Neue Zürcher Zeitung - 13.11.2019

(Barry) #1

Mittwoch, 13. November 2019 WIRTSCHAFT 23


«BeendenSie den Handelskrieg!», rät Maurice Obstfeld,


frühererIMF-Chefökonom, Donald Trump SEITE 25


Esscheint nur noch eineFrage der Zeit zusein, bis das


Schneeballsystemder libanesischen Bankenzerfällt SEITE 26


Das Verste ckspie l um Sozialbeiträge


Gewerbekreise bekämpfen den Vaterschaf tsurl aub wegen der Kosten – doch diese tr agen vor allem Arbeitnehmer und Konsumenten


HANSUELI SCHÖCHLI


Klar sichtbarer Nutzen,diffus verteilte
und weitgehend versteckteKosten:Das
ist eine Übungsanlage nach dem Gusto
vonPolitikern.Damit kann man einer
Klientengruppe offenkundige Vor-
teile verschaffen,ohne dass dies die
Zahler richtig merken. Ein Musterbei-
spiel liefert der geplanteVaterschafts-
urlaub.Vorgesehen sind zwei zusätzliche
Ferienwochen, bezahlt mit Lohnbeiträ-
gen von 0,06%.
0,06% klingt marginal; bei einemJah-
reslohn von 100000 Fr. wären dies 60Fr.
Doch das läppert sich für die gesamte
Lohnsumme in der Schweiz auf etwa
220 Mio.Fr. proJahr zusammen. Zudem
sind auch zweiWochen bezahlterVater-
schaftsurlaub marginal und illustrieren
vor allemSymbolpolitik – bisAusbau-
wünsche nach einem zehn- oder zwan-
zigmal so langen «Elternurlaub» politi-
scheRealität werden.


Vieles wirdüberwälzt


Dasvon Gewerbekreisen in der vergan-
genenWoche lancierteReferendum be-
ruht vor allem auf der Kritik über zu-
sä tzliche Belastungen für die Betriebe
mittels Lohnbeiträgen.Formal sollen
wie bei der AHV die Arbeitgeber und
die Arbeitnehmer je zur Hälfte die zu-
sätzlichen Lohnbeiträge für denVater-
schaftsurlaub zahlen. Doch aus ökono-
mischer Sicht ist nicht die formale Be-
zahlpflicht entscheidend, sondern wer
letztlich nach Abschluss aller Über-
wälzungen dieLasten trägt.
So zeigt etwa die internationaleFor-
schungsliteratur, dass Firmensteuern
zu erheblichemTeil durch die Arbeit-
nehmerinForm tieferer Löhne getra-
gen werden. DieBandbreite typischer
Schätzungenreicht von 40% bis 70%
Überwälzung vonFirmensteuern auf die
Lohnempfänger. DenRest tragen zum
Teil dieKonsumenten (höherePreise),
die Arbeitslosen (tiefere Beschäfti-
gung) und dieFirmenbesitzer (tiefere
Gewinne).


Ähnliches gilt im Prinzip auch für
Sozialbeiträge. Deshalb sind zum Bei-
spiel die hohen Lohnbeiträge für ältere
Arbeitnehmer in der beruflichenVor-
sorgekein solch hohes Beschäftigungs-
hindernis, wie man meinenkönnte; 2 011
hatte eine Studie der UniversitätBasel
sogar vorgerechnet, dass die Arbeit-
geberbeiträge für Pensionskassen zu
100% auf die Löhne überwälzt wurden.
Doch das Bild der internationalen
Forschungsliteratur zum Grad der Über-
wälzung von Sozialabgaben ist nicht ein-
heitlich. Eine 2013 publizierte Analyse
von über 50 Studien aus verschiedens-
tenLändern zeigte eine grosseBand-

breite von Schätzungen.Das hat mit den
Unterschieden in den Schätzmethoden
und in den untersuchtenFällensowie
mit den grundsätzlichen Schätzschwie-
rigkeiten zu tun.Laut der mittleren
Schätzung tragen letztlich die Lohnemp-
fänger inForm von tieferen Nettolöhnen
etwa zwei Drittel derKostenvonSozial-
beiträgen und Lohnsteuern.
Weitere Analysen aus den letzten fünf
Jahren bestätigen das Bild einer grossen
Schätzbandbreite. In derTendenz ist die
Überwälzung derKosten auf die Arbeit-
nehmer längerfristig deutlich grösser als
kurzfristig. Die Überwälzung ist zudem
eher überdurchschnittlich,wenn die Bei-

