Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

6 NZZ-Verlagsbeilage Spot light Schweiz Donnerstag, 31. Oktober 2019 Donnerstag, 31. Oktober 2019 Spotlight Schweiz NZZ-Verlagsbeilage 7


«Wir müssen die Kinder auf eine Welt vorbereiten, die noch nicht existiert»


Vier Vordenker skizzie ren, was es mit dem digitalen Wandel in der Schule auf sich hat – oder eb en noch beziehungsweise doch nicht: Linda Liukas,Leyla Acaroglu, Edy Portmann und Lasse Leponiemi stan den anlässlich des Campus Seminar am 30. Oktobe r 2019


in Zürich-Oerlikon auf der Bühne.


Linda Liukas


istAutorin und Illustratorin von «HelloRuby», einem in
über 25 Sprachen übersetzten Bilderbuch für Kinder über
die skurrileWelt der Computer, und Gründerin von «Rails
Girls», einerglobalen Bewegung, die jungeFrauen in rund
270 Städten in Programmierung unterrichtet. DieFinnin
glaubt, dass Code die Alphabetisierung des 21. Jahrhun­
derts ist und dass die Notwendigkeit, das ABC der Pro­
grammierung zu sprechen, unmittelbar bevorsteht. Linda
Liukas hatWirtschaftswissenschaften, Design und Inge­
nieurwesen an der Aalto University Helsinki sowie Pro­
duct Engineering an der Stanford University in den USA
studiert.

Leyla Acaroglu


ist Gründerin von Disrupt Design,
UnSchool sowie CO ProjectFarm
inPortugal. DieAustralierin be­
zeichnet sich als Nachhaltigkeits­
provokateurin undKulturprotago­
nistin. Sie fordert die Menschen auf,
anders über dieFunktionsweise der
Welt nachzudenken. Als Designe­
rin, Soziologin und Unternehme­
rin entwickelte LeylaAcaroglu die
Disruptive­Design­Methode.2016
wurde sie vom Umweltprogramm
derVereinten Nationen zum
«Champion of the Earth» gekürt.
LeylaAcaroglu hat amRoyal
Melbourne Institute ofTechnology
im Bereich Change­Centric
Disruptive Design promoviert.

Wie definieren Sie
digitaleTransformation
in der Bildung?

In unserem AlltagnimmtTechnologie eine vielgrössereRolle ein, als dieAusdrückedigital,E­Skills,
codieren oder Computerwissenschaft umfassenkönnen.Wir müssen die Kinderauf eineWelt vor­
bereiten,die nochnicht existiert,Technologienbeinhaltet, die noch nicht erfundenwurden und
sowohl technologische als auch ethische Herausforderungen mit sich bringt, die wir nichtkennen.
Digitales Lernen bedeutet nicht, dass Kinder einfach häufiger vor dem Computer sitzen und
deshalb Dinge wie das Spielen in freier Natur oder sozialeKontakte vernachlässigen. ImWald zu
spielen, war ein wichtigerTeil meiner eigenen Kindheit. Diese Erfahrung würde ich auch zukünf­
tigen Generationen nicht vorenthalten. Menschenkönnen vieles zur selben Zeit sein, denn im
Gegensatz zu Computern sind wir nicht binär. Es ist also möglich, dass Kinder imWald spielen
und sich gleichzeitig fragenkönnen, was es bedeuten würde, wenn alleBäume Sensoren hätten.
Oder dass sie ein Modell ihresBaumhauses mit einemCAD­Programm erstellen.
Mir gefällt der Gedanke, Programmieren als Legospiel der Sprache zu betrachten. Man kreiert
etwas aus nichts, schafft immerkompliziertereWelten und Strukturen, ohne auf physischeKompo­
nenten zurückgreifen zu müssen. Die meisten Kinder fühlen sich etwas machtlos in ihrem Leben,
da jemand anderer dieRegeln macht. Dies gilt nicht für das Programmieren – hier sind sieKöni­
ginnen undKönige ihres Universums. Ich wünsche mir, dass Programmieren undTechnologie zu
Werkzeugen in einer grossen Kiste der Selbstentfaltung werden. Seite an Seite mit Malstiften,
Holzbausteinen, Prismen und Pipetten.

