Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
Tel Aviv– Im Konflikt zwischen der im Ga-
zastreifen agierenden Gruppe Islamischer
Dschihad und Israel bemühten sich am
Mittwoch Ägypten und die UN, einen Waf-
fenstillstand zu erreichen. Bis zum frühen
Nachmittag hatte sich die im Gazastreifen
regierende Hamas nicht an den Raketen-
angriffen beteiligt, womit eine größere
Eskalation vermieden wurde. Auch die isra-
elische Armee hatte bei anderen Gelegen-
heiten heftiger auf Raketenhagel aus dem
Gazastreifen reagiert. Allerdings drohte
die Hamas, ihre Rückhaltung aufzugeben,
sollte die israelische Armee weiter Ziele im
Gazastreifen bombardieren. Die israeli-
sche Armee wiederum verwies auf die an-
haltenden Angriffe aus dem Gazastreifen,
auf die sie reagiere.
So drehte sich die Eskalationsspirale
weiter: Nach einer ruhigen Nacht begann
am Mittwoch mit Tagesanbruch wieder
der Raketenhagel. Nicht nur in den israeli-
schen Orten rund um den Gazastreifen gab
es Alarm. Auch in Latrun – einem Ort zwi-
schen Jerusalem und Tel Aviv – waren Ex-
plosionen zu hören, ausgelöst durch das Ra-
ketenabwehrsystemIron Dome(Eisenkup-
pel). Bis zum späten Mittwochnachmittag
zählte die israelische Armee 360 Raketen.

Vorsorglich blieben den zweiten Tag in Fol-
ge Schulen rund um den Gazastreifen und
im Zentralraum Israel geschlossen. Auch
im Gazastreifen gab es keinen Unterricht.
Die israelische Armee konzentrierte
sich bei ihren Angriffen laut eigenen Anga-
ben auf Aktivisten des Islamischen Dschi-
had im Gazastreifen. Nach palästinensi-
schen Angaben wurden auch drei Kinder
getötet, die Zahl der Toten stieg demnach
bis Mittwochnachmittag auf insgesamt
24, ein Teil von ihnen wurde als Mitglieder
der Al-Quds-Brigaden identifiziert, des mi-
litärischen Arms des Islamischen Dschi-
had. 69 Menschen wurden nach Angaben
des palästinensischen Gesundheitsminis-
teriums verletzt. Auch in den israelischen
Orten entlang des Gazastreifens gab es
rund zwei Dutzend Verletzte.
Auslöser der jüngsten Gewaltwelle war
in der Nacht zum Dienstag die gezielte Tö-
tung des Kommandanten des Islamischen
Dschihad, Baha Abu al-Ata, eine gemeinsa-
me Aktion des israelischen Geheimdiens-
tes und der Armee. Dem Vernehmen nach
sollen die Ägypter in den vergangenen
Wochen versucht haben, den Islamischen
Dschihad und explizit al-Ata davon abzu-
bringen, mit dem Abschuss einzelner Rake-
ten den seit Mai geltenden Waffenstill-
stand zu untergraben. Als Geste des guten
Willens soll Ägypten auch inhaftierte
Kämpfer des Islamischen Dschihad freige-
lassen haben. Mit seinen Aktionen griff der
Islamische Dschihad auch die regierende
Hamas an und untergrub ihre Autorität. Sei-
ne von Iran unterstützten Kämpfer bilden
die zweitgrößte Gruppe im Gazastreifen.
Für die jüngste Welle von Raketenangrif-
fen übernahm auch eine kleinere Gruppe,
die Mudschaheddin, die Verantwortung.
Nach Einschätzung israelischer Militärex-
perten verfügen Hamas und Islamischer
Dschihad über rund 20000 Raketen.
Die israelische Armee, die bisher stets
die Hamas für jegliche Raketenangriffe ver-
antwortlich machte, nahm diesmal die im
Gazastreifen regierende Gruppe expliziert
von der Verantwortung aus und appellierte
an sie, weiter Zurückhaltung zu wahren.
Auch in Israel wird die Hamas inzwischen
als das kleinere Übel angesehen ange-
sichts weitaus radikalerer Gruppen, die
sich nicht an getroffene Vereinbarungen
halten. alexandra föderl-schmid

