Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

14 SCHWEIZ Donnerstag, 31. Oktober 2019


Die «Spion e» im Postauto

Im Jura wird die Bus-Konzession neu vergeben – eine lukrative Angelegenheit, die derzeit ungewöhnliche Fahrgäste anzieht


ANTONIO FUMAGALLI, DELSBERG


Im KantonJuraspielen sich im öffent-
lichenVerkehr derzeitungewohnte Sze-
nen ab: «Es waren drei Leute,vermutlich
ausFrankreich. Sie filmten und fotogra-
fierten den ganzen Bus. Besonderes Inter-
esse zeigten sie an derFührerkabine», sagt
Postauto-FahrerJean-JacquesRoth. An-
dere Chauffeure erzählen, man erkenne
die «Spione» daran, dass sie bis zur End-
station fahren und dann gleich wieder zu-
rück. EinFahrer, der anonym bleiben will,
sagt: «Diese Leute bringen uns aus dem
Konzept, während wir den Bus lenken.
Ich nenne das Belästigung.»
Diesereichlich speziellenFahrgäste
sind mutmasslich imAuftrag von in- und
ausländischen Tr ansportunternehmen
unterwegs. IhrAuftrag: So viele Infor-
mationen wie möglich über diePostauto
AGzu sammeln, die derzeit dieKonzes-
sion für die Buslinien desregionalenPer-
sonenverkehrs innehat. Denn bald schon
wird sichdas Regime ändern. DerJurahat
im Mai 20 17 angekündigt,in Zusammen-
arbeit mit dem Bund und dem Kanton
Bern sein gesamtes Busnetz auszuschrei-
ben. Der Kanton war mit dem Preis-Leis-
tungs-Verhältnis der bisherigen Monopo-
lis tinPostauto nicht mehr zufrieden und
erhofft sich mit demVorgehen,«dieKos-
ten zu senken und Qualität und Nähe zum
regionalen Markt zu verbessern», wie der
zuständige StaatsratDavid Eraysagt. Mit
den Buslinien wird ein Umsatz von jähr-
lich rund 20 MillionenFranken erzielt,für
dieDauer der zehnjährigenKonzession
lockt insgesamt also ein Deal über nicht
weniger als 200 MillionenFranken.
Dass die Ausschreibung auch bei
Tr ansportunternehmern ennet der
Grenze Appetit weckt,erstaunt ange-
sichts diesesVolumens nicht weiter. Die
PostautoAGhat bereits angekündigt, sich
erneut um dieKonzession zu bemühen –
wie vieleKonkurrenten ihnen diese strei-
tig machen, ist offen. Die Gewerkschaft
Syndicom sprichtvon bis zu30 Interes-
senten aus mehreren europäischenLän-
dern undrechnet mit letztlich fünf bis
zehn Antragstellern. DieFrist läuftam



  1. November ab.
    Derzeit läuft also die heisse Phase,
    wie sie die Chauffeureameigenen Leib


zu spüren bekommen. Besonders inter-
essant sind für die potenziellen Bewer-
ber öffentlich nicht zugängliche Infor-
mationen wie die Gestaltung der Dienst-
pläne oder die Lohnverhältnisse – denn
dort liegt das (mögliche) Einsparpoten-
zial. MehrerePostauto-Mitarbeiter wur-
den in den vergangenenWochen gezielt
angegangen, wieFirma,Fahrer und Ge-
werkschaft übereinstimmend berichten.

80 Franken für Informationen


DerPostautoAGsind die Hände gebun-
den:«Wir sind solch aggressive Methoden
in der Schweiz nicht gewohnt.Aberrecht-
lichkönnen wir nichts dagegen tun, wenn
ein zahlenderFahrgast den Bus fotogra-
fiert oder unsere Mitarbeiter anspricht»,
sagt Philippe Cina,VerkaufsleiterWest-