Technologie ist ein unglaublichesWerkzeug, aber wie alleWerkzeuge kann
sie effizient oder ineffizient benutzt werden.Technologie alsWerkzeug zur
Verbesserung des Klassenzimmers kann natürlich die schnelleAufnahme
von neuenInformationen und das Inspirieren, Beschäftigen und Motivieren
jungerKöpfe erleichtern – aber sie kann ebenso gut als Beschwichtigungs­
mittel eingesetzt und zu einemreduzierenden Element innerhalb des Lern­
prozesses werden. DieTr ansformation der Bildung wird nicht durchTech­
nologie per se ausgelöst, sondern durch die veränderte Art, wie wir uns mit
Wissenauseinandersetzen und es weitergeben.

Was raten Sie Lehrerinnen
und Lehrern, die
den digitalenWandel
im Klassenzimmer
vora ntreibenwollen,
was sollten sie
unbedingt beachten?

DieTechnologie­Industrie wird von einem bestimmtenPersönlichkeitstypus dominiert. Studien
zeigen, dass Mädchen bereits im Alter von fünfJahren damit beginnen, sich mentale Grenzen zu
setzen. Sie hören auf, daran zu glauben, dass sie alles sein und erreichenkönnen, was sie wollen.
UndJungs denken häufig, dass Codieren nur etwas für Gamer und Mathe­Genies ist.DasWeltbild,
mit dem wir uns als Kind identifizieren, bleibt uns auch im Erwachsenenalter erhalten. Ob wir nun
Französisch lernen, Cheerleaders oder Geschichts­Fans sind.
Lehrer spielen einen wichtigenPart, wenn es darum geht, dasVerhältnis von Kindern zur
Computerwissenschaft zu verändern. Schüler haben dasRecht, sich mit Computern und derWelt
der Codes auseinanderzusetzen. In der Schule lernen wir schliesslich auch Biologie, ohne dass jeder
Schüler später Biologe wird. Desgleichen wird auch nicht jedes Kind, das den Informatikunter­
richt besucht, zum Programmierer. Doch jeder Schüler sollte die Möglichkeit haben, sich mit dem
Programmieren auseinanderzusetzen.

Lehrpersonen müssen sich fragen, welches die effizienteste Methode zur
Wissensvermittlung ist, und sich damit auseinandersetzen, wie junge Men­
schen an die Informationen gelangen, die sie brauchen, um Dinge zu verän­
dern.Wie können Lernerfahrungen kreiert werden, die analoge und digitale
Elemente vereinen und so transformative Lernräume schaffen? Erzieher
sind die Hebammen zukünftigerKöpfe. Sie unterstützen die Prozesse und
Mechanismen, durch welche sich IndividuenWissen aneignen, und führen
sie gleichzeitig zur Anerkennung ihrer eigenenFähigkeiten und ihrerRolle
in derWelt.

Welche Chancen
und Gefahren bringt
die digitaleTransformation
an den Schulen mit sich?

Ich glaube, dass wir viel aus der Geschichte derPädagogik lernenkönnen. Am stärksten haben
mich Loris Malaguzzi und Maria Montessori geprägt, deren Ideen auf die Mitte des 20.Jahrhun­
derts zurückgehen. Ich bin der Überzeugung, dass wir von derVergangenheit lernen müssen, um
die Zukunft zu verstehen. Ein Aspekt, den ich an Malaguzzis Kindergärten in der norditalienischen
Region EmiliaRomagna schätze, sind von Kindern geleitete Projekte, deren Enden völlig offen
sind und die alle möglichenWendungen nehmenkönnen.
Viele meiner bevorzugten Übungen beginnen damit, dass SchülerFragen stellen, die sie inter­
essieren. Beispielsweise«Welche Art von Computer würde ein Delfin­Arzt benötigen?», «Welches
ist das gefährlichsteTier derWelt?» oder«Was würde passieren, wenn mein Printer Süssigkeiten
ausdruckenkönnte?».Während des Erforschungs­ und Experimentier­Prozesses lernen sie, Dinge
zu abstrahieren, zusammenzuarbeiten und eineFülle an starken Ideen zu entwickeln, die ich nie
vorausgesehen hätte. Deshalb umfassen die meisten Übungen Diskussionspunkte stattFragen, die
nur mit richtig oder falsch beantwortet werdenkönnen.Ich denke, es ist wichtig, Kindern die Er­
laubnis zu geben, sich selbst zu vertrauen und viele mögliche Antworten auf eineFrage zuzulassen.