träge den Betroffenen direkt sichtbaren
Nutzen bringen – zum Beispiel inForm
einer höheren Pensionskassenrente.
Nicht ganz klar ist derweil,inwieweit
es drauf ankommt, ob Sozialkosten for-
mal als Arbeitnehmerbeiträge oder als
Arbeitgeberbeiträge anfallen; kurzfris-
tig scheint dieseineRolle zu spielen (ge-
ringereLasten für Lohnempfänger bei
Arbeitgeberbeiträgen), doch längerfris-
tig ist dieFrage offen.
Was heisst all dies nun für dieKos-
tenverteilung in SachenVaterschafts-
urlaub? Gemessen an derForschungs-
literatur liesse sich plausiblerweise an-
nehmen, dassmittel- bis längerfristig

etwa zwei Drittel der gesamten Zusatz-
kosten via tiefere Nettolöhne bzw. klei-
nere Lohnerhöhungen beim Arbeitneh-
mer hängen bleiben.Vom verbleibenden
Drittel geht ein weitererTeil zulasten
der Arbeitnehmer inForm einer tiefe-
ren Beschäftigung.

200 bis300 Stellen weniger


Zum Zusammenhang zwischen Arbeits-
kosten und Nachfrage durch Arbeit-
geber gibt es eine breite internationale
Forschungsliteratur.Auch hier gehen
die Schätzungen zumTeil weit ausein-
ander. Eine Analyse von 20 14 über rund
hundert verschiedene Studien ergab als
«beste Schätzung» folgenden Zusam-
menhang: Steigen die Arbeitskosten um
1%, sinktdie Nachfrage der Arbeitgeber
um etwa 0,25%.Für dieVaterschaftsver-
sicherung hiesse dies ganz grob gesagt,
dass die Beschäftigung von Arbeitneh-
mern umgerechnet um etwa 200 bis 300
Vollzeitstellen sinken mag; dies liesse
sich allerdings kaum je nachweisen,was
die Sache fürPolitiker besonders attrak-
tiv macht. Der Effekt erscheint zudem
gemessen an den rund5Mio. Erwerbs-
tätigen in der Schweiz marginal (unter
0,1 Promille), aber das ist das Spiegel-
bild des marginalen Nutzens des geplan-
ten Sozialausbaus.
DieKostenüberwälzung durch die
Arbeitgeber ist damit noch nicht am
Ende.Sie werden zudem versuchen,
einenTeil via höhere Preise an die
Konsumenten abzuwälzen. Tendenz:
Jeintensiver derWettbewerbist, desto
schwieriger ist dieKostenüberwälzung
auf die Preise. Nimmt man hier willkür-
lich an, dass vom nicht an die Arbeitneh-
mer überwälztenTeil je etwa die Hälfte
bei denKonsumentenund den Arbeit-
gebern hängen bleibt, ergibt sich etwa
folgendes Gesamtbild:Von denKosten
für dieVaterschaftsversicherung von
220 Mio. Fr. proJahr mögen mittel- bis
längerfristig über190 Mio. Fr. zulasten
von Arbeitnehmern undKonsumenten
gehen und nur knapp 30 Mio. Fr. bei den
Arbeitgebern hängen bleiben.

Zwei Wochen Vaterschaftsurlaub würden in der Schweiz proJahr etwa220 MillionenFranken kosten. ANNICK RAMP/NZZ

Donald Trump mimt das uneinsichtige Pokerface


Der US-Präsident bestreitet vor dem Economic Club of New York, dass sein e Handelspolitik Kosten verursacht und Unsicherheit schafft


MARTIN LANZ,WASHINGTON


US-Präsident DonaldTr ump hat am
Dienstagnachmittag (Ortszeit) darauf
verzichtet,sichkonkret zu den diversen
offenen handelspolitischen Dossiers zu
äussern. Stattdessen hat er bei einem
Auftritt vor dem Economic Clubof New
York einerosigeWirtschaftsbilanz sei-
ner bisherigen Amtszeit gezogen und
versprochen, dass das Beste erst noch
komme.Trump legte aber im Hinblick
auf eine mögliche zweite Amtszeitkeine
neuen wirtschaftspolitischen Initiati-
ven dar.Vielmehr beklagte er sich ein-
mal mehr über die in seinenAugen zu
restriktive Geldpolitik der US-Zentral-
bankFederal Reserve.


