Handelsblatt - 14.11.2019

(Steven Felgate) #1

Frank Specht Berlin


E


s sind zwei Botschaften,
die Arbeitsminister Hu-
bertus Heil in kaum einer
Rede auslässt: Die gute
Nachricht sei, dass uns
die Arbeit auch morgen nicht ausge-
he. Die unbequeme, dass es in vieler-
lei Hinsicht andere Arbeit sein werde.
Der Strukturwandel hin zu einer
emissionsarmen und digitalen Wirt-
schaft wälzt auch den Arbeitsmarkt

um. In der Autoindustrie, bei Ban-
ken, Versicherern oder in der Logis-
tik stehen Jobs auf dem Spiel, wäh-
rend gleichzeitig an anderer Stelle
neue Arbeitsplätze entstehen.
Heil will verhindern, dass in die-
sem Umbruch die Arbeitslosigkeit
massiv steigt. Schon im Sommer hat-
te er deshalb ein „Arbeit von mor-
gen“-Gesetz mit zusätzlicher Weiter-
bildungsförderung und Maßnahmen

gegen den Konjunkturabschwung an-
gekündigt. Nachdem die Koalition
endlich ihren leidigen Grundrenten-
streit beigelegt hat, will der Minister
das Vorhaben jetzt anschieben.
„Trotz verschiedener Reformen
wie des Qualifizierungschancengeset-
zes besteht beim Förderinstrumenta-
rium der Arbeitsmarktpolitik weite-
rer Handlungsbedarf “, heißt es im
Referentenentwurf für das Gesetz,
der dem Handelsblatt vorliegt.
Nach dem zum Jahresbeginn in
Kraft getretenen Qualifizierungschan-
cengesetz können vom Strukturwan-
del betroffene Unternehmen, die Mit-
arbeiter qualifizieren, sich je nach
Betriebsgröße 15 bis 100 Prozent der
Weiterbildungskosten und 25 bis 75
Prozent des fortgezahlten Arbeitsent-
gelts erstatten lassen. Von Januar bis
Juli sind laut Bundesagentur für Ar-
beit (BA) knapp 14 500 Beschäftigte in
eine entsprechende Weiterbildung
eingetreten.
Diese Förderung will Heil nun aus-
weiten. Wenn in Unternehmen bei
mindestens einem Zehntel der Beleg-
schaft die beruflichen Kompetenzen
in drei Jahren voraussichtlich nicht
mehr den betrieblichen Anforderun-
gen entsprechen, steigen die Förder-
sätze – unabhängig von der Betriebs-

größe – um 20 Prozentpunkte. Vo-
raussetzung ist, dass Arbeitgeber mit
dem Betriebsrat oder den Beschäftig-
ten einen detaillierten Qualifizie-
rungsplan erstellen.
Bei Arbeitgebern wie Gewerkschaf-
ten umstritten ist die vom Arbeitsmi-
nister vorgesehene „Perspektivquali-
fizierung“. Unternehmen, die eigent-
lich keinen Bedarf mehr an
bestimmten Mitarbeitern haben, sol-
len sich bis zu 75 Prozent der Lehr-
gangs- und Lohnkosten erstatten las-
sen können, wenn sie das Arbeitsver-
hältnis für die Dauer einer
Weiterbildung aufrechterhalten. Heil
will so verhindern, dass Arbeitslosig-
keit überhaupt erst entsteht.
Kommt es doch zu Entlassungen,
sollen bessere Weiterbildungsmög-
lichkeiten in Transfergesellschaften
greifen. Bisher ist die Förderung auf
ältere Beschäftigte und Geringqualifi-
zierte sowie im zeitlichen Umfang be-
schränkt. Wie in der Nationalen Wei-
terbildungsstrategie vorgesehen, sol-
len Geringqualifizierte zudem einen
Rechtsanspruch erhalten, mit Förde-
rung einen Berufsabschluss nachzu-
holen.