Peking– Es ist schwer, noch den Über-
blick zu behalten am Mittwochabend in
Hongkong: Molotowcocktails, die in den
Cross-Harbour-Tunnel geworfen werden,
der Hongkong Island mit Kowloon ver-
bindet. Scharmützel zwischen der Polizei
und vermummten Demonstranten auf der
Nathan Road. Ausschreitungen in Mong
Kok. Tränengas in Sheung Shui, Feuer am
Gerichtsgebäude in Sha Tin. Und auch auf
dem Campus der Chinese University ver-
sammeln sich wieder Demonstranten und
bauen Barrikaden.
Hongkong erlebt die gewaltsamsten Ta-
ge seit Beginn der regierungskritischen
Proteste vor mehr als fünf Monaten. Schon
am Morgen musste der Betrieb in zahl-
reichen U-Bahn-Stationen der Finanzme-
tropole eingestellt werden, weil Demons-
tranten im Berufsverkehr die Züge an der
Weiterfahrt hinderten. Auch Straßenkreu-
zungen wurden von den Protestierenden
blockiert. Die Behinderungen sorgten da-
für, dass viele Menschen zu spät zur Arbeit
kamen.

Mindestens 80 Studenten aus China ver-
ließen am Mittwoch die ehemalige briti-
sche Kronkolonie, weil sie fürchteten, ins
Visier der Demonstranten zu geraten. Viele
von ihnen wurden mit einem Schiff evaku-
iert und in die Grenzstadt Shenzhen ge-
bracht, weil etliche Straßen in Hongkong
blockiert waren. Die Behörden in China
stellten ihnen kostenlose Unterkünfte zur
Verfügung.
Auch eine dänische Universität legte ih-
ren für Auslandssemester in Hongkong
lebenden Studenten die Rückreise nach Dä-
nemark nahe. Die Hochschule habe sich zu
dem Aufruf entschlossen, nachdem sie Be-
richte gesehen habe, wonach Studierende
ihre Wohnheime verlassen mussten, weil
diese in Brand gesetzt worden seien, sagte
der Rektor der Technischen Universität Dä-
nemarks am Mittwoch. Es handele sich um
eine Empfehlung für die 36 Gaststudenten
in Hongkong, keine Zwangsmaßnahme.
Am Dienstag war der Campus der Chine-
se University zur Kampfzone geworden.

Die Ausschreitungen dauerten bis zum
späten Abend an. Studenten errichteten
Barrikaden und warfen Brandsätze. Die
Polizei feuerte Gummigeschosse und
Tränengas. Auch ein Wasserwerfer wurde
gegen die Studenten eingesetzt.
Wie die Behörden am Mittwoch mit-
teilten, nahm die Polizei auf dem Campus
insgesamt 142 Demonstranten fest. Zehn
Menschen wurden mit Verletzungen in
Krankenhäuser gebracht. Am Abend kün-
digte die Hochschule dann an, Vorlesun-
gen und Seminare für den Rest des Semes-
ters, das planmäßig in zwei Wochen enden
sollte, auszusetzen. Andere Universitäten
in Hongkong stellten den Lehrbetrieb zu-
mindest bis zum Ende der Woche ein und
wollen Lehrveranstaltungen durch Online-
Vorlesungen ersetzen.
Im Internet kursierten unterdessen Auf-
rufe, mit anhaltenden Blockaden an Ar-
beitstagen die Stadt zum Erliegen zu brin-
gen und so den Druck auf die Regierung
weiter zu erhöhen. Zuvor hatten sich die
Proteste vor allem auf die Wochenenden
konzentriert.
Die Demonstrationen in der chinesi-
schen Sonderverwaltungsregion richten
sich gegen die Hongkonger Regierung.
Anfangs ging es um ein umstrittenenden
Gesetz, das Auslieferungen in die Volksre-
publik China ermöglicht hätte. Inzwischen
hat die Regierung das Gesetz zwar kas-
siert, der Protest der Hongkonger hat sich
jedoch ausgeweitet, und zielt nun gegen
den wachsenden Einfluss Chinas auf die
ehemalige Kronkolonie.
Seit der Übergabe an China 1997 wird
Hongkong nach dem Grundsatz „ein Land,
zwei Systeme“ autonom regiert. Die De-
monstranten fordern freie Wahlen, eine
unabhängige Untersuchung von Polizei-
gewalt während der vergangenen Monate
sowie Straffreiheit für die bereits weit
mehr als 4000 Festgenommenen. Auch
der Rücktritt von Regierungschefin Carrie
Lam gehört zu ihren formulierten Zielen.
Peking forderte wiederum die Hong-
konger Regierung dazu auf, härter durch-
zugreifen und die Proteste zu beenden. Die
Stadt sei dabei, „in den Abgrund des Terro-
rismus zu rutschen“, hieß es in einer Mit-
teilung des Verbindungsbüro der chinesi-
schen Regierung in Hongkong.
christoph giesen