schweiz bei derPostautoAG.Man habe
aber alle Chauffeure imJuraüber ihre
Rechte und Pflichten informiert – etwa,
dass sie sich nicht filmen oder ablichten
lassen müssen oderkeineAuskunft über
Löhne und andereAnstellungsbedingun-
gen geben dürfen.
Ein Bewerber ist sogar noch einen
Schritt weitergegangen, wieRTS berich-
tete. Ein französisches Marktforschungs-
unternehmen hat – mutmasslich imAuf-
trag einer interessiertenTr ansportfirma –
Anfang September einen Anlass aufFace-
book ausgeschrieben, bei der jurassische
ÖV-Nutzer für eine «Diskussionsrunde»
gesucht wurden. Entschädigung für die
dreistündigeVeranstaltung: 80Franken,
bar auf die Hand. GemässAngaben von
Syndicom mussten dieTeilnehmer gleich
zu Beginn eineVertraulichkeitsvereinba-

rung unterschreiben und wurden danach
«mit Kaltblütigkeit und Professionalität
über ihr Nutzerverhalten ausgefragt», so
Zentralsekretärin SheilaWinkler. Sie hät-
ten dasVorgehen als «überaus unange-
nehm» empfunden, sagt sie. Das französi-
scheTr ansportunternehmen, das lautSyn-
dicom hinter derVeranstaltung stecken
soll, hat am Mittwoch nicht auf eineAn-
fragereagiert.

Angst um Job und Lohn


Wären die jurassischen Chauffeure «nur»
von ungewöhnlichenFahrgästen behel-
ligt worden, würden sie es als temporäre
Begleiterscheinung ihres Alltags hinneh-
men. Doch ihnen – und den Gewerkschaf-
ten – geht es um mehr: Sie haben Angst
um ihrenJob.Die Chauffeure fürchten,

dass ein Unternehmen den Zuschlag er-
hält,das weit tiefereLöhne bezahlen und
zudem zumindest aufeinenTeil der jetzi-
gen Belegschaft verzichten wird.
In derTat muss dieTr ansportfirma,
welche die neueKonzessionerhält, die
bestehendenFahrzeuge zumRestbuch-
wert übernehmen,nicht aber dasge-
samtePersonal. Und:Per Gesetz muss
das neubeauftragte Unternehmen den
Arbeitnehmern die notwendigen Stel-
len zu «branchenüblichen Bedingun-
gen» anbieten.Was das für die Löhne
bedeutet, steht im Gesetz aber nicht.Das
Bundesamt fürVerkehr (BAV) definiert
den Mindesteinstiegslohn mit jährlich
58 300Franken, gemässSyndicom liegt
dieser jedoch rund 25 Prozent unter dem
Durchschnittslohn, den diePostautoAG
ihren Chauffeuren imJurabezahlt. Be-
stehende Gesamtarbeitsverträge, wel-
chen dieFahrer unterstehen, sind gemäss
einemBAV-Leitfaden «zu berücksichti-
gen»,nicht aber zwingend zu überneh-
men.Kurz:«Diesesvöllig unnötigeAus-
schreibungsverfahren öffnetTür undTo r
für Lohndumping», sagt Zentralsekretä-
rinWinkler.
Für den jurassischenInfrastruktur-
minister Eray, dessen Amt die verschiede-
nen Angebote prüfen und in Absprache
mit der Gesamtregierung und Bern dem
BAV zurKonzessionserteilung vorschla-
gen wird, hat der Kanton bei derAus-
schreibung «alles darangesetzt», dass die
bestehenden Arbeitsbedingungen auch
künftig eingehalten werden.Auch bei
der Bearbeitung der Anträge werde man
darauf achten. Die erwünschtenKosten-
reduktionen sollen nicht über die Lohn-
summe, sondern über «strukturelle Ein-
sparungen» erfolgen. Zudem habe der
KantonJura«selbstverständlichkein In-
teresse daran», dass seine Bürger und
Steuerzahlerdie Stelle verlören, so Eray.
Noch beruhigen die staatsrätlichen
Beteuerungen dieFahrer nicht sonder-
lich.Wie es um ihre Zukunft steht, wissen
siefrühestens im ersten Halbjahr 2020.
Bis dann soll derKonzessionsbeschluss
gefällt sein, wobeiRekurse zu erwar-
ten sind. Und was, wenn ihnen der Ent-
scheid nicht passt? «Dann streiken wir,
keineFrage», so der einhelligeTenor der
Chauffeuream Delsberger Busbahnhof.

