Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
von thomas hahn

E


ine Attraktion fehlt heute, obwohl
sie auf einer Säule der Aussichts-
etage im neu eröffneten Hoch-
haus Scramble Square in Tokio-
Shibuya angekündigt ist. „Mt. Fuji“ steht
da in eleganter Schrift vor den Fenstern
nach Westen, darüber eine stilisierte Zeich-
nung des höchsten japanischen Berges, die
allerdings eher an das Porträt eines Schorn-
steins erinnert. Das Original ist im Nebel
verschwunden. Dafür ist etwas anderes zu
sehen, wenn man an die Scheiben heran-
tritt und über die Hochhäuserlandschaft
hinweg zum Horizont schaut. Aus der Wol-
kendecke brechen vier breite Sonnenstrah-
len wie die Lichtsonden eines Raumschiffs
und fallen auf die Stadt. Es ist ein Schau-
spiel von mystischer Schönheit, Zauberei
fast, und leise freut man sich darüber, dass
es in dieser zugebauten Landschaft der Rie-
senmetropole Tokio ausnahmsweise mal
ein Naturereignis zu erleben gibt.


Shibuya, der lärmend lichternde Kno-
tenpunkt des Tokioter Geschäfts- und Kon-
sumalltags, befindet sich gerade im Um-
bau. Rund um den Bahnhof, der zu den
geschäftigsten Japans gehört, sind mehre-
re Baustellen in Betrieb, um aus dem alten,
berühmten Business-Distrikt bis 2027 ei-
nen moderneren, noch berühmteren Busi-
ness-Distrikt zu machen. Im Rahmen die-
ses Umbaus haben drei Investoren an der
Stelle des früheren Planetariums das be-
sagte Hochhaus Scramble Square errich-
ten lassen, das mit seinen 230 Metern zu
den höchsten im Land gehört. Am 1. No-
vember wurde es eröffnet und natürlich ge-
feiert als Symbol für das hippe, kosmopoli-
tische Shibuya der Zukunft.
Zu viel kulturelle Tiefe darf man in das
hohe Haus allerdings nicht hineininterpre-
tieren. Im Grunde handelt es sich dabei
nämlich schlicht um das nächste etwas grö-
ßere Einkaufszentrum. Seine kastenförmi-
ge Architektur wirkt eher zweckmäßig als
kühn. Zwischen Stockwerk 17 und 45 ver-


teilen sich 73000 Quadratmeter Büroflä-
che, die den Scramble Square zum größten
Bürogebäude Shibuyas machen. Ein Ge-
winn ist der Wolkenkratzer trotzdem für
das Viertel. Erstens, weil jede Baustelle we-
niger das Chaos im Stadtteil etwas lichtet.
Zweitens, weil das Gebäude eine neue
Chance mit sich bringt, über den Dächern
Tokios ein bisschen Ruhe zu finden.
Die Idee, eine schöne Aussicht zu ver-
kaufen, ist vermutlich so alt wie die Erfin-
dung des Wolkenkratzers selbst. Auch in
Tokio gibt es schon verschiedene Möglich-
keiten, sich in die Höhe zurückzuziehen.
Denn die Flucht nach oben entschleunigt,
tröstet und weitet den Blick. Aus der Vogel-
perspektive sieht die Welt immer freundli-
cher und friedlicher aus. Eine Fahrt im
Aufzug kann für die ganze Hektik entschä-
digen, der man sich im urbanen Gelände
aussetzen muss. Shibuya Sky – so heißt die
Aussichtsplattform – soll den Scramble
Square zur einträglichen Touristenattrakti-
on machen. Die Preise sind entsprechend
gesalzen, 1800 Yen (15 Euro) für Erwachse-
ne bei Online-Vorbestellung, 2000 (16,50)
an der Tageskasse. Und oben gibt es natür-
lich alles, was den Touristen noch mehr
Geld aus der Tasche ziehen soll: Souvenirla-
den, Spaßfoto-Shop, Gastronomie. Trotz-
dem: Gerade Shibuya hat so einen Ort ge-
braucht, der 47 Stockwerke über dem lau-
ten, erschöpfenden Stadtleben liegt.
Shibuya fasziniert und stresst. Der
Stadtteil steht für alles, was Tokio toll und
anstrengend macht. Er ist ein bunter
Treffpunkt, an dem man einen Eindruck
von der Vielfalt der japanischen Gesell-
schaft bekommen kann mit extravaganten
Jugendlichen, Businessmenschen, Künst-
lern und Touristen, die hier alle über die rie-
sige Kreuzung am Bahnhof laufen. Mitten-
drin steht das Denkmal des treuen Hundes
Hachikō (1923 bis 1935), der berühmt wur-
de, weil er nach dem Tod seines Herrchens,
des Agrarwissenschaftlers Hidesaburō Ue-
no, weiter jeden Tag zum Bahnhof zurück-
kehrte, um auf Ueno zu warten.
Und drumherum gewittern die Leucht-
reklamen, klingeln die Kassen, rauscht der
Verkehr, herrscht auf den Bürgersteigen
ein episches Gedränge. Wenn man mitten-
drin steckt in diesem Durcheinander, wür-
de man sich manchmal am liebsten woan-

