Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
EINE PUBLIKATION VON SMART MEDIA

04 BREXIT


D


as Gezerre um den Brexit schaukelt
sich täglich vom Nervenkrieg zur
Geduldsprobe und wieder zurück.
Während die Brexit-Gegner in London auf
die Straße gehen, wird im Parlament unter
dem berühmten britischen Gemurmel weiter
um Mehrheiten und Zusatzgesetze gefeilscht.

Außen vor und doch mittendrin: die Arbeit-
nehmer*innen und Unternehmen, die seit
Jahren darüber nachdenken, was nun kommen
wird. Wie wird sich der Austritt des dritt-
größten EU-Mitgliedlandes auf das Geschäft
und das eigene Leben auswirken? Und vor
allem: Was passiert ganz nüchtern, wenn die
Medien- und Verhandlungshysterie endlich
vorbei ist?

GB wird Drittstaat
Steuerrechtlich sind die Veränderungen be-
reits klar. Es wird nach dem Ausscheiden
Großbritanniens kein gemeinsames Mehr-
wertsteuersystem mit der EU mehr geben,
was bedeutet, dass sich sämtliche Umsatzsteu-
er-Erklärungen ändern. Aus den steuerfreien
innergemeinschaftlichen Lieferungen und
innergemeinschaftlichen Erwerben werden
Aus- und Einfuhren, die gesondert gemeldet
und abgerechnet werden müssen.

Nicht nur bei der Abrechnung wird sich auf
beiden Seiten einiges tun, sondern auch bei
der Lieferung und Preiskalkulation. Zölle
müssen in die Preise miteinberechnet werden,
Lieferungen könnten sich bei bestimmten
Produkten und Ausfuhren drastisch verzö-
gern, da sie jeweils beim Zoll angemeldet und
ausgelöst werden müssen. Bestimmte Auto-
matismen der Vergangenheit werden nicht
mehr greifen.

Arbeitsrecht
Nicht wenige Deutsche sitzen mit eigenen
Firmen in London und leben mit ihren An-
gestellten ein frohes multikulturelles Arbeits-
leben, das jahrelang nicht nach der Herkunft

einzelner Mitarbeiter*innen fragte oder ir-
gendwelche Unsicherheiten kannte. Zumin-
dest für UK-treue EU-Bürger*innen gibt es
hier eine gute Nachricht.

Wer als EU-Bürger*in bereits vor dem Brexit
in Großbritannien gearbeitet und gelebt hat,
kann bis 30. Juni 2021 ein dauerhaftes Bleibe-
recht beantragen. Trotzdem sind viele Firmen
auf der Insel alarmiert, denn viele nicht-bri-
tische Arbeitnehmer*innen benötigen nach
dem vollzogenen Brexit kurzfristig Visa, Auf-
enthaltsgenehmigungen oder eine Arbeits-
erlaubnis. Ein Beantragungs-Chaos droht,
das die zuständigen britischen Behörden ans
Limit bringen dürfte. Die Politik versprach
deshalb schon im Vorfeld eine »Automatisie-
rung der Anerkennung«.

Finanzkarawane zieht weiter
Die Scheidung praktisch schon vollzogen
haben seit den Tr ennungsabsichten viele
Finanz- und Beraterfirmen, die von Lon-
don aus die letzten Jahrzehnte ihre Ge-
schäfte gesteuert hatten. Der Umzug nach
Frankfurt oder Paris ist bei internationalen
Playern längst erfolgt, zusätzlich gilt Lon-
don nicht mehr als erste Adresse, wenn US-
Firmen mit einer eigenen Dependance in
Europa liebäugeln.

Das bekommen auch die Flughäfen zu spüren.
Verkehrsexperten rechnen bereits jetzt damit,
dass London-Heathrow signifikant an Flug-
gästen verlieren wird, während die deutschen
Flughäfen München und Frankfurt zu neuen
Drehkreuzen werden.

Wettbewerb im Kreuzfeuer
Besonders knifflig dürfte es laut einigen Ju-
rist*innen im Wettbewerbsrecht werden. So-
wohl die sich nun wieder frei fühlenden Briten
als auch die EU-Mitgliedsstaaten könnten ihre
eigene Rechtsprechung entwickeln und sie, je
nach Gusto und Wirtschaftslage, kurzfristig
anpassen. Absprachen von gestern? Passé.

Dr. Matthias Wendland, Privatdozent an der
Münchner Ludwig-Maximilians-Universität
und Vertreter des Lehrstuhls für Bürgerliches
Recht, notierte hierzu bereits 2017 in »Brexit
und die juristischen Folgen« des Nomos-Ver-
lags: »Während Großbritannien – nun ohne
die Beschränkungen notwendiger politischer
Rücksichtnahme und unionsrechtlicher Bin-
dungen – in Gesetzgebung und Rechtspraxis
einen deutlich liberaleren Kurs einschlagen
könnte, würden sich in der europäischen
Wettbewerbspolitik protektionistische Ten-
denzen dagegen eher verschärfen.«

Status: Es wird kompliziert, aber...
Auch bei Zusammenschlüssen, die ja durch
den im Grunde altmodischen und rückwärts-
gewandten Brexit nicht weniger werden, sind
laut Wendland dann Zusatzarbeitsstunden
der Experten gefragt. Die Tr ansaktions-
kosten für Fusionen mit britischen Firmen
werden allgemein steigen, weil sich Unter-
nehner*innen samt Rechtsabteilungen nun
auch noch mit nationalem GB-Recht aus-
einandersetzen müssen.

Und wo bleibt das Positive? Bei Ausschrei-
bungen sehen einige Firmen laut einer Befra-
gung keine Benachteiligungen, sondern sagen,
im Gegenteil, sogar eine neue Aufbruchsstim-
mung voraus. Weder Großbritannien noch
die EU werden den jeweils anderen Partner
bei der Vergabe von Aufträgen blockieren. Da
zählt dann ausnahmsweise etwas, was im Eifer
aller Scheidungsgefechte gerne auf der Stre-
cke bleibt: Das endlich mal wieder unvorein-
genommene Betrachten des jeweils anderen!

Der Abschied Großbritanniens aus der Europäischen Union wird vieles komplizierter und teurer machen.
Trotzdem dürfen Unternehmen in bestimmten Bereichen auf eine neue Aufbruchsstimmung hoffen.

TEXT RÜDIGER SCHMIDTSODINGEN

Scheidung auf Englisch

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