München– Alserstes Land in der EU füh-
ren die Niederlande Tempo 100 auf allen
Autobahnen ein. Ministerpräsident Mark
Rutte nannte die Entscheidung am Mitt-
woch „beschissen“, aber unumgänglich,
um den Ausstoß von Stickstoffoxid zu sen-
ken und gleichzeitig den Wohnungsbau
und die damit verbundenen Arbeitsplätze
zu retten. „Ich bin unglaublich enttäuscht,
aber sonst wären die Menschen an Weih-
nachten arbeitslos gewesen. Dann hätte
ich mich nicht mehr im Spiegel anschauen
können“, sagte Rutte.
Ab wann die Geschwindigkeitsbegren-
zung gelten soll, wird im Dezember festge-
legt. Ausnahmen soll es zwischen 19Uhr
und sechs Uhr morgens geben, aber nur
auf Autobahnabschnitten, auf denen der-
zeit 130 Stundenkilometer erlaubt sind.
Der Beschluss ist ein neuer Höhepunkt
der „Stickstoffkrise“, in der sich die Nieder-
lande seit Mai befinden. Damals erklärte
der „Raad van State“, das oberste Verwal-
tungsgericht, den nationalen Mechanis-
mus zur Eindämmung des Stickstoffoxid-
Ausstoßes für ungültig. Er erfülle nicht das
Ziel: die Einhaltung der Grenzwerte, wel-
che die europäische Naturschutz-Richtli-
nie setzt. Im Wesentlichen werden dabei Li-
zenzen vergeben für Tätigkeiten, die Stick-
stoffoxid freisetzen. Das betrifft beson-
ders die Landwirtschaft, und hier vor al-
lem Viehhaltung, bei der viel Dung ent-
steht, aber auch den Wohnungs- und Stra-
ßenbau. Infolge des Richterspruchs wur-
den Tausende Bauvorhaben gestoppt.
Die Politik versucht seither vergeblich,
eine Lösung zu finden, mit der sie die
Grenzwerte einhält und gleichzeitig keine
Interessengruppe zu sehr vor den Kopf
stößt. Naheliegend wäre eine Neuausrich-
tung der Landwirtschaft samt Dezimie-
rung des Viehbestands, was die Bauern mit
teilweise gewalttätigen Protesten zurück-
wiesen. Ähnlich massiv demonstrierte der
Bausektor. Zudem will die Regierung, dass
2020 mindestens 75 000 Wohnungen ge-
baut werden. Stattdessen trifft es nun also
die Autofahrer. Ruttes rechtsliberale VVD,
die als „Autopartei“ gilt, wird das Wähler-
stimmen kosten. Angeblich wird der Stick-
stoff-Ausstoß durch das Tempolimit um
0,3 Prozent gesenkt. Das sei wenig, aber
„genug, um den Wohnungsbau vorläufig
zu retten“, sagte ein Experte im öffentli-
chen Rundfunk. thomas kirchner

Israelische Polizisten inspizieren Trüm-
mer einer Rakete. FOTO: TSAFRIR ABAYOV/AP