dershin beamen können. Aber in 230 Me-
tern Höhe wird der Irrsinn auf einmal ganz
leise. Vom 14. Stock geht der Aufzug Rich-
tung Wolken. Eine Animation in der Decke
vermittelt den Eindruck, als gleite man
durch einen Schacht in eine andere Dimen-
sion des Universums. Im 46. Stock kann
man erst einmal eine Runde an den Panora-
mafenstern entlang drehen, einen Kaffee
mit Blick über das Häusermeer nehmen
oder gleich mit der Rolltreppe aufs Dach
fahren. Das Personal bittet die Besucher,
Taschen und andere Gegenstände ins
Schließfach zu sperren, damit kein Wind-
stoß sie fortträgt. Draußen ist dann auf ein-
mal ein Frieden da, den es unten nicht gibt.

Die Kreuzung am Bahnhof sieht so klein
aus, dass man sie kaum erkennt. Ameisen-
straßen ziehen durch die Häuserschluch-
ten. Lautlos gleiten Autos und Züge auf
ihren Bahnen. Man blickt auf andere Hoch-
häuser herab, auf die Bäume des Yoyogi-
Parks, auf das neue Olympiastadion. Und
die Menschen sind sichtlich froh, dass sie
diese Höhenluft atmen. Sie ruhen sich auf
dem Kunstrasen des Helikopterlandeplat-
zes aus. Lassen sich auf Sitzgelegenheiten
nieder, um vor dem Panorama zu verwei-
len. Und sie posieren für Fotos vor der zer-
klüfteten Kunstlandschaft aus Stahl und
Beton, die sich in alle Himmelsrichtungen
scheinbar endlos zum Horizont hin er-
streckt. An der Ecke bei der Rolltreppe ste-
hen die Leute sogar an, um sich an dieser
besonders attraktiven Stelle ablichten zu
lassen. So möchten sie sich offensichtlich
später sehen: als Menschen im Himmel,
umgeben von Wolken, am Geländer über
allen Dächern lehnend.
Das Dach des Scramble Square fühlt
sich an wie ein sicherer Grund. Man will
gar nicht mehr runter. Aber unten wartet
die Pflicht. Einmal noch in die Ferne ge-
schaut, in der irgendwo der erhabene Berg
Fuji ruhen muss. Dann geht es zurück in
den Lärm, auf den Boden der Tatsachen.

Informationen: shibuya-scramble-square.com/sky

In den Städten verändert sich der Touris-
mus merklich.Zwar verlieren die Sehens-
würdigkeiten nicht an Attraktivität, wer
in Barcelona ist, schaut sich die Gaudí-
Architektur an, und wer Rom bereist,
lässt das Kolosseum nicht aus. Zuneh-
mend ist es Touristen jedoch vor allem
wichtig, dass sie besondere Erlebnisse
haben während der paar Tage in einer
fremden Stadt. Darauf reagiert nun der
Michael Müller Verlag mit einer neuen
Reiseführerreihe.
Acht dieser „Stadtabenteuer“ gibt es
zum Auftakt zu sieben europäischen
Zielen, darunter zwei deutschen – Berlin
und Hamburg –, hinzu kommt New
York. Standards der klassischen Besichti-
gungsprogramme rücken in den Hinter-
grund, sie werden verräumt entweder in
der Rubrik „Wenn man schon mal hier
ist“ oder tauchen am Ende der nach