Die Idylle trügt: Im KantonJuraist ein heftiger Kampf um den Bus-Betriebim Gang. JEAN-CHRISTOPHEBOTT/ KEYSTONE

BUNDESSTRAFGERICHT


Gelder im Fall Ben Ali sollen freigege ben werden


Der Rekurs Tunesiens gegen die Einstellung eines Geldwäschereiverfahrens wird abgewiesen


BALZ BRUPPACHER


Die HoffnungenTunesiens aufRück-
erstattung von Geldern, die nach dem
Sturz von Präsident Ben Ali in der
Schweiz eingefroren wurden, erhalten
einenDämpfer. Das Bundesstrafgericht
unterstützt den Beschluss der Bundes-
anwaltschaft, das Strafverfahren gegen
drei Brüder der tunesischen Unterneh-
merfamilie Mabrouk einzustellen und
rund zehn MillionenFranken freizuge-
ben. Gegen jenen der Brüder, der mit
einerTochter Ben Alis verheiratet war,
besteht allerdings noch eine administra-
tiveVermögenssperre des Bundesrats.


Rasche Korrektur


Die Mabrouk-Gruppe gehört zu den
führenden UnternehmenTunesiens. Ur-
sprünglich vor allem in der Nahrungsmit-
telindustrie tätig, ist derKonzern heute
diversifiziert mit Aktivitäten imFinanz-
sektor, imTourismus, in der Luftfahrt, in
derTelekommunikation und imAutomo-
bilhandel.Diedrei Brüder Mohamed Ali,
Ismaïl und Marouane führen das Unter-
nehmen gemeinsam.Wie andere Unter-
nehmerfamilien gerieten die Mabrouks
nach dem Sturz Ben Alis imJanuar 2011
unterVerdacht, an der illegalen Berei-
cherung beteiligt gewesen zu sein und
Gelder insAusland geschafft zu haben.
Auf der ersten per Notrecht erlasse-
nenTunesien-Verordnung des Bundes-


rats vom19.Januar 2011 figurierten alle
drei Mabrouk-Brüder.Aber schon bei
der zweitenRevision des Anhangs mit
den von derVermögenssperrebetroffe-
nenPersonen wurden MohamedAli und
Ismaïl am 4.Februar 2011 von der Liste
gestrichen. Nicht so der1972 geborene
Marouane. DieVermögenswerte aller
drei Brüder wurden im Strafverfahren
der Bundesanwaltschaft (BA) wegen
Geldwäscherei und Mitgliedschaft in
einer kriminellen Organisation gesperrt.
Auf Ersuchen der Betroffenen gab
die Bundesanwaltschaft die Gelder von
Mohamed Ali und Ismaïl Mabrouk im
Februar 20 14 frei. Die Ermittlungen hät-
tenkeinenrechtsgenügenden Nachweis
für den kriminellen Ursprung erbracht, so
die Begründung. Es gebe auchkeine Hin-
weise dafür, dass diese Gelder der mut-
masslichen kriminellen Organisation des
ehemaligen Präsidenten zurVerfügung
gestellt worden seien. Im November
2014 hiess das Bundesstrafgericht jedoch
einenRekursTunesiensgegen dieFrei-
gabe der Gelder gut. DieAufhebung der
Vermögenssperre sei erst möglich, wenn
zweifelsfrei nachgewiesen sei, dass die
Kontoinhaber nicht Mitglied einer kri-
minellen Organisation seien beziehungs-
weise nicht eine solche unterstützt hät-
ten,erklärten die Richter in Bellinzona.
Mit der gleichenFrage musste sich das
Bundesstrafgericht in dem jetzt veröffent-
lichten Entscheid noch einmal befassen.
Denn dieBAhatte das Strafverfahren

gegen alle drei Brüder im Dezember 2017
eingestellt und die Sperre der Gelder auf-
gehoben. Im Unterschied zu 20 14 wies
das Gericht denRekursTunesiensnun
ab. DerTatverdacht gegen die drei Brü-
der habe sich nicht erhärtet, im Gegen-
teil: EineVerurteilung erscheine völlig
unwahrscheinlich.Die Bundesanwalt-
schaft habe dasVerfahren zuRechtein-
gestellt. Die Überprüfung von 20Bank-
verbindungen, bestehend aus 42Konten
und 15 Wertschriftendepots, ergab, dass
die Mabrouk-Brüder zwischen1990 und
2010 Tr ansaktionen von mehrerenDut-
zend MillionenFranken über die Schweiz
abwickelten und dass darunter auch ver-
deckteKommissionen waren.