Gewalt in Hongkong


Tränengas und Molotowcocktails: Die Proteste eskalieren


von arne perras

Negombo– Nur die dumpfen Schritte der
Soldaten hallen am Morgen durch die Kir-
che. Die beiden Männer in Kampfanzügen
tragen klobige Stiefel, alle anderen, die auf
den neu gezimmerten Bänken sitzen und
in aller Stille beten, sind barfuß.
Die Männer der srilankischen Luftwaffe
patrouillieren im reparierten Gotteshaus.
Vorne am Altar bleiben sie stehen,
betrachten die Figur, die auf einem Podest
steht. Es ist Jesus, in weißem Gewand. Er
blickt in den Himmel. Die Statue ist durch-
löchert von Splittern, auf dem Körper klebt
noch Blut. Die Priester haben sich entschie-
den, sie so zu belassen, wie sie nach der
Explosion am 21. April gefunden wurde.
Gezeichnet vom Terror steht die Figur nun
vorm Altar, im Gedenken an die Opfer, die
an Ostern in der Kirche ihr Leben ließen.
St. Sebastian in Negombo, 200Tage
nach der Tat: Die Patrouille blickt abwech-
selnd auf Jesus und dann wieder auf die
Besucher. Jeder von ihnen wurde draußen
schon durchgecheckt. Durch die zweite
Tür links trat damals der Attentäter, ein
Mann mit Baseballkappe und Rucksack.
Draußen hatte er noch einem Mädchen
den Kopf getätschelt, wie Sicherheitskame-
ras dann zeigten. Wenig später sprengte er
sich in die Luft. Inzwischen ist alles repa-
riert oder ersetzt: Dach, Wände, Fenster
aus buntem Glas. Drei Monate lang waren
Soldaten als Bauarbeiter im Einsatz.

Der Terror an Ostern forderte 259 Todes-
opfer, islamistische Extremisten attackier-
ten Kirchen und Hotels, allein in St. Sebasti-
an starben 115 Menschen. Sicherheitsappa-
rat und Regierung hatten auf ganzer Linie
versagt, es gab schon Tage zuvor konkrete
Warnungen, aber niemand nahm sie ernst.
Vom Terror, aber auch vom Staatsversagen
hat sich Sri Lanka noch nicht erholt. Die
Taten haben Angst gesät und Misstrauen
geschürt zwischen den religiösen Gruppen
im Land, das mehrheitlich von Buddhisten
bevölkert ist. Zu spüren ist nun überall
eine breite Sehnsucht nach dem starken
Mann. Viele wollen einen Politiker an ihrer
Spitze sehen, der als Wächter taugt; einen,
der sie schützt, wenn es darauf ankommt.
In Zeiten der Verunsicherung sind die
Bürger nun am 16. November aufgerufen,
ihren Präsidenten neu zu wählen. Und es
gibt einen Mann, dem dieses Klima beson-
deren Auftrieb verschafft: Gotabaya Raja-
paksa. Der 70-Jährige gehört zur reichsten
Politikerfamilie im Land und war einmal
Verteidigungsminister. Mehr noch: Gota-
baya hat unter der Präsidentschaft seines
Bruders Mahinda 2009 den zähen Bürger-
krieg gegen die separatistischen „Tamil
Tigers“ gewonnen. So fällt es ihm nicht
schwer, sich zumindest der singhalesi-
schen Mehrheit als Beschützer zu empfeh-
len. Gut möglich, dass ihm das schon zum
Sieg reichen wird.

Um Rajapaksa im Wahlkampf zu erle-
ben, fährt man von Negombo hinauf ins
Bergland, nach drei Stunden leuchtet eine
große Buddhastatue aus dem Wald, um-
ringt von Betenden. Von hier ist es nicht
weit bis Kandy, einem der heiligsten Orte
für das Mehrheitsvolk der Singhalesen.
„Rajapaksa hat seinen Wahlkampf ganz
auf die Mobilisierung der singhalesischen
Mehrheit zugeschnitten“, sagt der Politolo-
ge Paikiasothy Raravanmuttu vom Centre
for Policy Alternatives. Es gebe Parallelen
zur Strategie Narendra Modis in Indien,
der als Hindu-Nationalist erfolgreich die re-
ligiöse Mehrheit seines Landes umworben
hat, die Minderheiten aber entfremdet.
Später Nachmittag im Ort Gelioya: Es
blitzt, knattert und kracht. Qualm steigt
auf. Ein kleiner Junge klammert sich ans
Bein seines Vaters, aber der beschwichtigt.
Es ist ja keine Bombe, sondern Feuerwerk
für den Kandidaten. Wer eine feurige Rede
von Rajapaksa erwartet hat, wird ent-
täuscht. Dieser Mann ist kein Charismati-
ker wie sein Bruder Mahinda. Gotabaya
wirkt sehr nüchtern, er hat keine mitrei-
ßende Stimme, er macht auch keine Witze,
um die Leute bei Laune zu halten. Dieser
Mann variiert nur immer wieder eine dop-
pelte Botschaft: „Vertraut mir, ich werde Si-
cherheit schaffen und das Land wieder vor-
anbringen“, sagt er. Alle hätten erlebt, wie
die jetzige Regierung versagt habe.