Stadtvierteln sortierten Kapitel auf, wo
sich auch Tipps zum Essen, Übernach-
ten, Ausgehen und Shoppen finden.
Auch diese Empfehlungen sind ziemlich
reduziert: Ein teures und ein günstiges
Hotel werden jeweils vorgestellt, dazu
vier Restaurants, zwei Läden sowie zwei
Adressen für vergnügliche Abende.
Die „Stadtabenteuer“ wenden sich an
Urlauber, die selbst aktiv sein wollen
und sich zudem für Angebote interessie-
ren, die nicht allein für Touristen erson-
nen wurden oder, wenn es sich doch um
Führungen und Besichtigungen han-
delt, einen ungewöhnlichen Ansatz ha-
ben. In Berlin empfiehlt sich diesbezüg-
lich eine Tour durch ehemalige Geister-
bahnhöfe und Fluchttunnel, in Wien ei-
ne zu hässlichen Orten der Stadt und in
New York eine mit einem Guide, der von
9/ 11 betroffen ist.
Auffallend ist, dass sich der „Meet the
locals“-Trend lediglich vereinzelt nieder-
schlägt in diesen Reiseführern. Entwe-
der flaut er bereits wieder ab, oder aber
die „Stadtabenteuer“ wollen zumindest
selbst keinen Vorschub leisten in diesem
heiklen Punkt: Die Konflikte, die sich
aus dem Overtourismus ergeben, grün-
den schließlich nicht nur auf der schie-
ren Zahl der Besucher, sondern auch auf
dem Umstand, dass Touristen sich zu-
letzt verstärkt in den Alltag der Bewoh-
ner hineingedrängelt haben.
Auf Trabi-Safari in Berlin, im Tret-
boot auf Amsterdams Grachten und
beim Bemalen von Azulejos in Lissabon
bleiben die Touristen weitgehend unter
sich. Unter die Bewohner mischen sie
sich, wenn sie etwa in Wien eines der
zahlreichen Konzerte der Band5/8erl in
Ehr’nanhören, an einer Führung durch
die besten Kantinen und Mensen der
Stadt teilnehmen oder einen Wiener-
Walzer-Blitztanzkurs machen – die
Gefahr, den Alltag der Einheimischen zu
kapern, ist dabei eher gering.
Die Autoren, die mit unterschiedlich
viel Charme und Witz berichten, haben
alles selbst ausprobiert, einen Baseflight
am Alexanderplatz in Berlin eingeschlos-
sen, bei dem man über eine Seilwinde
nahezu im freien Fall nach unten stürzt.
Leser erfahren, wo in Hamburg man mit
ein wenig Chuzpe Paternoster fahren
kann und wie man in Berlin als Radfah-
rer die Straßen der Stadt erobert. Erfri-
schend ist, dass nichts davon als Geheim-
tipp verkauft wird. stefan fischer

Matthias Kröner (Hrsg.): Stadtabenteuer. Bisher
erschienen sind die BändeAmsterdam(von
Diana Stănescu),Berlin(von Michael Bussmann
und Gabriele Tröger),Hamburg(von Matthias
Kröner),Lissabon(von Johannes Beck),New
York(von Dorothea Martin),Prag(von Renate
Zöller),Rom(von Sabine Becht und Sven Tala-
ron) undWien(von Judith Weibrecht). Michael
Müller Verlag, Erlangen 2019. Jeweils 240 Sei-
ten, 14,90 Euro.

Dem Irrsinn


entrückt


Tokiohat ein neues Hochhaus.


Von dort aus kann man auf das Gewusel


der Shibuya-Kreuzung blicken.


Und Ruhe finden


Shibuya-Sky heißt die Plattform im 47. Stock des neuen Hochhauses. Oben gibt es Souvenirs, einen Spaßfoto-Shop, Gastronomie – alles, was für Touristen verlockend ist. FOTO: DPA


Sogar bei der Rolltreppe
stehen dieLeute an, um sich
hier ablichten zu lassen

Shibuya liegt im geschäftigen


Business-Distrikt, der jetzt


noch berühmter werden soll


Selbst ist


der Tourist


Die neue Städtereiseführer-Reihe
des Michael Müller Verlags

Shibuya fasziniert und stresst: Auf der belebtesten Kreuzung Tokios drängen sich
zu jederTageszeit die Menschen. Von der Aussichtsplattform rund 200 Meter dar-
über wirkt es jedoch friedlich. FOTO: JOSE FUSTE RAGA / MAURITIUS IMAGES

REISEBUCH


36 REISE Donnerstag, 14. November 2019, Nr. 263 DEFGH


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