel verstört, zu pro-
minenten Parteiaustritten und
letztlich einem brutalen Absturz
geführt.
Am Sonntag verloren Ciudada-
nos 47 ihrer 57 Mandate und fie-
len gegenüber den letzten Wah-
len von Platz drei auf Platz sechs.
Im Nachhinein wirken die „Bür-
ger“ mit ihrem emotionsfixierten
Politikstil wie ein Tempomacher.
Jetzt müssen sie abreißen lassen.
Es übernimmt der Rechtspopu-
lismus, auch in Spanien.

„Presidente!“, rufen schon die


Anhänger der Rechtspopulisten


Lange galt Spanien als Bollwerk gegen einen Rechtsruck.
Doch jetzt gaben die tagelangen Ausschreitungen in Katalonien
den idealen Brandbeschleuniger für den Erfolg von Vox

,,


Auf sie mit


Gebrüll


Die Siegesgesänge der
Anhänger von Santiago
Abascal, dem Chef der
rechtspopulistischen
Vox-Partei

FFFamilienministerin Franziskaamilienministerin Franziska
Giffey (SPD)

MARTIN U. K. LENGEMANN/ WELT
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