Seit dem Sieg gegen die tamilischen Re-
bellen gelten die Brüder Mahinda und Go-
tabaya in der singhalesischen Mehrheit als
Nationalhelden, Tamilen allerdings begeg-
nen ihnen mit großem Misstrauen. „Die
Rajapaksas reden nicht von Versöhnung“,
sagt der Analyst Paikiasothy. Und sie weh-
ren sich gegen alle Versuche, Untersuchun-
gen über mögliche Kriegsverbrechen wäh-
rend des langen Konflikts anzustrengen.
Trotz des Heldenmythos verlor der Raja-
paksa-Clan bei Wahlen 2015 seine Macht,
Korruptionsvorwürfe waren ans Licht ge-
kommen, und viele hatten den Nepotis-
mus satt, den die Rajapaksas auf die Spitze
trieben. Es gab damals Hoffnung, dass ei-
ne neue Regierung den Kampf gegen die
Günstlingswirtschaft vorantreiben könn-
te. Doch Präsident Maithripala Sirisena,
der Rajapaksa ablöste, hat enttäuscht. An-
statt Reformen voranzutreiben, lieferte er
sich Machtkämpfe mit dem Premier. Und
dann kamen die islamistischen Anschläge,
die den Staat als ohnmächtig vorführten.
Das alles spielt dem Rajapaksa-Clan in
die Hände. Mahinda, der von 2005 bis 2015
Präsident war, darf das höchste Amt laut
Verfassung nicht noch einmal einnehmen.
Aber wenn sein Bruder das Rennen macht,
könnte das Mahinda den Weg ebnen, nach
Parlamentswahlen im Frühjahr Premier
zu werden. Dann wären die Rajapaksas in
doppelter Stärke zurück.

Als der Clan regierte, baute er ein Wirt-
schaftsimperium auf und etablierte auto-
kratische Verhältnisse, die sich immer wei-
ter vom Rechtsstaat entfernten. Politische
Gegner und Journalisten lebten gefähr-
lich. Viele wurden verfolgt, manche ermor-
det, Verbrechen blieben ungesühnt. Die
Rajapaksas beteuern, sie hätten mit Men-
schenrechtsverletzungen nichts zu tun.
Nur einer kann die Rückkehr des Clans
noch gefährden: Sajith Premadasa. Als
Sohn eines Präsidenten, der von einem ta-
milischen Selbstmordattentäter ermordet
wurde, genießt der 52-Jährige breiten Re-
spekt. Er führt einen engagierten Wahl-
kampf, obgleich er viel weniger Geld hat
als seine Gegner. Er punktet unter gemä-
ßigten Kräften der singhalesischen Mehr-
heit, genießt Sympathien unter Armen
und kann darauf zählen, dass die tamili-
sche Minderheit und viele Muslime für ihn
stimmen. Ob das für Premadasa reicht? Be-
lastbare Prognosen fehlen, das Rennen in
Colombo gilt unter Analysten als knapp.
Im Westen und in Indien provoziert der
Gedanke an eine Rückkehr der Rajapaksas
Unbehagen. Mahinda öffnete als Präsident
die Türen für China, Peking kam mit Milli-
arden und erkaufte sich großen Einfluss.
Sri Lanka kämpft bis heute damit, seine
Schulden zurückzuzahlen. Allerdings weiß
niemand, wie sich Premadasa geopolitisch
positionieren will. Bei einer Fragerunde