KeineEile mit China


In Bezug auf die laufendenVerhand-
lungen mit China gab sichTr umprecht
aggressiv. Er machtenicht denEindruck,
dasseres besonders eilig habe, ein Ab-
kommen zu unterzeichnen.Vielmehr
könne es China kaum erwarten, einen
Deal abzuschliessen, behauptete er.Tat-
sächlich sei man sehr nah daran und ein
Abkommenkönnte durchaus zustande
kommen, sagte Tr ump. Aber seine
Regierung werde nur ein Abkommen


akzeptieren, das gut für ganz Amerika
sei:«Wir sind es, die entscheiden, ob wir
den Deal machen wollen oder nicht.»
Klagen, dass amerikanische Indus-
triefirmen undFarmer mit zunehmen-
derDauer unter dem Handelskrieg lit-
ten,stellteTr ump in Abrede. Es gebe
keine handelspolitische Unsicherheit,
behauptete er. EchteKosten entstünden
den USA nur dann, wenn man nichts tue
und China nichtkonfrontieren würde,
sagte der Präsident.Tr ump äusserte
sich weder zu den möglichen Elemen-
ten des Mitte Oktober angekündigten,
sogenannten Phase-1-Abkommens mit
China, noch machte er Angaben dazu,
wie er mit denbereits geltenden und ge-
planten Strafzöllen umzugehen gedenke.
Auch auf den anderen Elefanten im
Raum, die seit langem angedrohten Son-
derzölle auf US-Importen vonAutos
undFahrzeugteilen aus demAusland,
gingTr ump am Dienstag nicht ein. Bis
am Mittwoch muss das Büro des US-
Handelsbeauftragten dem Präsidenten
Berichterstatten über dieVerhandlun-
gen der US-Regierung mit der Europäi-
schenKommission. DieseVerhandlun-
gen dienen dazu, das angeblicheRisiko
fürdie nationale Sicherheit der USA,
das von den aus amerikanischer Sicht
übermässigenAutoimporten ausgeht,

abzuwendenund so die Einführung
neuer Zölle zu vermeiden.
DiemeistenBeobachter gehen davon
aus, dass PräsidentTr ump den Entscheid
über dieAutozölle dieseWoche erneut
verschieben wird.Weder aus derPolitik
noch aus derWirtschaft gibt es in den
USA Unterstützung für höhereAuto-
zölle. Der US-Zoll aufAutoimporten
aus der EU beträgt derzeit 2,5%.Trump
droht praktisch seit Beginn seiner Prä-
sidentschaft, diesen Zoll auf 25% zu er-
höhen. Dem Präsidenten dürfte längst
klar sein, dass er damit erheblicheVer-
werfungen im US-Fahrzeugmarkt aus-
lösen würde. Er hält es aber offensicht-
lich für nützlich, die Drohkulisse auf-
rechtzuerhalten.

«EU schlimmer als China»


Am Dienstag beklagte sichTr ump ein-
mal mehr über die hohen tarifären und
nichttarifären Handelsbarrieren der EU,
die in vielerlei Hinsicht noch schlim-
mer seien als die chinesischen. In die-
sem Zusammenhang äusserte erSym-
pathien für eine Gesetzesvorlage, wel-
che ihn ermächtigen würde, ebenso hohe
Zölle auf US-Importen zu erheben, wie
das Amerikas Handelspartner auf US-
Exporten täten. Diese United States

ReciprocalTr adeActgenannteVorlage
wurde Anfang 20 19 vonTr ump-Republi-
kanern insRepräsentantenhaus einge-
bracht, wird dort aber von den Demo-
kraten blockiert.
DonaldTr ump war Mitte Septem-
ber 20 16 als Präsidentschaftskandidat
an gleicher Stätte in NewYork aufge-

treten.Damals versprach erReformen
im Steuerbereich, in der Handels-und
Energiepolitik sowie in derRegulierung,
welche in denkommenden zehnJahren
zu einem jährlichenWirtschaftswachs-
tum von 3,5% und zu 25 Mio. neuen
Jobs führen würden.

Ohnejegliche Selbstkritik


Selbst 4%Wirtschaftswachstum seien
möglich, meinteTr ump damals. Dank
diesemWachstum würden sich die von
ihm vorgeschlagenen Steuersenkungen
weitgehend selber finanzieren. Ohne
jeglichen Anflug von Selbstkritik sagte
Tr ump nun am Dienstag mitVerweis auf
dieseAussagen, er habe in den bisheri-
gen zweieinhalbJahren Amtszeitsämt-
liche Erwartungen übertroffen. Und dies
trotz der zu straffen Geldpolitik, welche
Amerika unnötig zurückhalte und im
globalenWettbewerb benachteilige.
Unter Tr ump hat sich der Auf-
schwung, der Mitte 2009 begonnen hat,
fortgesetzt. 20 18 erreichte dasWachs-
tum dank Steuersenkungen und staat-
lichen Mehrausgaben 3%.Im laufenden
Ja hr ist die US-Wirtschaft aber wieder
zumTr endwachstum von 2% zurück-
gekehrt.Das Haushaltsdefizit ist der-
weil stark auf 4,6% des BIP gestiegen.
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