Verringerter Spielraum
Als Reaktion auf den Konjunkturab-
schwung greift Heil auch eine Forde-
rung der Arbeitgeber auf. Das Parla-
ment soll der Bundesregierung eine
Verordnungsermächtigung erteilen,
damit diese bei Bedarf rasch erwei-
terte Regelungen zum Kurzarbeiter-
geld in Kraft setzen kann, die sich in
den Krisenjahren nach 2008 bewährt
hatten. Arbeitgeber könnten sich
dann in stärkerem Maße als bisher
gezahlte Sozialversicherungsbeiträge
erstatten lassen.
Schließlich plant Heil noch, Kurz-
arbeit stärker mit Qualifizierungen zu
verknüpfen und das Instrument der
assistierten Ausbildung zu verstetigen
und auszubauen. Arbeitslose, die sich
erfolgreich beruflich weiterbilden,
sollen drei Monate länger Anspruch
auf Arbeitslosengeld haben, bevor sie
in Hartz IV rutschen.
Die Kosten für die Qualifizierungs-
offensive trägt nach dem Entwurf vor
allem die Bundesagentur für Arbeit.
Deren finanzielle Zusatzbelastung
steigt von 121 Millionen Euro im kom-
menden Jahr auf 672 Millionen Euro
ab 2023. Die Weiterbildungsmöglich-
keiten für Arbeitslose führen zu
Mehrausgaben im Bundeshaushalt,
die von zwei Millionen Euro im
nächsten Jahr auf 125 Millionen im
Jahr 2023 anwachsen. Auf die Kom-
munen kommen zusätzliche Kosten
im niedrigen zweistelligen Millionen-
bereich zu.
Über die Finanzierung dürfte es
noch Streit geben. Im laufenden Jahr
gibt die BA voraussichtlich knapp 1,
Milliarden Euro für Weiterbildung
aus. Im Haushalt für das kommende
Jahr hat die Behörde das Budget auf
gut 1,9 Milliarden Euro angehoben.
Für die Beschäftigtenförderung nach
dem schon geltenden Qualifizie -
rungs chancengesetz sind 650 Millio-
nen Euro eingeplant. Keine sinnvolle
Qualifizierung werde am Geld schei-
tern, hatte der BA-Vorstand bei der
Präsentation des Haushalts am ver-
gangenen Freitag betont.
Allerdings hatte der Koalitionsaus-
schuss von Union und SPD dann am
Sonntag eine zusätzliche Absenkung
des Arbeitslosenbeitrags von 2,5 auf
2,4 Prozent beschlossen, die befristet
bis Ende 2022 gelten soll. Arbeitneh-
mer und Arbeitgeber werden so zwar
um 1,2 Milliarden Euro entlastet.
Gleichzeitig wird aber auch der finan-
zielle Spielraum für Heils Qualifizie-
rungsoffensive kleiner.

Weiterbildung


Heil stemmt sich


gegen Jobverluste


Der Arbeitsminister bringt das schon im Sommer angekündigte


„Arbeit von morgen“-Gesetz auf den Weg. Der Arbeitsagentur


drohen mittelfristig Mehrausgaben von 672 Millionen Euro.


VW-Mitarbeiterin
in Zwickau:
Das Werk wird auf
E-Mobilität getrimmt.

Volkswagen AG

Wachsender Förderbedarf
Junge Erwachsene1 ohne Berufs-
ausbildung in Millionen und
in Prozent der Altersgruppe

Weiterbildung nach dem Qualifi-
zierungschancengesetz, Zahl der
Eintritte in Fördermaßnahmen

darunter:


1,
Mio.

1,
Mio.

2,
Mio.

2, 08
Mio.

13,0 % 13,2 %


14,0 % 14,2 %


HANDELSBLATT

2014 2015 2016 2017


1) 20 bis 34 Jahre; 2) Januar bis Juli 2019 • Quellen: BIBB, BA

14 475


9 538


4 937


3


5 


Gesamt


Männer


Frauen


45 Jahre und älter


Ohne Berufsausbildung


Die Arbeit


wird uns


auch morgen


nicht


ausgehen.


Hubertus Heil
Bundesarbeitsminister

Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 14. NOVEMBER 2019, NR. 220

8

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