war ihm nicht zu entlocken, wo er sein
Land im Kraftfeld zwischen Peking, Delhi
und Washington verortet.
In Negombo, nördlich der Hauptstadt,
macht sich Sakuni Anuththara Kaluarach-
chi ihre eigenen Gedanken zur Wahl. Sie ist
19, Studentin, und wer sie fragt, welchen
der beiden führenden Kandidaten sie be-
vorzugt, antwortet sie: „Keinen.“ Politiker
in ihrem Land hätten bislang nur bewie-
sen, dass sie für sich selber arbeiteten.
Viele junge Leute blicken ratlos, manch-
mal frustriert auf ihre Politiker, denn die
schaffen nicht genug Jobs für die Jugend.
Schon vor dem Terror war das Wachstum
lau, seit den Attacken leidet der Touris-
mus, was man auch am recht leeren Strand
von Negombo sieht, nur wenige Hundert
Meter von St. Sebastian entfernt.
In den Alltag hat sich diffuses Miss-
trauen eingeschlichen, das spürt Sakuni
vor allem im Umgang mit muslimischen
Freunden. Sie seien nicht radikal, „aber
dennoch kann ich mit ihnen nicht über das
hier sprechen“, sagt sie und deutet hinüber
auf die Kirche, die ein Extremist im Namen
des IS vor sieben Monaten zerbombte. Sa-
kuni ist Buddhistin, gerade eben saß sie
noch drinnen in St. Sebastian und hielt die
Hand einer guten Freundin, die zur christli-
chen Gemeinde gehört. „Wir haben beide
viele Freunde hier verloren“, sagt Sakuni.
„Und wir haben sie nicht vergessen.“

Buenos Aires –Es war eine schwere, leder-
gebundene Bibel, die Boliviens Übergangs-
präsidentin am Dienstag in den Palacio
Quemado trug. Das altehrwürdige Gebäu-
de war über Jahrzehnte Sitz der boliviani-
schen Regierungen. 2018 zogen Präsident,
Vizepräsident und Ministerien jedoch in
einen Neubau um, nur ein paar Schritte
entfernt, aber 120 Meter hoch und glasver-
spiegelt. In Auftrag gegeben hatte ihn Evo
Morales, nunmehr Boliviens Ex-Präsident.
Die Opposition kritisierte schon damals
die angebliche Geldverschwendung, ge-
nauso wie politische Gegner auch immer
wieder verurteilten, dass Boliviens erster
indigener Präsident die Bibel aus dem
Regierungssitz verbannt hatte. Damit ist
es nun vorbei. Morales ist im Exil in Mexi-
ko, und im ehemaligen Regierungssitz
liegt wieder eine Bibel. Boliviens neue Prä-
sidentin Jeanine Áñez hat sie als eine ihrer
ersten Amtshandlungen eigenhändig in
das Gebäude getragen. „Wir bringen die Bi-
bel zurück in den Palast“, sagte sie unter
dem Applaus ihrer Anhänger.
Es sind chaotische Zeiten in Bolivien,
und alte Gräben brechen mit aller Macht
weiter auf. Nach wochenlangen Protesten
und auf Druck des Militärs hatte Evo Mora-
les am Sonntag seinen Rücktritt erklärt.
Fast 14 Jahre waren er und seine Partei Mo-
vimiento al Socialismo (Mas) zuvor an der
Macht gewesen. In dieser Zeit hat Bolivien
einen Wirtschaftsboom erlebt, Millionen
Menschen stiegen aus der Armut auf, und
das Land wurde offiziell zu einem „Plurina-
tionalen Staat“, der den indigenen Minder-
heiten ihren Platz einräumen sollte: Mora-
les selbst entstammte einer Aymara-Fami-
lie, als Präsident erklärte er das indigene
Fest zur Rückkehr von Vater Sonne zum of-
fiziellen Feiertag, und die Fahne der traditi-
onellen Andengemeinschaften wurde mit
der Nationalflagge gleichgestellt. Morales
erschien gerne in traditioneller Kleidung,
und statt auf Jesus berief er sich auf Pacha-
mama, die Mutter Erde.
Lange bescherte ihm das Zustimmungs-
raten von weit mehr als 60 Prozent. Mehr
als die Hälfte der Bevölkerung Boliviens
hat indigene Wurzeln, viele von ihnen stan-
den lange Zeit hinter Morales. Doch dann
beugte dieser per Richterspruch erst die
Verfassung, dann kam es im Oktober zu Un-
regelmäßigkeiten bei den Präsident-
schaftswahlen. Massenproteste brachen
aus, Morales musste das Land verlassen,
und mit ihm zog sich auch gleich eine gan-
ze Reihe weiterer Politiker von ihren Äm-
tern zurück. Darunter der Vize-Präsident,
die Senatspräsidentin und der Vorsitzende
in der Abgeordnetenkammer. Als Morales
am Montag ein Flugzeug Richtung Mexiko
bestieg, hinterließ er ein Machtvakuum.
Doch dieses ist nun gefüllt, wie es scheint.