Das Problem ist, dassTechnologie einen signifikanten Einfluss auf die
Gesellschaft und die Umwelt hat.Das Internet ist sehr physisch.Alle
Gadgets, die wir besitzen und die uns miteinander verbinden, sowie
die Server, die den gigantischen Inhalt des Internets speichern, haben
weitreichendeKonsequenzen für das Klima. Deshalb ist die besteFrage,
die man sich aktuell stellen sollte:Wie kann gut platzierteTechnologie
unsere Leben zum Bessern verändern?

Wie können wir
unsere Kinder optimal
auf die Zukunft
vorbereiten und sie
dabei unterstützen?

Im Informatikunterricht in der Primarschule geht es nicht ums Programmieren. Es geht darum, eine
Liebe zum Lernen zu entwickeln und weit anwendbare, langfristige Ideen zu generieren. Eine Art
zu denken, die eine neue Sicht auf dieWelt ermöglicht.Wir sollten Informatik nicht unterrichten,
weil sie nützlich, sondern weil sie interessant und kreativ ist. Computerwissenschaft vermischt das
intellektuelleVergnügen der Logik undVernunft mit dem Praktischen desKonstruktionswesen. Sie
kombiniert die Schönheit derKünste mit demWeltveränderungs­Ethos der Sozialwissenschaften.
Programmier­Leuchten wie Claude Shannon undAda Lovelace vermischten Philosophie, Mathe
und Handwerkskunst, um moderne Computer zu kreieren.Für das Computerwesen der Zukunft
müssen Schüler ihr Interesse am menschlichen Hirn, am Oboe­Spielen oder an der Natur mit der
Computerwissenschaftkombinieren, um sowohl ihrFachgebiet als auch dieWelt weiterzubringen.
Um dieFrage zu beantworten: Ich bin der Meinung, dass es ein guter Anfang ist,Kinder zu kreati­
ven, neugierigen und furchtlosen Menschen heranzuziehen, die viele verschiedene Interessen haben.

Kinder nehmenVeränderungen ziemlich gut wahr. Um sich alsTeil
einerpositiven, nachhaltigen Zukunft zu sehen, brauchen sie Richtlinien.
Das bedeutet, dass noch mehr Erwachsene positiv handeln und zeigen
müssen, dass die ZukunftPotenzial und Möglichkeiten hat, um Dinge anders
zu machen. Es wäre unfair, alle notwendigenVeränderungen, die es braucht,
um globale Probleme zu lösen,auf die modernen Kinder abzuwälzen.
Anders zu denken ist sinnlos, wenn nicht auch wir Dinge verändern!

Wie sieht die Schule
der Zukunft Ihrer
Meinung nach aus?

Idealerweise mehr nach Bibliothek und weniger nach Disneyworld. Sie soll mehrLagerfeuer und
weniger Klassenzimmer sein. Und sie soll mehrFragen und weniger Antworten ins Zentrum stellen.

Die Schule der Zukunft soll rund um Erfahrung, Neugierde, Nachfragen und
natürlich Nachhaltigkeit aufgebaut werden. Bildung ist der eine definierende
Faktor, der die Menschheit kreiert hat, um sich von anderen Spezies abzu­
heben. Dennoch haben wir unser Modell seit hunderten vonJahren nicht
innoviert. Ein pädagogisches Modell, das auf direktem Instruieren und
dem stillen Memorieren vonWissen basiert, fordert jungeKöpfe nicht,
noch stattet es sie mit demWissen aus, das in der Arbeitswelt der Zukunft
gefragt sein wird.
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