Kein Verdacht


Die Bundesanwaltschaft erkundigte sich
mitRechtshilfegesuchen mehrmals in
Tunesien nach Strafverfahren gegen die
drei Brüder. Gegen Marouane Mabrouk
ermittelte die tunesischeJustiz im Zusam-
menhang mit dem Sturz von Ben Ali. Das
Verfahren wurde jedoch wegenVerjäh-
rung eingestellt. Bei einer Einvernahme
durch dieBAsagte er im November 2017,
erkönne über seinVermögen inTune-
sienwieder frei verfügen unddieRei-
seeinschränkungen gegen ihn seien auf-
gehoben worden. ImJanuar 20 19 wurde
Marouane Mabrouk trotz Protesten von
Tr ansparency International überdies von
der Sanktionenliste der EU gestrichen.

Die Analyse der SchweizerBankver-
bindungen förderte laut Bundesstraf-
gerichtkeine besonders verdächtigen
Tr ansaktionen zutage, die aufirgendeine
Verbindung der drei Brüder mit dem
Ben-Ali-Clan oder auf spezifischeVor-
teile durch eine solcheVerbindung hin-
weisen. Einzig der Umstand, dass Marou-
ane Mabrouk dieTochter des im vergan-
genen September im Exil verstorbenen
Ex-Präsidenten geheiratet hatte, führte
zumTatverdacht und zur Blockierung der
Vermögenswerte der Mabrouks. Diese
Ehe ist gemäss Bundesstrafgericht in-
zwischen aufgelöst.
Das Urteil kann auf dem ordentlichen
Weg nicht mehr angefochten werden.Die
Einstellung des Strafverfahrens und die
Aufhebung derVermögenssperre wür-
den vollzogen, sobald das Urteilrechts-
kräftig sei, erklärte dieBA. NachAus-
kunft der Anwälte geht es um rund acht
Millionen Euro und etwa 80 0000 Fran-
ken. Unabhängig von den Entscheiden
derBAist aber offen, wierasch Marou-
ane Mabrouk Zugang zu seinen Schwei-
zerKonten erhält. Denn sein Name figu-
riert nach wie vor im Anhang derTune-
sien-Verordnung des Bundesrats. Der
Bundesrat muss sich ohnehin demnächst
mit demThemabefassen. Denn die vor
Jahresfrist um einJahr verlängerte Sperre
von insgesamt 56 MillionenFrankenläuft
Anfang 2020 aus.

Entscheid BB. 20 17.227vom17.9.2019.

BUNDESRAT


Schnelleres Internet
in der Grundversorgung
(sda)·Der Bundesrat verdreifacht die
in der Grundversorgung vorgesehene
Mindestgeschwindigkeit fürdas Sur-
fen im Internet. Davon profitieren ins-
besondere Bürgerinnen und Bürger,
die in Gebieten leben,in denenkeine
alternativen Angebote auf dem Markt
erhältlich sind. Die Mindestgeschwin-
digkeit für den Download wirdabdem


  1. Januar von 3 auf 10 Megabit pro
    Sekunde (Mbit/s) erhöht, wie das Bun-
    desamt fürKommunikation (Bakom)
    am Mittwoch mitteilte. Zudem wird die
    Mindestgeschwindigkeit für den Upload
    von 0,3 auf 1 Mbit/s erhöht. Umsetzen
    muss die neuenVorgaben dieSwisscom.


Zwei Wochen
Adoptionsurlaub
(sda)·Paare,die ein Kind unter vier
Jahren adoptieren, sollen dasRecht auf
zweiWochen bezahlten Urlaub bekom-
men.Das schlagen die Sozialkommissio-
nen von National- und Ständerat vor. Der
Bundesrat ist einverstanden. Nachdem
dasParlament die Einführung eines zwei-
wöchigenVaterschaftsurlaubs beschlos-
sen habe, sei es angezeigt, allen Eltern den
gleichen Anspruch auf einen entschädig-
ten Urlaub zu garantieren – unabhängig
davon, ob sie die leiblichen Eltern oder
Adoptiveltern ihrer Kinder sind.Das
schreibt der Bundesrat in der am Mitt-
woch veröffentlichten Stellungnahme zu
einer parlamentarischen Initiative.
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