Mit Jeanine Áñez hat nun die vormalige
zweite Vizepräsidentin des Senats das Amt
des Staatsoberhauptes übernommen. Im
Prinzip entspricht das der Verfassung,
allerdings fehle ihr das nötige Quorum in
den Kammern, kritisiert Morales’ Partei
Mas. Dazu gibt es aber noch weitere Kritik
an ihrer Person: Áñez ist Juristin und ehe-
malige Fernsehmoderatorin. Sie stammt
aus Beni, einer Provinz im Tiefland Bolivi-
ens, die sich traditionell in Opposition zum
Hochland sieht. Hier leben vor allem Nach-
fahren europäischer Einwanderer, die Kul-
tur ist christlich geprägt. Kritiker fürchten
nun, dass mit Áñez auch die einst omniprä-
sente Diskriminierung der Indigenen in
die bolivianische Politik zurückkehrt. Im
Netz wurden dafür Twitternachrichten der
neuen Übergangspräsidentin als Beweis
herangeführt. In ihnen äußert sich Áñez
despektierlich über indigene Kultur und
traditionelle Glaubensformen.
Das bolivianische Verfassungsgericht
hat Áñez mittlerweile anerkannt, genauso
wie die USA und Nachbar Brasilien. Andere
lateinamerikanischen Staaten verurteil-
ten dagegen ihren Amtsantritt. Der desi-
gnierte Präsident Argentiniens, Alberto
Fernández, sprach von einer Rückschritt
in die 70er-Jahre, als in vielen Ländern der
Region Militärdiktaturen herrschten. Áñez
zeigte sich nach ihrer Amtsübernahme de-
monstrativ mit hochrangigen Militärs. Es
ist unklar, wie stark ihr Rückhalt in der Be-
völkerung ist. Auch am Dienstag kam es
wieder zu großen Protesten. Das Militär
rief die Bevölkerung auf, ihre Wohnungen
nicht zu verlassen. Kampfjets überflogen
La Paz. Mindestens sieben Menschen ka-
men bei den Auseinandersetzungen schon
ums Leben. christoph gurk


Gemächlich durch


die Niederlande


Erst Ruhe, dann Raketen


Islamischer Dschihadfeuert auf Israel, Hamas hält sich zurück


Favorit Gotabaya Rajapaksa beim Wahlkampf, blutbefleckte Jesusstatue in der Kirche St. Sebastian in Negombo (rechts). FOTOS: PRADEEP DAMBARAGE/AFP, PERR

DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 (^) POLITIK HMG 7
Fernsehmoderatorin, Juristin – und nun
auch Präsidentin: Jeanine Áñez. FOTO: DPA
Mit der Bibel ins
Präsidentenamt
DerKonflikt in Bolivien bekommt
eine zunehmend religiöse Note
Zeiten der Verunsicherung
Sieben Monate nach den Anschlägen auf christliche Einrichtungen wählt Sri Lanka einen neuen Präsidenten. Das Misstrauen ist immer noch
groß zwischen den vielen Volks- und Religionsgruppen des Inselstaats – und ermöglicht Figuren aus der Vergangenheit womöglich ein Comeback
Bisher wurde an Wochenenden
demonstriert,nun soll die Stadt
an Arbeitstagen stillgelegt werden
Die Sehnsucht nach einem starken
Mann ist überall zu spüren –
nach einem, der als Wächter taugt

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